Sie wollte es nicht glauben. Jonny und ihre Eltern waren auf einem Schiff weit draußen auf dem großen Ozean, da konnte sie doch niemand sehen. Schon gar nicht die Reederei in Bremen, die einen Brief an Superintendent Doden geschrieben hatte. Gar nichts wussten die, nicht einmal die Adresse ihres Großvaters, sonst hätten sie das Schreiben doch gleich an ihn geschickt.

»Der Sturm wütete in Küstennähe, nicht weit von Bombay«, schluchzte Tante Fanny, wenn die schwarz gekleideten Besucher in der guten Stube saßen. »Sie konnten die Küste schon sehen, aber wegen des Sturms ist der Dreimastfrachter wieder aufs offene Meer hinausgesegelt. Tage später wurden Trümmer an Land gespült. Keiner hat überlebt, alle liegen jetzt unten auf dem Meeresgrund …«

Tante Fanny weinte schrecklich viel, vor allem, wenn die Trauergäste ihr zuhörten. Dann erzählte sie auch gern von ihrem verstorbenen Ehemann Peter Budde, der Buchbinder gewesen war. Er hatte eine kleine Werkstatt in der Süderkreuzstraße gehabt und immer zu viel gearbeitet. Von dem Staub und dem Leim habe er husten müssen, daraus sei eine Lungenentzündung geworden und schließlich die Schwindsucht.

»Wen der Herr liebt, den ruft er früh zu sich …«

»Das Meer nimmt sich sein Opfer immer dann, wenn man es am wenigsten erwartet …«

»Nun ist die lütte Deern ganz allein auf der Welt.«

Charlotte musste schwarze Sachen anziehen, und manchmal führte Tante Fanny sie in die gute Stube, wo die Trauergäste mit Milchkaffee und Kuchen bewirtet wurden. Dann redete man tröstend auf sie ein, rief Gott den Herrn als ihren Beschützer an, und – das war das Abscheulichste – einige der Frauen drückten sie mütterlich an die Brust, quetschten sie fast tot und streichelten dabei schluchzend ihr Haar.

»Es ist doch gar nicht wahr«, flüsterte sie Klara abends im Bett zu. »Wenn der Sommer zu Ende ist, dann kommen sie, um mich abzuholen. Und das nächste Mal darf ich mit – das hat Papa mir hoch und heilig versprochen.«

»Du hast recht«, wisperte Klara. »Sie kommen bestimmt. Ich werde sehr traurig sein, wenn du wieder in Emden bist, Charlotte.«

»Du musst nicht traurig sein, Klara. Ich bitte Mama, dass du bei uns wohnen kannst. Dann bleiben wir für immer zusammen.«

»Still jetzt!«, zischte Tante Fanny von ihrem Bett herüber. »Es ist zum Auswachsen mit euch. Den ganzen Tag muss man arbeiten, dazu noch der Herzenskummer, und dann hat man nicht einmal seine Nachtruhe!«

Am Sonntag nach Pfingsten gab es eine Trauerfeier in der Lutherischen Kirche für ihre Eltern und für Jonny, zu der viele Verwandte gekommen waren. Vorn beim Altar war alles bunt von Blumensträußen und Kränzen, und der Kirchenraum, der sonst muffig nach feuchtem Stein und Holz roch, duftete süßlich nach den Maiblüten. Charlotte musste in der ersten Stuhlreihe zwischen den Großeltern sitzen, sie konnte Tante Fanny und Ettje schluchzen hören, auch Tante Edine aus Aurich und ihre beiden Töchter Marie und Menna weinten die ganze Zeit. Die Großeltern saßen mit unbewegten Gesichtern da und weinten nicht, nur an dem Glitzern in den Augen der Großmutter und an ihren ineinander verkrampften Händen konnte man sehen, wie nahe sie den Tränen war.

Als die Orgel zum Ausklang spielte, standen die Großeltern auf, und Charlotte musste mit ihnen durch den Mittelgang zur Kirchentür schreiten, es folgten die beiden Brüder ihres Vaters, Wilhelm und Gerhard, dann Tante Fanny mit Ettje, Klara und Paul, und danach kam Tante Edine mit ihrem Mann Pastor Harm Kramer und den beiden Töchtern. Alle anderen waren in den Bänken sitzen geblieben und starrten sie an, während sie vorüberzogen. Es war beklemmend, dass alle so fest davon überzeugt schienen, dass Charlottes Eltern und Jonny tot waren. Aber wenn jemand starb, dann gab es doch einen Sarg, in den man seinen Leichnam legte. Und ein Grab auf dem Friedhof mit Blumen und einem Kreuz aus Eisen oder einem Stein. Dann erst war jemand tot – nicht, wenn er einfach nur auf dem Ozean verschwunden war. Vielleicht waren sie auf einer Insel gestrandet. In Afrika angelandet. Oder das Schiff schwamm noch irgendwo auf dem Meer herum und würde die Tage in den Hafen von Bombay einlaufen.

