Er kannte diesen Schausteller, einen kleinen, dürren Mann mit einem grauen Ziegenbärtchen, begleitet von seiner Frau und zwei jungen Gehilfen, die möglicherweise seine Söhne waren. Sie kamen seit Jahren zum Gallimarkt und verdienten dabei recht gut, denn die Plätze im Zelt waren nicht gerade billig. In den vergangenen Jahren hatte man einen »Heliophobus, einen Albino«, ausgestellt, einen fettleibigen, blonden Menschen, der blöde vor sich hin glotzte und eine Haut wie eine Käsemade hatte. Dazu eine junge Indianerin aus Neuholland, ein wollhaariges, zartes Ding, das einen Kriegstanz aufführte und mit dem Fleisch von schwarzen Hühnern gefüttert wurde. Erwachsene Männer, die einen Aufpreis bezahlten, durften sie nach der offiziellen Vorstellung noch kurz in ihrer Landestracht bestaunen – mit nichts als einem schmalen, geflochtenen Lederriemen um die Hüften.

Christian Ohlsen hatte die Vorstellung besucht, zweimal sogar, denn das Mädchen war sehr reizvoll, dennoch war ein schales Gefühl bei ihm zurückgeblieben. Er konnte recht gut verstehen, dass Charlotte eine solche Schaustellung nicht sehen wollte.

Man schien sie jedoch inzwischen überredet zu haben, denn die vier bewegten sich in Richtung des gelben Rundzelts. Christian zögerte einen Moment, dann entschloss er sich, hinterherzugehen. Möglicherweise gab es nach der Vorstellung eine Gelegenheit, sich ganz zwanglos über das Dargebotene zu unterhalten, wenn auch nicht mit Charlotte, so doch mit den Hansens. Peter Hansen war Assistent beim Hauptzollamt, Christian hatte öfter mit ihm zu tun, wenn ihm Waren geliefert wurden, vielleicht waren die Hansens ja überhaupt eine gute Chance, näher an Charlotte heranzukommen. Sie wohnten ganz in ihrer Nähe, wenn er sie besuchte, konnte es gut sein, dass er Charlotte dort traf. Wieso kam er erst jetzt darauf? Die Idee war grandios.

Die Marktbesucher standen Schlange vor dem Zelteingang, als er sich hinten anstellte, wurden die Hansens, Charlotte und Klara gerade eingelassen. Ärgerlich blickte er über die Menge der vor ihm Stehenden und versuchte abzuschätzen, ob er überhaupt noch eine Chance hatte, ins Zelt zu gelangen, doch die füllige Ehefrau des Schaustellers, die den Eintritt kassierte, hatte gierige Augen und winkte einen nach dem anderen hinein. Christian war bei den Letzten, die noch einen Sitzplatz ergatterten, zwar nur hinten, wo man nicht allzu viel sehen konnte, aber das war immer noch besser als ein Stehplatz zwischen den Bauern und Landgebräuchern, die nach Kuhstall stanken.

Die Luft im Zelt war so dick, dass man sie hätte in Scheiben schneiden können, was einerseits der warmen Oktobersonne zu verdanken war, andererseits den Ausdünstungen der vielen Leute. Man saß auf roh gezimmerten Bänken im Halbkreis, die teuersten Plätze ganz vorn an der Manege hatten sogar Rückenlehnen, in den hinteren Reihen wurde es rustikaler, da knackte wohl auch mal das Holz, und man musste sich vorsehen, dass man nicht mitsamt dem wackligen Bänkchen umkippte. Etwa ein Drittel des runden Zeltinnenraums war mit bemalten Holzkulissen abgetrennt, man sah stilisierte Palmen und gedrehte Säulen, dazwischen orientalisch anmutende Schriftzeichen, auch schnörkelig vergitterte Haremsfenster, von denen die schwarze Farbe schon abgeplatzt war. In der Mitte dieses phantasievollen Machwerks befand sich ein dunkelroter, leicht zerschlissener Vorhang mit goldenen Schnüren – dort würde gleich der ziegenbärtige Schausteller erscheinen, um dem geneigten Publikum die ersten »Merkwürdigkeiten« zu präsentieren.

