April 1905

Akazie-Klein.epsCharlotte trug die Lampe leise hinüber in ihr Zimmer und stellte sie auf dem Schreibtisch ab. Eine kleine Weile verharrte sie lauschend – aber außer dem Geräusch des Regens war nichts zu hören. Elisabeth war endlich eingeschlafen.

Heute war Lohntag auf der Plantage gewesen, den sie wegen des Regens unter dem Vordach abgehalten hatte. Es hatte unzufriedene Gesichter unter ihren Angestellten gegeben, und viele hatten sie um einen Vorschuss gebeten, um die neue Steuer zahlen zu können. Seit Anfang des Jahres waren die Abgaben von vier Rupien an die Kolonialregierung nicht mehr pro Hütte, sondern pro arbeitsfähigem Mann zu entrichten, und für manche Familien fielen die Steuern nun doppelt oder gar dreimal so hoch aus. Besonders schlimm war es für die Dschagga, denen inzwischen auch die Elefantenjagd verboten worden war.

Sie begann, die ausgezahlten Gelder zu addieren und ins Rechnungsbuch einzutragen, notierte dann einige Ausgaben für Reis, Kleiderstoffe und Konserven, die sie in Moshi gekauft hatte, dazu zwei Bücher für Elisabeth, Buntstifte und Papier. Kritisch sah sie noch einmal über die Zahlen, dann schloss sie das Buch und legte es zurück in die Schublade.

Wie jeden Abend fühlte sie sich erschöpft, zugleich aber viel zu unruhig, um schon zu Bett zu gehen. Eine kleine Weile starrte sie in den Lichtkreis der Lampe, sah den Insekten zu, die darin herumwirbelten, dann glitt ihr Blick an den gerahmten Fotografien vorüber. Max als Zwanzigjähriger in Brandenburg neben seinen Eltern, Max in einer Gruppe Großwildjäger, die sich mit einem erlegten Nashornbullen hatten ablichten lassen. Das letzte Bild von ihrem Mann war am Tag seines Todes aufgenommen worden. Im Vordergrund sah man Elisabeth, die auf Hamunas Schoß heftig gezappelt hatte und daher nur unscharf getroffen war. Max stand im Hintergrund, breitbeinig, die Arme in die Hüften gestemmt, hinter seiner rechten Schulter ragte der Gewehrlauf in die Luft, ein dünner, schwarzer Strich. Sein Gesicht war nicht zu erkennen, aber ganz sicher hatte er gegrinst.

Sie griff zu einem Schreiben, das vor zwei Wochen angekommen war, überflog es noch einmal und zog dann das Briefpapier aus der Schublade, um die Antwort zu verfassen.

Meine liebe Klara,

was für eine Nachricht! Und du hast so lange gezögert, mir dieses künftige, frohe Ereignis anzukündigen. Wie musst du gebangt haben, als sich Schwierigkeiten einstellten und du fürchten musstest, das Kind zu verlieren. Aber nun wird gewiss alles gut, ich bin sicher, dass sich euer sehnlichster Wunsch erfüllen wird.

Hier auf der Plantage nehmen die Dinge ihren gewohnten Lauf. Ich führe weiter, was Max aufgebaut hat, und habe darin meinen Frieden gefunden. Sein Herz hing so sehr an diesem Land, dass ich es niemals verlassen könnte, und oft, wenn ich vor schweren Entscheidungen stehe, spüre ich, dass Max mir nahe ist und mir den Weg zeigt. Wie unberechtigt meine Zweifel damals waren – es war der Sisal, der die Plantage gerettet hat. Max hat immer fest daran geglaubt, doch das Schicksal wollte nicht, dass er diese Freude noch erleben durfte.

Am späten Nachmittag sahen wir die Berggipfel in großer Klarheit und freuten uns über den majestätischen Anblick. Nun, da ich diese Zeilen schreibe, geht ein heftiger Regenguss nieder, ich höre, wie die Tropfen aufs Dach trommeln. Morgen werde ich mit Elisabeth über die Wiese gehen, um die ersten Blumen zu pflücken. Sie hat sehr viel Freude daran, Sträuße und Kränze zu binden, die wir unter die Eukalyptusbäume auf Max’ Grab legen. Wie bekümmert war ich oft als Kind, die Eltern und Jonny verloren zu haben, doch jetzt weiß ich, dass ich unendlich reich war, denn ich hatte noch meine Erinnerungen. Meine Tochter weiß nicht einmal mehr, wie ihr Vater aussah. Sie hat nichts als unsere Erzählungen, aber davon hat sie reichlich, denn sie ist nun schon sehr verständig und hört aufmerksam zu, wenn ich ihr von Max berichte.

Sag Peter, dass er sich über die seltsamen »Pilgerschaften« der Eingeborenen zum Rufiji-Fluss nicht aufregen muss. Es gibt viele »Zauberer« unter den Eingeborenen, ich selbst wurde einmal von einem Dschagga-Magier behandelt, und vielleicht verdanke ich seiner dawa sogar mein Leben. Die Gerüchte um das Wunderwasser, das maji-maji, sind gewiss übertrieben; ich mag auch nicht glauben, dass es Gesundheit, Wohlstand und Regen bringt, wie hier behauptet wird, und schon gar nicht daran, dass es einen unverwundbar macht. Dennoch denke ich, dass dieses Festhalten am alten, afrikanischen Glauben für die Schwarzen immer noch besser ist als jener Zustand, in den schon viele von ihnen geraten sind: dass sie nämlich an gar nichts mehr glauben und weder Gesetz noch Regel kennen. Ich mache mir oft Gedanken um meinen armen Schammi, der nach Max’ Tod vollkommen durcheinander war und davonlief. Ich habe bis heute nichts von ihm gehört und kann nur hoffen, dass es ihm gut geht. Er ist ja ein kluger Bursche und wird sich schon durchwinden.

Der Brief ist lang geworden, liebe Klara. Elisabeth schläft schon eine ganze Weile, ich soll dir aber ausrichten, dass sie sich über deine Bilder sehr gefreut hat. Sie hat so lange gequengelt, bis ich sie alle an der Wand des Schlafzimmers aufgehängt habe, damit sie sie beim Einschlafen betrachten kann. Ich lege zwei kleine Zeichnungen bei, die sie für »Tante Klara« angefertigt hat. Ich habe den Eindruck, sie schlägt in deine Richtung: Sie malt mit Begeisterung, so dass ich gar nicht genug Papier auftreiben kann. Vom Klavierspiel will sie jedoch nichts wissen.

Seid herzlich von mir umarmt, du und das Ungeborene und auch Peter, der nun bald ein glücklicher Vater sein wird.

Bis wir uns wiedersehen

deine Cousine Charlotte

Himmel über dem Kilimandscharo
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