Die Lehrer in der Schule strichen ihr übers Haar und nannten sie »arme Kleine«, einige wenige Jungen und Mädchen sagten, dass es ihnen sehr leidtäte, die meisten Mitschüler waren jedoch wie immer. Charlotte mochte die Schule in Leer nicht, sie fand sie düster und hässlich, die Kinder waren dumm, und sie hatte dort keine Freundin. Sie wollte zurück in ihre Schule in Emden, dort konnte sie mit Ernestine und Juliane spielen, die dicke Anna mit den roten Zöpfen saß neben ihr, und die Lehrerin konnte sogar Englisch. Mama sprach meistens Englisch; wenn sie deutsch redete, klang es oft lustig, weil sie so viele Fehler machte.

Der Großvater war jetzt oft in Emden, manchmal nahm er die Großmutter mit, dann blieben die Kinder mit Tante Fanny allein, und wenn sie von der Schule heimkamen, wurde in der Küche gegessen.

»Du bist reich«, sagte Ettje missgünstig. »Du kriegst alles, was deinen Eltern gehört hat.«

Charlotte starrte in ihren Suppenteller und fuhr langsam mit dem Löffel durch die braungelbe Masse. Bohnen, Möhren, Zwiebeln, Stückchen von Kartoffeln, Suppengrün. Warum konnte sie sich nicht die Ohren zustopfen? Warum sagten die anderen immer solche Dinge, die doch nicht wahr sein konnten?

»Ich will nichts!«

»Du kannst es ja mir schenken!«

»Gar nichts bekommst du. Niemand kriegt etwas.«

»Doch! Du! Großmutter hat gesagt, dass sie euer Haus in Emden verkaufen und alle Möbel und was sonst darin ist. Alles! Und dafür bekommen sie viel Geld. Das gehört dann dir.«

Charlotte ließ den Löffel fallen, sprang auf und griff wütend in das flusige Haar ihrer Cousine.

»Das lügst du!«, kreischte sie und zerrte an Ettjes Haaren. »Sie können unser Haus nicht verkaufen, das gehört ihnen nicht! Das gehört Papa!«

Ettje zeterte und versuchte, sich zu befreien. Dabei tauchte sie mit der Nase in den heißen Suppenteller, und hätte Klara nicht rasch zugegriffen, wäre die Suppe samt Teller auf dem Fußboden gelandet. Tante Fanny machte nicht viel Federlesens, packte Charlotte an den Armen und zerrte sie auf ihren Stuhl zurück, dann verabreichte sie ihrer Nichte zwei feste Ohrfeigen. Anschließend beugte sie sich über den Tisch, um der heulenden Ettje ebenfalls eine Backpfeife zu geben.

»Ich hab doch nichts gemacht!«, jammerte Ettje.

»Das ist für dein loses Mundwerk!«

»Ich hab nur die Wahrheit gesagt!«

»Still. Jetzt wird gegessen. Nachher machst du den Abwasch, Ettje. Und Charlotte fegt aus.«

Charlotte weinte nicht. Schweigend saß sie vor ihrem Teller, spürte kaum, dass ihre Wangen von den Schlägen glühten. In ihrem Inneren war ein dunkler Schmerz aufgestiegen, der sich unaufhaltsam in ihrem Körper ausbreitete. Papa und Mama waren nicht mehr da, die Wärme, der Halt, der Schutz, den ihre Eltern ihr gegeben hatten, mit ihnen verschwunden. Ungestraft konnte man ihr Elternhaus verkaufen, Mamas Möbel, Papas Bücher und seine Sammlungen, ihre Spielsachen und auch Jonnys Ritterburg mit den Reitern und Pferden. Ungestraft konnte Tante Fanny jetzt auch sie ohrfeigen, musste sie sich doch keine Sorgen mehr machen, dass Papa sie dafür schelten könnte.

»Ihr werdet schon sehen, wenn sie zurückkommen!«, rief sie trotzig.

