Der Whisky hatte Christians Begeisterung zwar beflügelt, im Postamt angekommen, erklärte er jedoch, sich ein wenig ausruhen zu wollen. Sie seien schließlich seit dem frühen Morgen auf den Beinen, und jetzt, zur Mittagszeit, habe es wenig Sinn, bei der Ostafrikanischen Gesellschaft vorzusprechen.

Charlotte verspürte keine Müdigkeit, im Gegenteil, sie fieberte vor Neugier auf das Leben in dieser Stadt, das sich jenseits deutscher Verwaltungsbauten und heckenumzäunter Grünanlagen abspielte. Aber wo? Bei der Einfahrt in den Hafen hatte sie den Eindruck gehabt, dass die neuen, hellen Bauten vor allem in der Mitte und im Osten der Stadt lagen. Im Westen, zum Landesinneren hin, schienen andere Farbtöne vorzuherrschen, helles Grau, Braun, Sand und Ocker, auch waren viele Häuser zwischen der üppigen Vegetation nur zu erahnen, aber nicht deutlich zu erkennen gewesen. Dort lagen vermutlich die Viertel der Schwarzen, die Läden der Inder und Araber.

Sie sagte Christian nichts von diesen Gedanken und zog sich mit Klara in ihre provisorische Unterkunft zurück. Klara war sehr erschöpft; auf dem Schiff hatte sie meist in der Kabine gesessen, nun fiel ihr das Gehen noch schwerer als zuvor. Dennoch war sie – genau wie Charlotte – innerlich von all dem Neuen aufgewühlt, und als sie nebeneinander auf dem schmalen Bett lagen, redete Klara ohne Punkt und Komma.

»Eine Pflanzung, das wäre doch schön, Charlotte. Weit draußen in den Bergen, wo die Luft kühl und frisch ist. Ein Haus, ganz für uns allein, ein kleiner Garten, wo man Kartoffeln und Gemüse anbauen könnte …«

Charlotte seufzte tief. Ein schöner Traum.

»Du würdest wohl lieber draußen in der Einsamkeit leben als in der Stadt, nicht wahr?«

Klara gab es zu. Die Luft war hier so drückend, diese klobigen, weißen Bauten, die breiten Straßen und dann natürlich das Fieber.

»Wie einfach hat es doch die Verlobte unseres freundlichen Helfers«, stellte Charlotte voller Neid fest. »Sie wartet in aller Ruhe ab, bis die Plantage komfortabel genug eingerichtet ist, und setzt sich dann ins gemachte Nest.«

Klara wandte ihr das Gesicht zu und lächelte sie an. Charlotte fühlte sich ertappt und errötete.

»Ein Baron ist er«, flüsterte Klara nachdenklich. »Aber gar nicht stolz und hochnäsig. Seine Verlobte muss ihn sehr lieben, dass sie um seinetwillen ihr angenehmes Leben in Deutschland aufgeben will. Gewiss ist auch sie von Adel und sehr wohlhabend.«

Charlotte schwieg. Das Leben war viel einfacher, wenn man über Geld und Einfluss verfügte, sogar hier in der Kolonie galt dieses Gesetz. Max von Roden war mit Ebert befreundet, vielleicht sogar mit dem Gouverneur bekannt, er hatte sich eine Plantage gekauft, konnte seine Arbeiter bezahlen, und ganz sicher genoss er die volle Unterstützung der deutschen Kolonialregierung.

»Ich will mich umsehen, Klara. Bleib ruhig liegen, und schlaf ein wenig, ich bin bald wieder da.«

Mit entsetzten Augen verfolgte Klara, wie Charlotte sich zum Ausgehen fertig machte.

»Aber du kannst doch nicht ganz allein …«

»Du hast doch gehört, dass sie uns auf Schritt und Tritt behüten!«

»Aber was soll ich Christian sagen?«

»Dass ich mir die Stadt ansehe.«

Sie fühlte sich frei wie ein Vogel, ein Zustand, an dem sie sich berauschte. Wann war sie jemals ganz allein unterwegs gewesen? In Deutschland war es nicht üblich, dass eine junge Frau ohne Begleitung durch fremde Straßen lief; nur in Hamburg, als sie den Schmuck verkaufte, hatte sie Christians Begleitung energisch von sich gewiesen. Damals war sie in gedrückter Stimmung und mit schlechtem Gewissen von Laden zu Laden gegangen; bei ihrer Rückkehr hatte sie sich einen Sack voller Vorwürfe anhören müssen. Jetzt verspürte sie keine Gewissensbisse mehr. Was sie tat, war vielleicht unvernünftig, doch es war ihre eigene Entscheidung, niemand war für sie verantwortlich. Schon gar nicht Christian, der vorhin in der Amtsstube noch allerlei dummes Zeug geschwafelt hatte.

