Auf der nächsten Etappe ließen sich Dobner und Dr. Meyerwald tragen. Sie schaukelten auf Tüchern wie in einer Hängematte zwischen den afrikanischen Trägern, was Charlotte für eine angenehme Art der Beförderung hielt. Beide Männer waren jedoch missgelaunt und riefen den Schwarzen immer wieder zornige Befehle zu. Dobner versuchte zu zeichnen, was wegen des Schaukelns nicht recht gelingen wollte, Dr. Meyerwald beklagte, die gewohnten Eintragungen in sein Tagebuch nicht machen zu können, da seine rechte Hand immer noch geschwollen war. Über Nacht hatten sich auf seinem Arm bis hinauf zur Schulter juckende, rote Pusteln gebildet, auch konnte er schlecht schlucken, und das Atmen fiel ihm schwer.

Charlotte fühlte sich gut; sie nahm immer noch eine winzige Dosis Chinin, doch das Fieber hatte sich nicht zurückgemeldet. Christian ging es angeblich ausgezeichnet, doch sie wusste, dass er log. In der Nacht hatte ihn Schüttelfrost geplagt, das angebotene Medikament wollte er jedoch nicht nehmen.

»Du wirst das Chinin selbst benötigen, Charlotte. Ich bin das Fieber gewohnt, es kommt und geht. Morgen wird es vorbei sein.«

Die letzten Ausläufer der Usambara-Berge gingen in eine flache, baumlose Steppenlandschaft über. Dürres, braungrünes Gras wuchs auf dem verwitterten Boden, nur rechts und links des Flusses war ein grüner Vegetationsgürtel geblieben, in dem auch einzelne Akazien und Tamarinden überlebten. In der Ferne erblickte man die ersten Hügel des Pare-Gebirges, die Höhen und Felsen des wilden Berglandes lagen jedoch in bläulichem Dunst und wirkten aus der Entfernung seltsam unwirklich. Gnus grasten auf der anderen Seite des Flusses, schlanke, sehnige Tiere, von deren hohen Schultern schwarzes Fell herabhing, ein paar graue Kälber vollführten übermütige Bocksprünge – die Herde schien sich sicher zu fühlen.

»Das ist schon Massai-Land«, bemerkte Dr. Meyerwald. »Mich wundert überhaupt, dass wir die Kerlchen noch nicht zu Gesicht bekommen haben.«

Er hustete und strich behutsam über seinen rechten Ärmel, die elenden Pusteln juckten unerträglich, er durfte sich jedoch auf keinen Fall kratzen, das hätte die Entzündung verschlimmert.

Gegen Mittag, bei glühender Hitze, wurde die übliche Rast eingelegt. Dieses Mal lagerten sie dicht am Flussufer, und Charlotte staunte über die ungewohnten Vorsichtsmaßnahmen, die heute getroffen wurden. Die Afrikaner schleppten dorniges Gestrüpp herbei, das sie ähnlich einem Zaum um das Lager legten, die Waren hatten sie in der Mitte abgestellt und ließen sie von bewaffneten Kriegern bewachen. Dann erst setzten sie sich zum Ausruhen nieder, tranken Flusswasser, rauchten und dösten in der Sonne. Für die Weißen wurde Tee gekocht, zu dem es Maisfladen und kaltes Hühnerfleisch gab.

Die fünf Massai-Krieger waren schon von Weitem zu sehen, schlanke Gestalten, in orangerote Gewänder gewickelt, von ihren langen Speeren mit den blattförmigen Spitzen überragt. Sie gingen in einer Reihe, ohne Eile, mit den sparsamen Bewegungen der Bewohner der Wildnis, die ihre Kräfte zu schonen wissen, um Opfer oder Gegner im rechten Moment zu überraschen.