Sie weinte erst am Abend, als sie mit Klara im Bett lag und Ettje mit Tante Fanny noch unten in der Küche war. Klara hielt sie mit beiden Armen umfangen, und Charlotte schluchzte in das Nachthemd der Cousine hinein, bis es von ihren Tränen durchweicht war.

»Das macht nichts«, wisperte Klara, als Charlotte sich beruhigt hatte und sie fest aneinandergeschmiegt dalagen, um miteinander in das Land der Träume und des Vergessens zu reisen. »Die Hauptsache ist, du hast dich ausgeheult.«

Der Frühling ging dahin, und der Sommer kam. Über dem Sofa in der Wohnstube hing jetzt ein gerahmtes Foto, das Charlottes Mama kurz vor der Reise in einem Atelier in Emden hatte aufnehmen lassen. Mama saß in einem ihrer schönen Kleider auf dem Stuhl, hinter ihr stand Papa in seiner Kapitänsuniform, aber ohne Mütze, so dass man sein krauses, helles Haar sah. Jonny und Charlotte hatte der Fotograf rechts von Mama aufgestellt, Jonny trug eine Jacke, dazu Knickerbocker und Stiefel. Die Stiefel waren eng gewesen, und Mama hatte lange reden müssen, damit er sie anzog. Papa stützte die rechte Hand auf die Stuhllehne in Mamas Rücken, die linke lag auf Charlottes Schulter. Hin und wieder hatte er sie ein wenig mit den Fingern gezwickt und sie damit zum Kichern gebracht. Es war schrecklich anstrengend gewesen, so lange ruhig zu stehen und in die große, schwarze Öffnung der Kamera zu starren; Jonny war ganz zappelig geworden, und Mama hatte ihm schließlich Süßigkeiten versprochen, damit er endlich stillhielt.

Über das gerahmte Foto hatte man ein schwarzes, durchsichtiges Band drapiert, das ein wenig in das Bild hineinhing. Es gab noch weitere Neuerungen in der Stube. Tante Fanny und die Großmutter hatten die Kommode unters Fenster geschoben, an ihrem Platz stand jetzt Mamas Klavier. Es hatte heftige Wortwechsel darum gegeben, denn weder die Tante noch die Großmutter hatten das Klavier haben wollen, das ihrer Meinung nach die ganze Wohnstube »zukleisterte«. Zu Charlottes größter Überraschung hatte aber dieses Mal der Großvater das letzte Wort gehabt.

»Es ist ein schönes Instrument, und wenn Gerhard einmal in besseren Verhältnissen lebt, kann er es sich abholen.«

Onkel Gerhard war Papas jüngster Bruder. Er wohnte in Hamburg, und man hatte Charlotte erzählt, dass er dort Musik unterrichtete, aber sie war sich nicht sicher, ob das der Wahrheit entsprach, denn die Großmutter seufzte immer, wenn sie von ihm sprach.

»Was aus dem Jung wohl noch werden soll!«

Dabei war Onkel Gerhard schon dreißig Jahre alt – eigentlich hätte schon längst etwas aus ihm geworden sein müssen. Charlotte mochte ihn gern, obgleich sie ihn nur zweimal in ihrem Leben gesehen hatte. Einmal war er in Emden zu Besuch gewesen, da hatte er mit Mama musiziert; sie hatte Klavier gespielt, er die Geige. Das zweite Mal war er bei der Trauerfeier gewesen, da war er erst nach der Kirche angekommen und hatte mit ihnen zu Mittag gegessen, doch in dem verwandschaftlichen Getümmel hatte Charlotte keine Zeit gehabt, mit ihm zu sprechen. Sie hätte ihm das Klavier gern gegeben, zumal sie selbst keine Lust verspürte, darauf zu üben. Aber das Klavier gehörte Mama; worauf sollte sie spielen, wenn sie zurückkehrte?

Die Kirschen reiften, Johannisbeeren und Erdbeeren wurden eingekocht, bald waren auch die Stachelbeeren süß genug. Die Wiesen wurden zum zweiten Mal gemäht und das Korn geschnitten. Auf dem Markt gab es Kohl und frische Möhren, Sellerie, Lauch, auch schon die ersten Kartoffeln und Pflaumen. Kühlere Winde rissen an der Wäsche, die Tante Fanny hinten im Garten zum Trocknen aufhängte, drüben am Spalier des Nachbarn reiften die Äpfel. Der Sommer schickte sich an, in den Herbst überzugehen.