Es war still im Postamt, nur in einem Raum hörte man das leise Summen und Klicken des Telegraphen. Draußen empfing sie die gleißende, afrikanische Sonne, die inzwischen fast alle Pfützen im rötlich gelben Boden aufgeleckt hatte. Bauschige weiße Wolken zogen über den Himmel – nach Regen sahen sie nicht aus, vielleicht waren die Güsse für heute ja vorüber.

Sie ging die schnurgerade Straße hinunter in Richtung Hafen, um von dort aus weiter nach Westen zu gelangen. Eine Gruppe schwarzer Frauen begegnete ihr, die Körbe mit Wäsche auf den Köpfen transportierten, und sie bewunderte ihren sicheren, geschmeidigen Gang, bei dem sie nur die Hüften sanft bewegten. Einige stützten die Last mit einem Arm, andere balancierten sie frei auf dem Kopf, schwatzten und kicherten dabei und schienen sich keine Sorgen darüber zu machen, dass die Wäsche aus dem Korb fallen könnte. Charlotte spürte ihre verwunderten Blicke, und eine kleine Unsicherheit stieg in ihr auf. Offensichtlich war es auch hierzulande nicht üblich, dass eine weiße Frau ganz ohne Begleitung herumlief.

Kurz vor dem Hafengebäude entdeckte sie ein Straßenschild, das von einer großen Schirmakazie beschattet wurde. »Kaiserstraße«, war darauf zu lesen. Sie musste lachen. Im Gezweig der Akazie spielten graue Äffchen, sie hatten runzlige, dunkle Gesichter und sahen mit klugen Augen zu ihr herab. Bald entdeckte sie auch das Afrika-Hotel, einen leicht verblassten, altmodischen Bau mit schmalen Säulchen und bunten Fenstervorhängen. Eine Menge dunkelhäutiger Männer hatte sich vor dem Gebäude versammelt, einige standen beim Eingang und gestikulierten, andere hockten gleichmütig am Boden, als wären sie nur zufällig hier, um eine gemütliche Mittagsrast zu halten. Charlotte vermutete, dass die Jagdgesellschaft, die mit dem Dampfer gekommen war, einheimische Träger anmietete, um Lebensmittel, Zelte, Kochgeschirr und sonstiges Gepäck ins Landesinnere zu befördern. Sie hatte einmal gelesen, dass kaum ein Lasttier eine Reise durch Urwald und Steppe überlebte, Pferde schon gar nicht, höchstens Ochsen oder Maultiere, aber auch die wurden oft vom Fieber dahingerafft oder von wilden Tieren gerissen.

Die weißen Jagdgenossen schienen sich um die Anmietung der Träger nicht weiter zu kümmern, diese Aufgabe hatte ein braunhäutiger Mann übernommen, der einen Turban und eine halblange, weite Hose trug.

Niemand kümmerte sich um sie, als sie vorüberging, und sie war froh darüber. Nun verengten sich die Straßen, bildeten Winkel und scharfe Ecken; halb verfallene Häuser waren zu sehen, aus einigen hatte man Steine herausgeschlagen und auf Karren geladen, sie schienen als Baumaterial zu dienen. Eine Rikscha rollte an ihr vorbei; ein hölzerner Kasten auf zwei Rädern, ähnlich einer kleinen Kutsche, die aber nicht von einem Zugtier, sondern von einem Eingeborenen bewegt wurde. Unter dem Baldachin aus Stroh saß ein bärtiger Europäer der – o Wunder – eine schwarze Anzugjacke und sogar einen dunklen Hut trug. Ein Missionar? Sie hatte gehört, dass es hier eine evangelische und auch eine katholische Missionsniederlassung gab.