»Jetzt wird es lustig«, bemerkte Dr. Meyerwald. »Pack um Himmels willen deine Zeichnungen weg, Anton. Und passen Sie auf Ihr Gewehr auf, Ohlsen. Die Kerle sind unberechenbar.«

Das ist ja albern, dachte Charlotte. Was sollten uns diese fünf schmalen Knaben wohl antun können?

Unter den schwarzen Trägern und Kriegern war Unruhe entstanden; sie starrten missmutig auf die sich nähernden Massai, und dem Tonfall ihrer Gespräche war zu entnehmen, dass sie die rot gewandeten Burschen lieber gehen als kommen sahen. Den Grund dafür begriff Charlotte zunächst nicht.

Die fünf Massai-Krieger betraten das Lager mit einer Selbstverständlichkeit, als handele es sich um ihren höchsteigenen Besitz. Charlotte konnte den Blick nicht von den hochgewachsenen Männern wenden, die so ganz anders auftraten als alle Afrikaner, die sie bisher gesehen hatte. Ihre Nasen waren schmal, die Gesichter ebenmäßig, sie trugen das lange Haar zu zahllosen kleinen Zöpfchen geflochten und mit Bändern und Perlenschnüren durchzogen – allein für diesen Kopfschmuck mussten sie Stunden gebraucht haben. Vor allem aber war es ihre Körperhaltung, die sie von anderen Schwarzen unterschied. Sie war aufrecht und hatte etwas Hochmütiges. Ja, Charlotte konnte sich gut vorstellen, dass man einen Massai niemals in Gefangenschaft halten konnte. Er lebte nach seinen eigenen Gesetzen, oder er starb. Zähmen konnte man ein so stolzes Wesen nicht.

Ganz offensichtlich sahen diese Massai-Krieger nicht zum ersten Mal eine Karawane, denn sie hielten zielstrebig auf die Araber zu, zwischen denen jetzt ein afrikanischer Dolmetscher saß. Sie wechselten nur wenige Worte und erhielten einen Beutel bunter Perlen als Gastgeschenk, den sich einer der Krieger nachlässig um den Hals band. Damit schien das Gespräch vorerst beendet, und die schönen Massai sahen sich mit großer Unbefangenheit im Lager um.

Jetzt begriff Charlotte den Missmut der afrikanischen Träger. Die Massai schienen Narrenfreiheit zu genießen, und sie benahmen sich frech und boshaft wie ungezogene Knaben. Hier hoben sie einen Topf auf und durchbohrten das Blech mit ihrem Speer, dort lösten sie die Verpackung eines Warenballens, um neugierig dessen Inhalt zu betrachten. Sie machten sich sogar den Spaß, ihre Speere in die glimmende Feuerstelle zu halten und dann die afrikanischen Träger damit zu traktieren – wer sich nicht rasch in Sicherheit brachte, trug eine Brandwunde davon. Die Herren der Steppe hielten sich jedoch nur kurz mit solchen Scherzen auf, gab es in diesem Karawanenlager doch etwas viel Aufregenderes auszukundschaften.

Dobner wurde der Bleistift aus der Hand gerissen, noch bevor er ihn in seiner Jackentasche verschwinden lassen konnte. Dr. Meyerwald kämpfte erbittert um sein Buch, büßte dabei jedoch zwei blinkende Knöpfe seiner Jacke ein – dann umringten die Massai Charlotte.

Sie zögerten. Besahen sie mit schmalen, dunklen Augen, in denen Neugier und Begehrlichkeit blitzte. Einer legte vorsichtig den Finger auf ihren Ärmel, ein anderer zupfte schon an dem Tuch, das sie um ihr Haar gebunden hatte.