Christian erspähte Charlotte vorn in der ersten Reihe zwischen ihren beiden Cousinen – Peter Hansen hatte ordentlich was springen lassen für diese Einladung. Wenn er sich vorbeugte, konnte er Charlottes Profil sehen, sie hatte eine zierliche Nase, die Lippen waren voll, der Mund war überhaupt ein wenig groß, was ihm jedoch gut gefiel. Die Hitze im Zelt hatte ihre Wangen rosig gefärbt, und sie fächelte sich mit einem Werbeblatt Kühlung zu. Peter Hansen hatte sein Schnupftuch aus der Tasche gezogen und wischte sich den Schweiß im Nacken.

Ein Glöckchen läutete, und das Gemurmel der Zuschauer erstarb, in den hinteren Bänken fuhr man mit den Köpfen hin und her und reckte den Hals, um an den vorn Sitzenden vorbei auf die Manege sehen zu können.

Der rote Vorhang wurde auseinandergezogen, und der Ziegenbart trat mit verheißungsvollem Lächeln vor das Publikum. Christian stellte fest, dass sowohl das Lächeln als auch der blaue, goldbetresste Anzug mit der Pluderhose unverändert waren, auch die Zahnlücke oben rechts war ihm von seinen früheren Besuchen her wohlbekannt. Während der Ziegenbart mit erstaunlich kräftiger, tiefer Stimme allerlei Überflüssiges schwafelte, beobachtete Christian gespannt Charlottes Gesicht. Sie hatte die schwarzen Augenbauen gesenkt und die Nase ein wenig hochgezogen – ganz offensichtlich fand sie den Burschen reichlich abgeschmackt.

Jetzt wandte sie sich zu Klara, legte den Arm um ihre Schultern und wechselte lächelnd einige Worte mit ihr. Christian hatte sie noch niemals auf diese Weise lächeln sehen, so offen und voller Zärtlichkeit. Etwas durchzuckte ihn heiß, und er spürte einen leichten Schwindel. Es musste die verdammte stickige Luft sein oder das Geschwafel des goldbetressten Ziegenbocks da vorn. Es konnte aber auch an der Erkenntnis liegen, dass diese exotische Kostbarkeit, die er so gern sein Eigen genannt hätte, mehr war, als er bisher geglaubt hatte. Sie konnte fürsorglich sein, liebevoll, sich einem Menschen zärtlich zuwenden. Solche Eigenschaften hatte Charlotte Dirksen bisher geschickt vor aller Welt verborgen.

Für einen Augenblick schloss er die Augen und überließ sich süßen Phantasien, bis er von rechts einen festen Stoß erhielt, als sein Nachbar aufsprang, um das vorn Dargebotene besser sehen zu können – allerlei Zeug, das zu Anfang der Vorstellung mit vielen lateinischen Ausdrücken, die kaum einer der Zuschauer verstehen konnte, angepriesen und herumgezeigt wurde, dazu wurden die passenden Schauergeschichten erzählt. So gab es zum Beispiel einen braunen Schrumpfkopf mit zugenähtem Mund aus dem fernen Polynesien; die Gebeine eines Engländers, der einem indischen Tiger zum Opfer gefallen war; selbst ein ausgestopfter Alligator aus dem Land der Pyramiden, in dessen weit aufgerissenem Maul eine Schlange steckte, war darunter. Angeblich hatte er sie gerade verspeisen wollen, als die Kugel des Jägers ihn traf. Charlottes Cousine Klara starrte mit weit aufgerissenen Augen auf diese grausige Sammlung, Peter Hansen fächelte sich mit dem Hut Kühlung zu, seine Frau Ettje war krebsrot im Gesicht, so dass man fast glauben konnte, sie würde gleich vor Hitze und Entsetzen zerfließen, doch das Glitzern in ihren Augen verriet, dass sie die Vorstellung sehr genoss. Charlotte hatte wieder die Brauen gefurcht, und ihre Miene drückte Abscheu aus.