Es war der einzige Weiße, dem sie bislang auf ihrem Weg begegnet war. Wie merkwürdig. Wo waren sie alle? Saßen sie in ihren Büros, in den Wohnungen oder im Afrika-Hotel bei einem ausgiebigen Mittagessen? Und wo waren ihre Frauen? Einige wenige sollte es ja geben, aber die schienen sich nicht aus ihren Wohnungen herauszubewegen – vielleicht ließen sie alle Besorgungen durch schwarze Angestellte erledigen.

Ein gelber Hund kläffte sie an, gleich darauf kam ihr eine Rotte lachender, kreischender schwarzer Kinder entgegengerannt, die jedoch erstaunlich geschickt zur Seite wichen, um nicht mit ihr zusammenzustoßen. Der warme Küstenwind wehte ihr einen Duft entgegen, der ihr bekannt und zugleich doch fremd vorkam: eine Mischung aus erregend würzigen Aromen und fauligem Gemüse, aus süßen Orangen und nicht mehr ganz frischem Hühnerfleisch; auch Petroleum war darin und der Geruch nach bitteren Kräutern, deren Namen sie nicht hätte nennen können. Hier musste irgendwo ein Markt sein. Bald vernahm sie auch die typischen Geräusche, die nicht sehr viel anders waren als die, die sie von daheim kannte. Das Stimmengewirr war rascher und schien ihr fröhlicher, es war nicht die betulich breite Sprechweise der Ostfriesen, doch auch hier wurde ganz offensichtlich die Ware angepriesen, gelacht, gefeilscht, mit Herzblut und Eifer gehandelt.

Der Markt fand sich unter einem breiten Strohdach, umgeben von Palmen, Buschwerk und einigen kleinen Steinhäusern, die ganz sicher nicht von den deutschen Kolonialherren erbaut worden waren. Entzückt blieb sie stehen, um das bunte, bewegte Bild in sich aufzunehmen. Hier war das Leben, hier war Afrika, und es war wundervoll in seiner Farbenpracht. Was für Früchte mochten das sein, die dort auf Tüchern am Boden ausgebreitet lagen? Sie leuchteten flammend rot und orange, andere waren von matten Blautönen, grasgrün, nussbraun. Sie konnte Kokosnüsse und ockergelbe, sehr kleine Bananen erkennen, seltsam geformte weiße und bräunliche Wurzeln, ovale hellgrüne Früchte von erstaunlicher Größe. Melonen? Kürbisse?

Sie musste vorwärtsgehen, um kein Hindernis für die Marktbesucher zu bilden, schritt langsam und noch ein wenig unsicher an den Verkäufern vorüber. Es waren fast nur Frauen, viele hatten kleine Kinder dabei, bezaubernde, schokoladenbraune Putten, die sich an die Mutter schmiegten oder einfach schlafend am Boden lagen. Charlotte fasste Mut und fragte hier und da nach dem Namen der Ware, erkundigte sich nach dem Preis, befühlte und beroch diese oder jene Frucht, wie es auch die anderen Käufer taten, spürte die pralle, glatte Oberfläche einer Mango, die stacheligen Blätter der Ananas, berauschte sich an den Aromen, die bald süß, bald fahl, dann wieder säuerlich und frisch waren.

Wie gern hätte sie einige der leckeren Früchte gekauft. Sie trug ihr Geld in einem Lederbeutel um den Hals, doch sie besaß deutsches Geld, noch dazu viele Scheine, und sie vermutete, dass die Marktfrauen Pesa oder Rupien haben wollten. Außerdem schien es ihr nicht sehr klug, ihren Schatz so in aller Öffentlichkeit hervorzuholen, denn auf Märkten trieb sich stets allerlei Diebesgesindel herum, das würde in Afrika nicht viel anders als daheim in Ostfriesland sein.

»Not this one«, sagte plötzlich eine hohe Stimme. »It’s not ripe. Let’s buy some coconuts and bananas instead …«

Sie wandte sich zur Seite und erblickte einen Europäer im hellen Anzug, den Kopf mit einem Tropenhut vor der Sonne geschützt, an den Füßen weiche, flache Schnürschuhe. Sein Gesicht war bartlos, er musste noch sehr jung sein, das erklärte wohl auch seine helle Stimme. Jetzt beugte er sich über einen Haufen kleiner, brauner Früchte, nahm eine davon in die Hand und prüfte die Qualität. Hinter ihm warteten zwei schwarze Diener mit geflochtenen Körben, in denen schon verschiedene Tüten und Früchte lagen.