»Nur langsam«, sagte Dr. Meyerwald zu Christian, der glaubte, einschreiten zu müssen. »Wir dürfen sie nicht verärgern. Schon wegen des Elfenbeins. Aber auch aus anderen Gründen.«

Die Massai wurden mutiger, traten noch dichter an Charlotte heran, redeten untereinander, lachten, staunten. Hatten sie noch nie eine weiße Frau gesehen? Charlotte wurde es unheimlich. Sie konnte den seltsam strengen Geruch wahrnehmen, der von ihrem eingefetteten Haar, von ihrer glänzenden Haut ausging. An ihren scheinbar so schlanken Armen traten Sehnen und Muskeln hervor, wenn sie den Speer anhoben. Eine Hand berührte ihre Wange, fuhr die Schläfe hinauf, schob sich unter das Tuch, um ihr Haar zu befühlen.

»Nein!«, sagte sie zornig und wich zurück.

Der Massai blieb unbewegt stehen, die Hand noch erhoben. Im gleichen Augenblick zog Christian Charlotte rasch zu sich heran und legte besitzergreifend den Arm um ihre Schultern. Einen kurzen Moment lang starrte der junge Massai-Krieger auf den weißen Mann, in seinem Gesicht zuckte es – war es Spott oder Zorn? Dann trat er einen Schritt zurück, und auch die anderen ließen von Charlotte ab. So fremd sich die Kulturen waren – Christian war ganz offensichtlich ihr Mann, ihr Besitzer, sein Anspruch wurde respektiert.

Die fünf Massai amüsierten sich noch ein wenig, indem sie einem schwarzen Krieger das Tuch stahlen und über die Dornbüsche warfen, dann zogen sie davon. Dumpfe Flüche der afrikanischen Träger folgten ihnen.

»Das waren moran«, ließ sich Meyerwald vernehmen, der jetzt das mühsam verteidigte Buch seinem boy reichte, damit er es in einer verschließbaren Kiste unterbrachte. »Moran, das sind junge Krieger, die noch nicht verheiratet sind. Sie verbringen ihre Zeit mit Waffenübungen, ziehen herum, richten Unheil an und brennen darauf, sich in den Kampf zu stürzen.«

»Es sind Rüpel, die man übers Knie legen sollte«, schalt Dobner. »Was für ein eitles, boshaftes Gesindel.«

»Nur bis zum Tag der Heirat«, versicherte Dr. Meyerwald grinsend. »Wenn sie einmal Weiber und Kinder haben, ist es aus mit der goldenen Freiheit, dann benehmen sie sich anständig.«

»Das soll in unseren Breiten ähnlich sein«, witzelte Dobner.

»Freilich«, gab Dr. Meyerwald unverdrossen zurück. »Weshalb sonst wäre ich immer noch Junggeselle? Im Übrigen waren diese fünf nur die Späher, den Hauptansturm haben wir noch vor uns.«

Charlotte begriff. Vermutlich würde der Häuptling des Stammes mit seiner Begleitung ins Lager kommen oder zumindest Boten schicken. Die Massai sollten geschickte Jäger sein und große Mengen des »weißen Goldes«, wie das Elfenbein hier genannt wurde, gelagert haben – jetzt würde wohl endlich der Handel beginnen.

»Das ganze Dorf wird herkommen«, erklärte Dr. Meyerwald lachend. »Schließlich haben wir eine Attraktion zu bieten, die wohl kaum einer von ihnen bisher gesehen hat: eine weiße Frau.«

Er behielt Recht. Schon wenig später sah man die Massai in einzelnen Gruppen heranziehen, Männer, Frauen Kinder jeglichen Alters. Fast alle trugen Gewänder und Umhänge aus rotem Tuch und reichlich Perlenschmuck, dazu breite, aus Draht gedrehte Arm und Fußreifen, die so schwer und eng waren, dass man sich kaum vorstellen konnte, wie jemand so etwas anlegen konnte. Beklommen stellte Charlotte fest, dass viele der Frauen ihre Brüste nicht bedeckten und dabei nicht die mindeste Scham verspürten. Wie gut, dass Klara nicht hier war, sie wäre vermutlich in Ohnmacht gefallen. Doch auch Charlotte empfand diese unbefangene Nacktheit ihrer Geschlechtsgenossinnen als peinlich. Verstohlen sah sie zu Dobner und Meyerwald hinüber, natürlich starrten sie die Massai-Frauen an. Wohin Christian seine Blicke richtete, wollte sie gar nicht wissen. Überhaupt waren diese Frauen nicht gerade schön, die meisten hatten Hängebrüste, und ihre Köpfe waren kahl rasiert. Um den Hals trugen sie breite, perlenbestickte und bemalte Halskrausen, die beim Gehen auf und niederwippten, und ihre langen Ohrgehänge waren ihnen bei der Arbeit gewiss sehr hinderlich.