Der Rückweg von der Schule war eine harte Geduldsprobe. Charlotte ging neben Klara her, die nur langsam vorankam und manchmal auch ein Weilchen stehen blieb, weil ihr Bein schmerzte. Um nichts in der Welt wäre Charlotte vorgelaufen, aber wenn sie dann endlich in die Ulrichstraße einbogen, klopfte ihr Herz voller Aufregung, und sie reckte den Hals, um zu schauen, ob vor dem Haus der Großeltern vielleicht ein Fuhrwerk stand. Einmal, es war schon Ende August, erblickte sie einen Pferdewagen, und sie spürte, wie die Hoffnung heiß in ihr aufstieg. Doch es war nur ein Bekannter des Großvaters, der in Emden gewesen war und von dort einige Kisten mitgebracht hatte, darunter auch ein kleines Kästchen aus schwarzem Holz mit einer Zeichnung auf dem Deckel, die von einer Glasscheibe geschützt wurde.

»Das ist deine«, sagte die Großmutter, als sie mit Klara ins Haus trat. »Wenn sie in der Schlafkammer unters Bett geht, dann nimm sie mit hinauf.«

Charlotte schüttelte den Kopf. Die Enttäuschung schnürte ihr den Hals so eng zu, dass sie nicht reden konnte. Nein, sie wollte diese Kiste nicht haben, sie gehörte nach Emden in ihr Zimmer. Dort hatte sie ihren Platz.

An den Abenden wurde jetzt in der Stube die große Lampe angezündet, weil Tante Fanny und Ettje viel zu nähen hatten. Sie nähten Unterwäsche, Röcke und Jacken, einen Anzug für den Großvater und für Paul neue Hosen. Auch Klara bekam einen Rock und ein Kleid, obgleich sie die Sachen nicht haben wollte, denn sie wurden aus den Kleidern von Charlottes Eltern hergestellt. Die Stoffe waren gut, man brauchte nicht allzu viel zu ändern und konnte so eine Menge Geld sparen.

Es wurde immer früher dunkel, die Äpfel waren längst abgeerntet, auch die Blätter waren schon gelb, und der Wind wehte sie von den Bäumen und über die Straße. Nebel stieg aus den Feldern auf, verhüllte den Fluss und verwischte die Konturen der Häuser. Die Stadt war grau wie ein trostloses Gefängnis. Charlotte zog dicke Socken an und wickelte sich in das hellblaue Wolltuch ihrer Mutter ein – dennoch fror sie erbärmlich, nicht einmal in der Küche, wo der Herd brannte, wurde ihr warm.

Kurz vor Weihnachten stürmte es so heftig, dass die Öfen nicht mehr zogen und die Leute sich sorgten, bei Flut könne die Leda über die Ufer treten. In der Nacht konnte Charlotte nicht schlafen. Der Wind ließ das Haus klappern und stöhnen, heulte draußen um die Hausecken wie ein wildes Tier, das in der Stadt umherlief und Böses im Schilde führte. Leise setzte sie sich im Bett auf und versuchte, in der Dunkelheit der Kammer zu erkennen, ob Tante Fanny und Ettje schliefen. Nichts regte sich, und von Tante Fannys Bett her konnte sie ein leises Schnarchgeräusch vernehmen.

»Was ist?«, flüsterte Klara neben ihr. »Musst du mal raus?«

»Nee. Schlaf nur weiter.«

Sie schlüpfte unter dem Federbett hervor und tastete sich zur Tür. Nur im Nachthemd und auf Socken, war es scheußlich kalt, aber die Schlafkammer war zu dunkel, als dass sie das blaue Tuch hätte finden können, das irgendwo neben dem Bett auf dem Fußboden lag. Erst als sie auf dem Flur stand, spürte sie, dass Klara ihr gefolgt war.

»Geh wieder ins Bett!«

»Ich bin nicht müde. Bei Sturm kann ich sowieso nie schlafen.«

Im Flur stand eine Laterne auf einem Hocker, daneben lagen die Streichhölzer, damit man im Notfall rasch Licht machen konnte. Charlotte brauchte drei Hölzchen, um die kleine Kerze zu entzünden, weil ihre Finger so klamm waren, aber auch, weil es durch die Ritzen des Flurfensters so heftig zog.