Ein Weißer. Immerhin. Ob er zu der Jagdgesellschaft gehörte? Charlotte konnte den Blick nicht von ihm wenden, sah zu, wie er um die Früchte handelte, dann eine Börse aus der Tasche zog und der Händlerin einige Münzen in die ausgestreckte Hand zählte. Irgendetwas war sonderbar an diesem jungen Mann, doch sie hätte nicht sagen können, was. Jetzt sah er sich um, anscheinend wollte er das Warenangebot noch einmal prüfen, und Charlotte blickte ihm für einen kleinen Moment direkt ins Gesicht.

Es war eine Frau! Das konnte keine Täuschung sein, denn jetzt entdeckte sie auch eine lockige, blonde Haarsträhne, die sich seitlich unter dem Tropenhelm hervorringelte und ihr bis auf die Schulter fiel. Charlotte konnte es nicht fassen: Diese Frau trug Männerhosen und darüber eine lockere Jacke, die in der Taille von einem Gürtel zusammengehalten wurde. Es kam ihr ungemein schamlos vor, und sie ertappte sich bei der Überlegung, ob diese seltsame Frau möglicherweise auch auf das Korsett verzichtet hatte. Dann aber dachte sie an die Frauen, die in Männerkleidung die Sahara und den Nil bereist hatten, und plötzlich empfand sie Hochachtung vor dieser Fremden. Es war mutig und zugleich sehr sinnvoll, diese Kleidung anzulegen, denn so war man für die Strapazen einer solchen Reise viel besser gerüstet.

Die Fremde beachtete Charlotte so wenig wie sonst wen auf dem Markt, ihr Interesse galt offensichtlich nur ihren Einkäufen. Nach wenigen Minuten verschwand sie mit ihren beiden Begleitern im Gewimmel der Käufer, und Charlotte stand immer noch an derselben Stelle, bezaubert, erschüttert, auf jeden Fall aber um eine Erkenntnis reicher.

Endlich riss sie sich los und setzte ihren Gang über den Markt fort, besah schaudernd das auf Brettern ausgelegte Fleisch, auf dem die Fliegen herumkrochen, ging an Körben voll schnatternder Enten und Hühner vorüber und spürte dann, wie ihr ein wenig schwindelig wurde.

Kein Wunder, dachte sie. Die Afrikanerinnen wickeln sich Tücher ums Haar, auch die weiße Engländerin trug einen Tropenhelm, und ich laufe ohne Kopfbedeckung herum.

Sie folgte einem Pfad, der zwischen den Häusern hindurch auf eine breitere Straße führte. Hier gab es Läden, einen neben dem anderen. Dunkle, enge Löcher, aber auch größere Geschäfte, in einigen waren Handwerker bei der Arbeit, andere waren reine Verkaufsläden. Im Gegensatz zu dem lebhaften Markttreiben ging es hier ruhiger zu, nur wenige, ausschließlich schwarze Kunden zeigten an den Waren Interesse, die Händler und Handwerker hockten am Boden auf Teppichen, dösten in der Mittagssonne und harrten der kommenden Geschäfte. Neugierig trat Charlotte näher, um sich die angebotenen Gegenstände zu besehen. Es gab Teekessel und Töpfe, Öllampen, Körbe, buntes Geschirr und allerlei Schmuck oder Amulette, die von Stangen oder von der Decke herabhingen. Kaum ein Laden hatte sich auf bestimmte Waren spezialisiert, jeder schien anzubieten, was er gerade günstig hatte einkaufen können. Säcke mit Reis oder Mais standen neben Lampenöl und Seife, Tücher wehten im Wind, Hüte und Regenschirme lagen auf Teppichstapeln. Vor allem aber befanden sich vor vielen Läden niedrige Bänke, auf denen eine verwirrende Vielfalt der verschiedensten Gewürze ausgestellt war.