Der Dornenzaun half nur wenig – kein Topf, keine Kalebasse, kein Koffer war vor den neugierigen Besuchern sicher. Vor allem aber scharten sie sich in einem dichten Knäuel um die weiße Frau, starrten sie an, schwatzten, zeigten mit den Fingern, kicherten, glotzten, hoben die Kinder hoch, damit sie besser sehen konnten. Zwar wagten die Männer nicht mehr, Charlotte zu berühren, doch die Frauen scherten sich wenig darum, wessen Ehefrau sie war. Sie zogen ihr das Kopftuch herunter und befühlten ihr Haar, sie zupften an ihrer weiten Hose, starrten missbilligend auf ihre Schuhe, die sie wohl sehr hässlich fanden.

Eine Weile rührte sich Charlotte nicht, unsicher, was geschehen würde, wenn sie sich dieser Zudringlichkeit erwehrte. Es waren zahlreiche, gut bewaffnete Massai-Krieger im Lager, nicht auszudenken, wenn aus einer Ungeschicklichkeit, einer dummen Kleinigkeit ein Streit entstünde. Dann aber erwachte sie aus ihrer Starre – wenn diese Frauen glaubten, sie einfach anfassen zu dürfen, dann wollte sie das ebenfalls tun. Sacht ließ sie die Finger über die rotweiß bestickte Halskrause einer Frau gleiten, berührte den langen Ohrring, die rote Schnur, die sie um den kahl rasierten Kopf gewunden hatte. Die Frau war sehr jung und von einer herben, fremdartigen Schönheit. Ihre Brüste waren noch klein und fest, mit einer schmalen Perlenschnur umwunden, und sie lächelte, als sie Charlottes bewundernden Blick spürte. Was sie sagte, konnte Charlotte nicht verstehen; es schienen Worte zu sein, die aus der rauen, staubigen Savanne und der glühenden Sonne geboren waren. Die Massai-Frau streifte eines der bestickten Lederbänder von ihrem Kopf und reichte es Charlotte.

Ein Geschenk? Sie nahm die Gabe und band sie um ihr Handgelenk, dann zog sie das bereits herabgestreifte weiße Seidentuch von den Schultern und bot es der Frau als Gegengeschenk. Es wurde angenommen. Die schöne Massai-Frau wickelte sich die Seide um die Körpermitte und knotete die Enden zusammen.

Charlotte sah ihr dabei zu, staunte über die selbstverständliche Anmut, mit der diese junge Frau sich schmückte. Dann jedoch entstand Bewegung unter den Neugierigen, sie stießen helle, rufende Laute aus, wandten sich von Charlotte ab und liefen eilig davon. Der Grund war einleuchtend. Die Araber hatten Befehl gegeben, einige der Warenballen zu öffnen.

»Da haben Sie Glück gehabt, Frau Ohlsen«, meinte Dr. Meyerwald grinsend. »Wenn jedes dieser Weiber mit ihnen ein Tauschgeschäft getätigt hätte, säßen Sie jetzt mit leerem Koffer da.«

Drüben bei den Waren herrschte heftiges Gedränge, vor allem die Frauen hatten sich nach vorn geschoben, um die Perlen und Stoffe, den Kupferdraht und andere Dinge zu begutachten.