»Du muss voraussteigen, Klara«, sagte Charlotte und deutete auf die Stiege zum Dachboden. »Wenn du fällst, halte ich dich fest.«

»Was willst du da oben?«

»Das siehst du dann …«

Die Stiege war sehr schmal und steil, außerdem gab es kein Geländer, so dass Charlotte große Angst hatte, Klara könne stolpern und sich verletzen. Doch sie schaffte es bis zur Dachbodentür, nur als sie den rostigen Riegel zurückschob, musste Charlotte sie festhalten. Es gab ein hässliches, knirschendes Geräusch, das beide Mädchen zusammenfahren ließ. Reglos verharrten sie auf der Stelle.

»Lass mich vorgehen«, wisperte Charlotte nach einer kleinen Weile.

Die Laterne warf einen gelblichen, zitternden Lichtkreis über den Bretterfußboden, und sie konnten eine alte Kommode erkennen, auf der Töpfe mit Schmalz und eingekochtem Mus standen. Daneben fanden sich ein ausgedienter Stuhl und eine hölzerne Wiege, in der einst alle fünf Kinder der Großeltern gelegen hatten, auch die Enkel hatte man darin in den Schlaf gewiegt, wenn sie auf Besuch waren.

»Da ist sie.«

Man hatte die schwarze Truhe mit einem alten Tischtuch abgedeckt und weit unter die Dachschräge geschoben. Als Charlotte das Tuch aufhob und der Laternenschein auf die Truhe fiel, konnten die beiden Mädchen unter dem Glas die bunte Zeichnung erkennen: einen mächtigen Berg mit drei Gipfeln, einer davon schneebedeckt. An seinem Fuß wuchs grüner Urwald, über dem weißen Gipfel war der Himmel dunkelblau und unsagbar klar.

Die Kiste hatte Papa ihr zu ihrem neunten Geburtstag geschenkt, und sie hatte darin ihre Schätze aufbewahrt. Einen kleinen Affen aus Blech, der rasselnd umherhüpfte, wenn man ihn aufzog. Anziehpüppchen aus Papier, die sie sorgsam ausgeschnitten hatte mitsamt all ihren Kleidern, Hüten und Schuhen. Eine kleine Kugel aus Elfenbein mit durchbrochenem Schnitzwerk, in der eine weitere Kugel steckte und sogar noch eine dritte, ganz winzige, die ebenfalls von Ornamenten bedeckt war. Eine Muschel, wie eine gewölbte Hand, außen rosig und innen wie glänzendes Silber; wenn man sie ans Ohr hielt, hörte man das Meer rauschen.

»Halt mal die Laterne, Klara!«

Vorsichtig nahm sie den schwarzen Götzen heraus, den Papa ihr aus Afrika mitgebracht hatte. Er war aus Holz geschnitzt, hatte riesige Augen und breite Lippen, sein Körper war seltsam zusammengekauert und viel zu klein für den mächtigen Kopf, doch er hatte breite Füße, auf denen er stehen konnte. Im schwankenden Lichtschein breitete Charlotte ihre Schätze auf dem staubigen Boden aus, denn Klara, der langsam der Arm lahm wurde, konnte die Laterne nicht länger still halten und wechselte immer wieder die Hände. »Findest du die Sachen schön? Der Affe kann auch hüpfen, aber ich mag ihn jetzt nicht aufziehen, weil es zu viel Lärm macht.«

»Mir gefällt die Muschel am besten.«

Vorsichtig legte Charlotte jedes Stück in die Truhe zurück, ganz langsam, bedächtig, damit nichts beschädigt oder geknickt wurde.

»Ich glaube, sie kommen doch nicht wieder«, sagte sie leise und schloss den Deckel. »Mama, Papa und Jonny sind weit fort auf dem Ozean und haben mich vergessen.«

Der Laternenschein zitterte, dann glitt er zur Seite, und Klara stellte das Licht auf den Boden. Mühsam kniete sie nieder und schlang die Arme um Charlotte.

»Sie haben dich ganz sicher nicht vergessen«, flüsterte sie, den Mund dicht an Charlottes Ohr. »Sie denken an dich, solange du lebst. Das weiß ich ganz sicher.«

Am folgenden Morgen erwachte Charlotte mit tobenden Kopfschmerzen. Der Doktor musste ins Haus gerufen werden, denn das Fieber stieg so hoch, dass sie allerlei verrücktes Zeug vor sich hin redete.

»Gott behüte, dass es eine Lungenentzündung wird«, stöhnte Tante Fanny. »Aber sie musste ja mitten in der Nacht auf den kalten Dachboden steigen. Diese Eigenmächtigkeiten müssen ihr unbedingt ausgetrieben werden.«

Himmel über dem Kilimandscharo
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