Wie magisch angezogen beugte sie sich über die kleinen Körbe, in denen sich die duftenden Körner und Samen, die Beeren, Wurzeln oder Knollen befanden. Nur die rotbraunen, harzig riechenden Muskatnüsse, die auf der Oberfläche merkwürdig gewundene Muster aufwiesen, und die schwarzen, schrumpligen Pfefferkörner waren ihr bekannt. Der Inhalt der meisten Körbchen war ihr jedoch vollkommen fremd und voller Geheimnisse. Da gab es kleine, braune Sterne, die wie Anis dufteten, schwarze Krümel von schwerem, erdigem Aroma, gelbe, herb duftende Wurzeln, getrocknete Blätter, die nach Zitrone rochen, braune, längliche Hülsen, die wie vertrocknete Stangenbohnen aussahen, aber einen seltsam frischen, säuerlichen Geruch verströmten …

»Tamarinde. Man legt sie in Wasser, damit sich die säuerliche Schärfe entfaltet, und macht dunklen Tamarindensaft daraus.«

Der Händler, der an seiner Türöffnung lehnte, die Hände auf dem Rücken verschränkt, musste ihr schon eine Weile zugeschaut haben, während sie sich am Duft der Gewürze berauschte. Charlotte sah ihn voller Verblüffung an, nicht nur deshalb, weil er ein fehlerloses Deutsch sprach, sondern auch, weil sie ihn kannte.

»Sie waren vorhin im Stadthaus, nicht wahr?«

»So ist es. Wir haben uns dort gesehen.«

Es war der Mann mit dem Gold in den Augen. Scheu musterte sie ihn, doch sie wagte kaum, sein Gesicht zu betrachten. Er war ein Inder, kein Araber. Oder täuschte sie sich?

Er schien ihre Befangenheit zu spüren und begann, ihr einiges über die Gewürze zu erzählen, erklärte, woher sie kamen und wofür man sie verwendete, zeigte ihr, dass es vier Sorten Pfeffer gab, den weißen, schwarzen, roten und grünen, und ließ sie ein kleines Stückchen vom indischen Lorbeer kauen, der wie Zimt oder Gewürznelke schmeckte.

Das Aroma war so scharf, dass ihr wieder ein wenig schwindelig wurde.

»Ich brauche ein Kopftuch.«

»Ich habe schöne Tücher. Kommen Sie.«

Eigentlich hatte sie nichts einkaufen wollen, dennoch folgte sie ihm in seinen Laden, wo es angenehm kühl war. Stoffballen lagerten in wackligen Regalen, bunte, weiße, grüne, dazwischen standen Kisten mit allerlei glitzerndem Tand, Vasen und Kannen, an der Wand hingen lederne Gürtel mit silbernen Schnallen.

Er hatte eine geschickte Art, die zusammengefalteten Tücher mit einer einzigen Bewegung über einem kleinen Tischlein auszubreiten. Warmes Gelb, mattes Rosé, Türkis, das wie das sonnenbeschienene Meer leuchtete. Es gab auch welche mit Mustern, die an gewundene Schneckenhäuser oder filigranes Blattwerk erinnerten.

»Wie viel kostet das?«, fragte sie und zeigte auf ein Tuch in einem warmen Goldton.

»Fünf Rupien für Sie. Es ist aus indischer Seide. Ein schönes Tuch für eine schöne Frau …«

»Ich habe nur deutsches Geld bei mir …«

»Dann nehme ich sechs Deutsche Mark von Ihnen.«

Charlotte erschrak. Sechs Mark? So viel konnte sie nie und nimmer für ein Tuch ausgeben. Auch nicht, wenn es aus indischer Seide war … Sie nahm den Stoff in die Hand und spürte, wie leicht er war. Zart und kühl glitt er durch ihre Finger und blieb an jeder rauen Hautstelle hängen. Solche Stoffe hatte sie vor langer Zeit gekannt, ihre Mutter hatte Kleider daraus getragen, die später zu Röcken für Ettje und Tante Fanny umgearbeitet wurden …

»Das ist zu teuer …«

»Sie werden diese Qualität nirgendwo billiger bekommen.«

Sie versuchte gar nicht erst zu feilschen. Selbst wenn sie das Tuch um ein, zwei Mark herunterhandelte, war es völliger Unsinn, sich ein so teures Kleidungsstück zu leisten.

»Ich muss darüber nachdenken.«

Sie lächelte entschuldigend und entnahm seinem ernsten Gesichtsausdruck, dass er den Grund ihrer Zurückhaltung erkannt hatte. Er verneigte sich vor ihr, als sie hinausging, was ihr sehr merkwürdig erschien.