»Sind das die Tauschwaren für das Elfenbein?«

»Keineswegs. Erst einmal muss der Wegzoll bezahlt werden, denn diese Bande beansprucht die Herrschaft über das Gebiet, durch das wir reisen. Schauen Sie sich das an: Der Häuptling lässt seine Frauen entscheiden, ob die Waren angenommen werden oder noch andere ausgepackt werden müssen!«

Was für ein spannendes Schauspiel: So aufgeputzt und eitel sich diese Krieger gaben, es waren ihre Frauen, die sich die Tributgeschenke kritisch besahen, einiges verwarfen, anderes für gut befanden und schließlich weitere Angebote forderten. Zähneknirschend mussten sich die Araber darauf einlassen, Ballen um Ballen wurde ausgewickelt, der Inhalt ausgebreitet und von prüfenden Weiberhänden durchwühlt. Währenddessen machten sich einige der Araber an dem mitgebrachten Stoßzahn zu schaffen, kratzen daran, beklopften das Elfenbein, maßen den Umfang mit einem Band, und man sah ihnen an, dass sie nicht allzu begeistert von der Qualität waren.

Charlotte war Händlerin genug, um zu wissen, dass dies zum Geschäft gehörte. Wahrscheinlich würden Kamal Singhs Leute vorerst gar nichts kaufen, sondern nur ein wenig die Preise sondieren und sich alle Möglichkeiten offen lassen, zumal sie noch andere Elfenbeinverkäufer, vor allem die Dschagga am Kilimandscharo, aufsuchen wollten.

Sie hatte sich nicht getäuscht. Der Häuptling war ein älterer Mann, ein wenig kleiner als die Krieger, die ihn ständig wie eine Schildwache umgaben, doch an seinen Gesten und der Redeweise war zu erkennen, dass er ebenfalls kein schlechter Händler war. Charlotte starrte neugierig auf die Vorgänge, versuchte, ein paar Worte aufzuschnappen, den Ausdruck der Gesichter zu deuten, die erhobenen Finger, die raschen Blicke, die scheinbar unbeweglichen Mienen der Araber, das überlegene Lächeln des Massai. Wie ärgerlich, dass sie nicht mitmischen konnte, sie hätte zu gern gewusst, wie da geschachert und taktiert wurde. Nachdenklich besah sie das Lederband an ihrem Arm, es war hübsch mit Perlen bestickt – ob man solche Dinge nicht auch an der Küste verkaufen konnte? Ganz sicher besaßen die Massai Kuhhörner; auch die runden Lederschilde, die sie bei sich trugen, waren sorgfältig gearbeitet und phantasievoll verziert. So etwas hatte sie auf Sansibar gesehen, also ließ es sich verkaufen. Wieso waren alle nur hinter dem Elfenbein her?

Die Verhandlungen schienen wie vermutet zu keinem Ergebnis zu kommen, der Häuptling konnte warten, es gab viele Karawanen, und er war nicht bereit, seinen Schatz an Elfenbein billig zu verschleudern. Man trennte sich in guter Freundschaft, und die Besucher verließen nach und nach das Lager, nicht ohne ihre Geschenke und den Elefantenzahn mitzunehmen. Als die Letzten gegangen waren, mussten die verschmähten Waren wieder eingepackt und verschnürt werden, dann gab der Karawanenführer das Zeichen zum Aufbruch.

Dobner und Dr. Meyerwald schaukelten weiterhin in ihren Hängematten, beide fühlten sich noch nicht in der Lage, zu Fuß zu gehen. Dr. Meyerwald war schlecht gelaunt, er hustete, klagte über Kopfschmerz, und außerdem fehlte ihm seine Notration Whiskey. Die flache Metallflasche, die er in der Hosentasche aufbewahrte, war auf geheimnisvolle Weise verschwunden.