Jetzt war der Albino fällig, der vermutlich schon hinter dem Vorhang wartete, um von den beiden jungen Gehilfen hinausgeschoben zu werden. Es musste schwer für ihn sein, lebte er doch angeblich in seinem Heimatland unter der Erdoberfläche und ging nur des Nachts auf die Jagd, daher auch die eckigen, roten Augen. Doch zu Christians Überraschung wurde eine andere Attraktion angekündigt, der Albino musste dem Schausteller irgendwie abhandengekommen sein, vielleicht war der arme Bursche ja gestorben.

»Ein wollhaariger Neger aus dem Urwald am Kilimandscharo«, verkündete der Ziegenbart dem Publikum mit großer Geste. »Sein Stamm ist es gewohnt, Menschenfleisch zu essen, sowohl roh als auch gebraten. Dieses Exemplar wurde vor einem Jahr bei einer Expedition ins Innere von Schwarzafrika von Lord Stanhope gefangen genommen und in einem vergitterten Käfig nach Europa gebracht.«

Die Vorhangzieher machten ihre Sache gut. Wie aufs Stichwort hin öffneten sich die roten Stoffbahnen, und man erblickte die massige, dunkle Gestalt des Negers. Sein Oberkörper war unbekleidet, um die Lenden hatte er ein Fell gewickelt, das vermutlich von einem gescheckten Fohlen stammte. Er torkelte einige Schritte nach vorn, verzog das Gesicht und bleckte die weißen Zähne, die spitz gefeilt waren und einem Raubtiergebiss ähnelten. Der Effekt war außerordentlich. Eine Frau kreischte voller Panik, und der Ziegenbart beeilte sich zu versichern, dass sein Neger vollkommen ungefährlich und zahm sei, was man auch an dem Ring sehen könne, der durch seine Nase gezogen war. Außerdem habe man ihm die Menschenfresserei längst abgewöhnt, er ernähre sich von lebendigem Federvieh und nehme auch Haferbrei gern an.

Die Leute beruhigten sich, einige mutmaßten, der Neger blecke nicht die Zähne, um zu beißen, sondern um zu lächeln, doch nicht alle konnten sich dem anschließen. Indessen stand der bekehrte Menschenfresser immer noch unbeweglich auf der Stelle und zeigte weder Scheu noch Angriffslust. Sein großer, schwarzer Körper glänzte, offenbar hatte man ihn vor der Vorstellung mit irgendeinem Fett eingerieben.

»Dieses Exemplar ist kräftig und von schönem Wuchs, die Haut schwarz wie Ebenholz, außer an den Innenflächen der Hände und Füße …«

Der Ziegenbart näherte sich furchtlos dem dunkelhäutigen Riesen, stemmte seinen herabhängenden, rechten Arm in die Höhe und drehte die Hand so, dass man die helle Innenfläche sehen konnte. Ein leichter Tritt veranlasste das Schauobjekt, auch den Fuß zu heben, um dem geneigten Publikum den wissenschaftlichen Beweis für die Richtigkeit der zuvor erfolgten Aussage zu erbringen. Christian war hin- und hergerissen von dieser Demonstration, die ihm unwürdig, zugleich aber auch spannend erschien. Was hatten sie mit diesem schwarzen Riesen gemacht, dass er so gleichmütig auf der Stelle stand und sich wie eine Gliederpuppe bewegen ließ? Man konnte die dicken Muskelstränge unter der glänzenden Haut erkennen – jetzt waren sie schlaff, doch eben, als der Ziegenbart ihm den Arm hochgestemmt hatte, hatte man sehen können, wie sie anschwollen. Ein einziger Schlag hätte dem Schausteller den Garaus machen können, doch der Schwarze stand fromm wie ein Lamm da und grinste in die gaffende Menge. Seine Augen kamen Christian seltsam starr vor. Ein Schlafmittel? Ein betäubender Saft? Oder konnte es sein, dass der Bursche den Verstand verloren hatte und gar nicht mehr wahrnahm, was mit ihm geschah?