Eilig lief sie die Straße entlang, und erst als sie sich ein wenig entfernt hatte, begann sie wieder zu schlendern, um sich die Geschäfte anzuschauen. Es gab eine Menge Handwerker, die hier halb im Freien hockten und auf Metall herumhämmerten, Schmuck auffädelten oder an Nähmaschinen saßen und weiße, lange Gewänder herstellten.

Nähen kann Klara auch, dachte sie. Man müsste sich in einem dieser Häuser einmieten, Waren kaufen und sie anbieten. Gewänder schneidern. Hübschen Schmuck herstellen. Weshalb sollte das nicht möglich sein?

Aber sie konnte nirgendwo einen leeren Laden entdecken. Sogar die winzigsten Löcher waren voller Körbe und Warenballen, ein Handwerker klopfte herum, Araber tranken Kaffee und inhalierten Rauch aus langen Schläuchen, die an einem schlanken Glasbehälter befestigt waren. Es roch süßlich, und sie spürte wieder, wie der Boden unter ihr leicht zu schwanken begann. Tücher flatterten an einem Ständer, purpurne, blutrote, safranfarbige, dazwischen eines, das wie dunkles Gold leuchtete. Indien, das Land ihrer Mutter …

Sie drehte sich um und ging entschlossen zurück.

Der indische Händler hatte Kundschaft im Laden, zwei farbige Frauen erwarben Gewürze und Reis, den er abwog und in die mitgebrachte Korbtasche füllte. Dann untersuchten sie sämtliche Teekessel, wogen sie in der Hand, inspizierten Tülle, Henkel und Boden, bis sie sich endlich für ein Exemplar entschieden. Sie feilschten eine Weile mit viel Gelächter und lebhaften Gesten, und der indische Händler ging mit freundlicher Ruhe darauf ein, verlor niemals sein Lächeln, und am Ende schienen beide Parteien mit dem Handel zufrieden zu sein.

Als sie den Laden verlassen hatten, wandte er sich Charlotte zu.

»Sie haben es sich überlegt?«

»Ich würde das Tuch gern noch einmal sehen.«

»Legen Sie es sich um – hier ist ein Spiegel.«

Er hatte die Tücher schon wieder ins Regal geschichtet, das Seidentuch lag obenauf, und als er es entfaltete, breitete es sich vor Charlotte aus wie eine wehende, goldene Fahne. Es fühlte sich an wie ein luftiger Hauch, eine ferne, zärtliche Erinnerung, fein wie ein Spinnweb und doch ein sicherer Schutz, kühl und wärmend zugleich. Er hielt ihr einen runden, in Silber gefassten Handspiegel vor.

»Es ist Ihre Farbe. Die Farbe Ihrer Augen.«

Also hatte auch er es bemerkt. Sie drapierte das Tuch auf andere Weise, kreuzte die Enden unter ihrem Kinn und schlang sie im Genick zusammen.

»Ich habe eine Frage.«

Er schien etwas geahnt zu haben, denn seine Augen zogen sich ein wenig zusammen, und um seinen Mund legte sich ein ironischer Zug.

»Fragen Sie …«

»Ich möchte einen Laden mieten, um ein Geschäft zu eröffnen.«

Was immer er erwartet hatte, dies war es wohl nicht gewesen.

»Hier? Was wollen Sie verkaufen?«

»Alle möglichen Waren. Töpfe, Teppiche, Stoffe, Gewürze. Meine Cousine kann gut nähen, wir können Gewänder herstellen …«

Sie erzählte, dass sie schon als Kind auf dem Markt gehandelt habe, dass sie einen Laden für Kolonialwaren besessen hätten, dass das Handeln ihr im Blut läge und sie die feste Absicht habe, hier neu anzufangen.

Er hörte ihr geduldig zu, dann erklärte er bedauernd, dass alle Läden besetzt seien. Es sei nicht einfach, hier in der Gegend ein Haus zu mieten.

»Es braucht nur ein ganz kleiner Laden zu sein. Für den Anfang. Kennen Sie niemanden, der von hier fortgehen will? Oder jemanden, der sein Geschäft aufgibt?«

Er betrachtete sie immer noch mit schmalen Augen, jetzt schien sogar Misstrauen darin zu liegen, und ihre Hoffnungen sanken.