»Da trinkt ein Massai heute Abend auf dein Wohl«, meinte Dobner schadenfroh. »Afrika fordert nun einmal Opfer von uns allen!«

Das Tempo war rascher als gewöhnlich; sie wollten heute noch den Ort Mikotscheni erreichen, um dort in der Nähe das Nachtlager aufzuschlagen. Dumpf klangen die Trommeln, die Wechselgesänge wurden mehr gebrüllt als gesungen, hin und wieder versuchte jemand, die Müdigkeit mit einem lang gezogenen Hornsignal oder einem schrillen, trillernden Ruf zu vertreiben. Niemand hatte Lust, noch weite Strecken zu laufen, und die Mehrzahl der Träger hatte schon gehofft, das Mittagslager würde zum Nachtlager werden.

Charlotte war erstaunt über sich selbst, denn sie verspürte nicht die geringste Erschöpfung. Immer wieder spähte sie zwischen Akazien und hohem Buschwerk hindurch auf die schier endlos weite Savanne jenseits des Flusses. Noch gab es dort Inseln aus graugrünem Gras, weiße Blumen neigten sich im Wind, inmitten von dürrem Gebüsch breiteten Schirmakazien ihre flachen, filigranen Baumkronen aus. Und dann, als sie schon nicht mehr daran geglaubt hatte, entdeckte sie die schlanken Hälse, die sich dem Blattwerk einer Akazie entgegenstreckten, die schräg abfallende Form des Rückens, den behaarten Rist, der sich wie ein Höcker vorwölbte.

»Giraffen!«

Christian blieb ebenfalls stehen, kniff die Augen zusammen und beschirmte sie mit der Hand.

»Es sind drei oder vier …«, rief sie. »Nein, warte. Mindestens fünf. Ich glaube, sie haben eine ganz kleine dabei …«

Unwillkürlich hatte sie in ihrer Begeisterung den altgewohnten, vertrauten Ton wieder angeschlagen, den es seit Wochen zwischen ihnen nicht mehr gegeben hatte.

»Jetzt sehe ich sie auch«, sagte er aufgeregt. »Es sind anmutige Tiere.«

»Sind sie nicht wunderschön? Sie wiegen sich vor und zurück, wenn sie gehen, als würden sie nach einem langsamen Tanzrhythmus dahinschreiten.«

»Du liebst dieses Land, nicht wahr?«, fragte er leise und sah sie lächelnd an. »Aber man muss sehr stark sein, um es lieben zu können.«

Zärtlichkeit und Trauer lagen in seinem Lächeln, es rührte sie, und sie wollte ihm soeben eine freundliche Antwort geben, als vor ihnen der warnende Ruf »Mgogoro!« erklang, der ein Hindernis auf dem Pfad ankündigte. Die Karawane staute sich, weiter vorne ertönten Axtschläge, vermutlich musste ein umgestürzter Stamm zerkleinert und aus dem Weg geräumt werden.

Die Unterbrechung zerriss die vertraute Stimmung, und Charlotte begriff erschrocken, dass sie auf dem besten Wege war, alles Gewesene zu vergessen. Hatte Klara vielleicht doch recht? Konnte man einem Menschen vergeben, der so abscheuliche Dinge getan hatte? War sie grausam und ungerecht, wenn sie die Scheidung von Christian forderte?

Während sie dem Geräusch des berstenden und splitternden Holzes lauschten, das anzeigte, dass das mgogoro aus dem Weg geräumt wurde, schwatzte Dr. Meyerwald hinter ihnen über die wirtschaftliche Bedeutung der afrikanischen Edelhölzer für das Deutsche Kaiserreich. Immer wieder musste er husten, was seinen Redefluss jedoch nur wenig unterbrach.

Charlotte bemerkte, dass Christian neben ihr schauderte.

»Du musst Chinin einnehmen, Christian. Du hattest Fieber heute Nacht«, sagte sie und blickte ihn besorgt an.

»Danke für deine Fürsorge«, gab er ironisch zurück. »Wenn es nötig sein sollte, werde ich deinen Rat befolgen.«

Himmel über dem Kilimandscharo
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