Die fette Ehefrau des Ziegenbarts erschien in einem safrangelben, mit glitzernden Borten und Glasperlen besetzten Gewand, in dem sie aussah wie ein riesiger Pudding. Sie hielt in jeder Hand ein braunes Huhn ohne Kopf und zeigte das tote Federvieh den Zuschauern, als sei dies etwas ganz und gar Außergewöhnliches.

»Sie erleben jetzt die Speisung des afrikanischen Menschenfressers, welche täglich zu dieser Stunde und in der gleichen Weise vonstattengeht. Aus Rücksicht auf die weiblichen Zuschauer wird der Neger die Hühner nicht lebendig verzehren, wie es seine Gewohnheit ist, dafür aber ungekocht und noch lebenswarm. Nach der Speisung wird er den Kriegstanz seines Volkes vorführen, den die Kikuju vor einer Menschenjagd stets …«

Christian starrte noch auf die kopflosen Hühner, die die safrangelbe Schaustellerin vor dem Publikum schwenkte, als er plötzlich einen hellen, zornigen Aufschrei vernahm, der ihn erschrocken zusammenfahren ließ. In der ersten Reihe war Bewegung entstanden, einige Zuschauer waren aufgesprungen, man hörte ärgerliche Ausrufe, Kinder schrien, Frauen schimpften, dann vernahm man die laute Stimme des Schaustellers.

»Beruhigen Sie sich, meine Gnädigste. Bleiben Sie auf Ihren Plätzen, verehrte Damen und Herren, es besteht keine Gefahr. Wenn Sie nicht hinschauen mögen, machen Sie einfach die Augen zu …«

»Das ist abscheulich! Sie sind ein Ungeheuer!«

Gott im Himmel, es ist Charlotte!, dachte Christian entsetzt und fuhr von seinem Sitz hoch. Sie macht sich vor allen Leuten lächerlich!

Charlotte hatte keine Chance, zwischen den vollbesetzten Bänken hindurch zum Ausgang zu gelangen, er sah sie aufgebracht hin- und herlaufen. Schließlich versuchte sie, sich durch die Menge der stehenden Zuschauer zu drängen, verfolgt von Geschrei und Gelächter. Neuer Tumult entstand, als einige der Leute sie nicht durchlassen wollten.

»Bleib daheim, wenn du schwache Nerven hast!«

»Willst uns die Vorstellung versauen? Ich hab bezahlt und geh hier nicht weg!«

»Stell dich nicht so an – hast du noch nie ein totes Huhn gesehen?«

Christian war keine Kämpfernatur, dennoch stieg er hastig über die Beine der neben ihm sitzenden Leute hinweg, trat etlichen auf die Füße, stolperte, erntete Flüche und schrille Aufschreie, dann hatte er die Stehplätze erreicht.

»Weg da! Macht Platz!«

Seine blindwütige Entschlossenheit machte Eindruck, man wich vor ihm zurück, protestierte nur halbherzig, und es gelang ihm, bis zu der gelben Zeltplane vorzustoßen, deren einzelne Bahnen mit Lederriemen und Schnallen an schmalen Eisenpfosten befestigt waren. Dort, wo zwei Bahnen aufeinanderstießen, würde es möglich sein, einen Durchschlupf zu schaffen.

»Hierher, Fräulein Dirksen!«, brüllte er. »Hier geht es hinaus!«

Er nestelte an einer Schnalle herum, brach sich fast die Fingernägel ab, doch zum Glück begriff ein junger Bursche neben ihm, was er vorhatte, und machte sich ebenfalls an den Schnallen zu schaffen. Christian spähte nach Charlotte, erblickte ihren Hut und die weißen Bänder, schob die Leute rüde beiseite und streckte den Arm nach ihr aus.