»Sie sind eine Deutsche?«, wollte er wissen.

»Ja.«

Er schwieg, sah zu, wie sie das Tuch wieder löste, eine andere Variante versuchte. Trat hinter sie und sah über ihre Schulter hinweg in den Handspiegel, der ihr Gesicht zeigte, von goldener Seide umflossen. Die Frage, die man ihr so oft gestellt hatte, schwebte unausgesprochen im Raum, doch dieses Mal standen die Zeichen andersherum. Was in der kleinen Stadt Leer ein Makel gewesen war, konnte hier vielleicht eine Tür aufstoßen.

»Meine Großmutter war Inderin. Leider weiß ich nicht einmal ihren Namen. Ich war noch klein, als meine Eltern und mein Bruder starben …«

»Ihre Großmutter kam in Ihnen zurück.«

Sie begriff den Sinn dieses Satzes erst viel später, als sie ihn näher kannte. Jetzt, in diesem Moment, fand sie diese Bemerkung reichlich verrückt.

»Der Mann, der den Laden nebenan führt, wird in ein paar Wochen nach Usambara gehen«, erklärte er gleichmütig. »Die Plantagen, die die Ostafrikanische Gesellschaft anlegen will, werden viele Leute anziehen. Die Deutschen sind gute Kunden, sie brauchen viele Dinge, außerdem bezahlen sie ihre Arbeiter pünktlich. Die Afrikaner sind wie die Kinder, kaum haben sie ein wenig Geld verdient, kaufen sie sich billige Messer und schöne Gewänder, Schmuck, silberne Knöpfe und Alkohol.«

Die Art, wie er von den »Afrikanern« redete, gefiel ihr nicht; es lag unendlich viel Verachtung darin. Doch sie ergriff die Chance, die er ihr bot.

»Dann könnte ich den Laden vielleicht mieten? Wem gehört er? An wen muss ich mich wenden?«

»Er gehört mir«, sagte er leise. »Aber ich kann Ihnen nicht den ganzen Laden vermieten, einen Teil davon brauche ich als Lager.«

»Das wäre nicht so schlimm. Ich will ja klein anfangen«, erklärte sie eifrig. »Wie hoch wäre die Miete?«

»Es ist nicht nur der Laden, ich vermiete auch die Wohnung, die darüber liegt.«

Die Wohnung hatte drei Zimmer, es gab eine Wasserleitung und eine einfache Kochstelle, worunter sie sich nicht viel vorstellen konnte. Morgen früh könne er sie ihr zeigen, jetzt habe er niemanden, der auf seinen Laden aufpasste.

»Wo kaufen Sie die Waren ein?«

Er lächelte, überlegen oder auch mitleidig. Noch nie hatte sie einen Menschen getroffen, der so schwer einzuschätzen war. Bot er ihr Laden und Wohnung an, weil sie eine indische Großmutter hatte? Oder einfach nur, weil sie ihm gefiel?

»Ich werde Ihnen beim Einkauf helfen.«

Konnte sie ihm trauen? Ihr Gefühl sagte, dass er noch einen anderen Grund haben musste, ihr dieses Angebot zu machen. Vielleicht wollte er ihr einfach nur ihre Ersparnisse abknöpfen. Und dennoch meinte sie, keinen abgefeimten Betrüger vor sich zu haben. Aber natürlich – sie konnte sich täuschen.

»Ich komme morgen früh, um mir die Wohnung anzusehen. Bitte geben Sie sie bis dahin an keinen anderen.«

»Natürlich nicht.«

Sie zog das Tuch von den Haaren und hielt es in den Händen. Es warf weiche Schatten und sah aus wie ein goldschillernder Strom, der durch ihre Finger floss.

»Für vier Mark nehme ich es«, sagte sie kühn.

Zuerst sah man nur seine Schultern zucken, dann hörte man ihn kichern, schließlich lachte er. Nicht laut, sondern eher still, aber dennoch schien er köstlich amüsiert.

»Nehmen Sie es mit – es ist ein Geschenk von Kamal Singh. Ich werde morgen früh auf Sie warten.«

Himmel über dem Kilimandscharo
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