»Hierher! Zu mir! Ich führe Sie hinaus!«

Die Plane gab nach, durch den Schlitz drang helles Sonnenlicht ein, und im gleichen Moment gelang es ihm, Charlottes Hand zu fassen. Er handelte impulsiv, fragte nicht nach ihrem Einverständnis, sondern zog sie zu sich heran und legte schützend den Arm um ihre Schultern. Sie wehrte sich nicht, begriff, was er vorhatte, und ließ sich, gefolgt von Beschimpfungen und Lachsalven, zu dem improvisierten Ausgang schieben. »Vorsicht. Unten ist das Tuch noch befestigt.«

Nacheinander stiegen sie durch die Öffnung und fanden sich auf dem lärmenden Markt wieder. Dicht neben ihnen wurde Branntwein ausgeschenkt, eine Frau sang laut und heiser, ein junger Kerl mit Schirmmütze torkelte herum, und Christian stellte sich schützend vor Charlotte.

Sie atmete rasch, überwältigt von Abscheu und Zorn verbarg sie ihr Gesicht in den Händen. Er sah, dass ihre Schultern zitterten, und war heftig versucht, sie in die Arme zu nehmen, doch er beherrschte sich; es wäre nicht anständig von ihm gewesen. So blieb er dicht bei ihr stehen, wartete, bis sie sich beruhigt hatte, und sorgte dafür, dass keiner der betrunkenen Zecher ihr zu nahe kam.

»Ich muss Sie um Verzeihung bitten, Fräulein Dirksen.«

Charlotte hatte die Hände vom Gesicht genommen und versuchte, ihr Haar in Ordnung zu bringen. Sie hatte nicht geweint, wie er zuerst glaubte, es war nur die Aufregung gewesen, die sie hatte zittern lassen. Jetzt wirkten ihre Züge wieder gefasst, nur ihre schmal zusammengekniffenen Augen verrieten ihre innere Bewegung.

»Sie? Aber wofür denn?«

»Ich fürchte, ich habe mich in der Aufregung despektierlich verhalten. Ich … ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten …«

Erst jetzt schien sie sich darüber klar zu werden, dass er vorhin den Arm um sie gelegt hatte. Er hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen – jetzt hatte er sie verschreckt, wie dumm von ihm.

»Sie haben sich großartig benommen, Herr Ohlsen. Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet.«

»Aber nein!«, rief er erleichtert. »Es geschah ganz spontan, ich weiß selbst nicht, was da über mich gekommen ist. Aber ich bin sehr froh darüber …«

Hinter ihm begann die Frau wieder zu grölen, sie verlangte nach Branntwein, eine raue Stimme erklärte, sie habe bereits genug und solle sich endlich davonmachen. Christian Ohlsen nahm diese Geräusche nur am Rande wahr, denn Charlotte Dirksens schwarze Augen musterten ihn mit großer Eindringlichkeit.

»Es war so grauenhaft«, sagte sie leise. »Ich habe noch niemals in meinem Leben etwas so Beschämendes, so Widerliches gesehen.«

»Kommen Sie«, bat er. »Gehen wir ein wenig beiseite, hier wird es zu laut.«

Er bot ihr seinen Arm, und sie hakte sich ohne Zögern bei ihm ein. Langsam gingen sie ein paar Schritte, dann hatte er sich eine Erwiderung überlegt.

»Ich muss gestehen, dass ich ähnlich empfunden habe, aber ich hatte nicht den Mut, aufzustehen und zu gehen, so wie Sie, Fräulein Dirksen. Ich habe Sie sehr bewundert.«

Der Blick, der ihn von der Seite traf, war zweifelnd, vielleicht lag sogar ein wenig Spott darin. Sie schien ihm nicht recht zu glauben.

Dennoch sprach sie weiter.

»Das ist doch ein Mensch, genau wie wir. Was gibt ihnen das Recht, ihn so vorzuführen? Ihn öffentlich zu füttern wie ein wildes Tier? Wie ist es nur möglich, dass all diese Leute so viel Geld bezahlen, um sich etwas derart Niederträchtiges anzusehen? Haben sie kein Herz? Kein Gefühl? Keine Würde?«

»Ich weiß es nicht. Aber oft tun wir Dinge, für die wir uns später zutiefst schämen. Mir ist es heute so ergangen …«

»Mir auch!«, pflichtete sie ihm bitter bei.

Unschlüssig blieb er stehen und überlegte, ob er die Chance ergreifen sollte, die sich ihm bot.

»Würden Sie mir gestatten, Sie nach Hause zu begleiten, Fräulein Dirksen?«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber ich werde auf meine Cousine warten. Klara ist noch dort drinnen, und ich möchte mit ihr gemeinsam nach Hause gehen.«

Natürlich – wie hatte er das vergessen können. Ihr zärtliches Lächeln fiel ihm wieder ein – sie schien sehr an ihrer kleinen Cousine zu hängen. Er hätte wohl argumentieren können, dass Klara ja mit den Hansens heimgehen konnte, aber das hielt er für unklug. Sie hatte abgelehnt – er würde sie nicht bedrängen.

»Dann gestatten Sie mir, Ihnen so lange Gesellschaft zu leisten, bis die Vorstellung vorüber ist.«

Das wurde akzeptiert, schon deshalb, weil es nicht anging, dass eine junge Frau ganz allein auf dem Markt herumstand. Sie gingen auf und ab, und er bemühte sich, sie zu unterhalten, erzählte von seiner Studentenzeit in Hamburg, von den Schönheiten der großen Stadt, der Binnenalster, dem Hafen, und zu seiner Freude wurde auch sie gesprächig. Sie kannte Hamburg, war als Kind mit ihren Eltern dort gewesen, auch in Bremen und einmal sogar in Rotterdam. Dann lenkte er das Gespräch auf das Geschäft, das ihm so wenig Zeit für Vergnügungen lasse …

»Gibt es den Löwen noch?«

Sie konnte sich tatsächlich daran erinnern! Er versprach, den Löwenkopf aus der Kiste zu nehmen und aufarbeiten zu lassen, und war entzückt, dass sie darüber lächelte.

Die Zeit drängte, schon tönten von der reformierten Kirche sechs Schläge zu ihnen herüber. Gleich würde die Vorstellung beendet sein; vor dem Zelteingang hatten sich schon neue Schaulustige eingefunden, die die nächste Vorführung nicht verpassen wollten.

»Am Freitag feiert die Liedertafel Vereinsfest – werden Sie und Klara auch dort sein?«

Er glaubte sich zu erinnern, dass ihre Großmutter dort Mitglied war, er konnte sich aber auch täuschen. Doch das Glück war ihm hold.

»Ich hatte schon daran gedacht, aber Klara ist dagegen, sie fühlt sich nicht wohl in Gesellschaft.«

»Das ist sehr schade. Ihre Cousine ist ein nettes, hübsches Mädchen, sie darf sich nicht vor aller Welt zurückziehen. Vielleicht sollten Sie ihr ein wenig helfen, damit aus ihr keine Einsiedlerin wird …«

Die ersten Schaubesucher quollen aus dem Zelt, einige hatten noch glasige Augen, die meisten aber lachten und schwatzten voller Begeisterung über das Gesehene.

»Ich werde es mir überlegen«, sagte Charlotte und steckte eine Haarsträhne, mit der der Wind spielte, unter ihren Strohhut. Bevor sie zu Klara hinüberging, bedankte sie sich noch einmal, und dieses Mal lächelte sie ihn an. Freundlich, aber doch mit einem Schuss Ironie, offenbar hatte sie seine Strategie sehr wohl durchschaut.

Himmel über dem Kilimandscharo
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