Im Morgennebel erschien die afrikanische Küste unwirklich wie eine Traumlandschaft. Die Abbruchlinie des Strands sah aus wie ein dunkler, immer wieder unterbrochener Strich auf gelbem Grund, die Pflanzen wuchsen in graugrünem Pastell, die gezackten Formen der Palmen ragten sattgrün daraus hervor, von aufsteigenden Nebelfetzen umweht. Schleierwolken überspannten den Himmel, jetzt weißlich wie der Dunst des Festlands, vor einer Stunde noch hatte der Sonnenaufgang Meer und Wolken in ein dunkel glühendes Rot getaucht.

Charlotte lehnte an der Reling des vollbesetzten Küstendampfers, froh, einen Platz gefunden zu haben, wo man sie in Ruhe ließ. Hinter ihr auf dem Deck hockten die Passagiere eng gedrängt zwischen Warenballen, Kisten und Körben unterschiedlichen Inhalts, durch das Tuckern der Maschine hindurch waren arabische Worte zu vernehmen, Suaheli, auch indische, englische oder deutsche Ausdrücke. Einige der Männer hatten getrocknete Flaschenkürbisse vor sich stehen, die sie als Wasserpfeifen gebrauchten; wenn der Wind sich drehte, wurde der Rauch über das Deck geblasen, und man erkannte den süßlichen Geruch des Haschischs.

Charlotte hätte am liebsten eine Mauer um sich gezogen, um sich von all den Passagieren, den Geräuschen und Gerüchen abzuschotten. Wieso war ihr auf der Hinfahrt nicht aufgefallen, wie schmutzig dieses Schiff war, wie widerlich der Geruch von Öl, Teer und Rauch, der ihr in die Nase stieg? Und diese vielen Menschen, die man auf dem Deck zusammenpferchte, so dass sie kaum ein Fleckchen fanden, um sich niederzusetzen – weshalb kam sie sich heute zwischen ihnen so verloren vor, während sie sonst immer ihre Freude an dem Gewimmel und den vielen Gesichtern gehabt hatte?

Sie fühlte sich müde und krank, ihre Füße schmerzten, ihre Schläfen hämmerten, schon während der Nacht hatten sich heftige Kopfschmerzen eingestellt, die sich im Laufe des Morgens noch gesteigert hatten. Schlimmer jedoch war das Durcheinander ihrer Gefühle, das sie bis jetzt noch nicht hatte ordnen können. Scham wechselte mit Sehnsucht, Zorn mit Verzweiflung, mal glaubte sie, einen festen, geraden Weg vor sich zu sehen, dann wieder fiel alles auseinander. Spalten taten sich auf, Untiefen gähnten vor ihr, weit in der Ferne lockte ein schimmernd weißer Gipfel, doch der Pfad dorthin verlor sich im Dickicht.

George hatte ihren Willen respektiert, hatte nicht gewagt, sie noch einmal zu küssen. Dafür hatte er sie bis zum Strand hinab getragen, denn bei ihrer wilden Flucht hatte sie sich tiefe Schnittwunden an den Füßen eingehandelt. Schonungslos rieb er ihr die Füße mit Salzwasser ein, wollte sie tröstend in den Arm nehmen, als der brennende Schmerz eintrat, doch sie wies ihn zurück, biss die Zähne aufeinander und gab keinen Laut von sich. Er beschaffte eine Rikscha, mit der sie in der Abenddämmerung zu seinem Haus fuhren, dort zog sie sich in eines der Gästezimmer zurück und verbarrikadierte die Tür.

Sie hatte sich lächerlich benommen. Weshalb war sie nicht auf sein Angebot eingegangen, miteinander zu reden, das Missverständnis – wie er es nannte – zu klären? Er war ein Ehrenmann und hätte sie gewiss nicht angerührt, er hatte sich voller Sorge um sie bemüht und hätte die Chance verdient gehabt, sich vor ihr zu rechtfertigen. Aber ihre Angst war allzu groß gewesen, dabei fürchtete sie sich nicht einmal vor ihm, sondern vielmehr vor sich selbst.

Später, als sie von Scham und Reue gepeinigt auf dem Bett lag, hatte die Frau an ihre Tür geklopft, ein Tablett mit Speisen und Getränken hereingereicht, dazu eine kleine Büchse, Verbandszeug und ein Paar bunt verzierter, geflochtener Schuhe. Die schöne Abessinierin sprach kein Wort und zog sich gleich wieder zurück, ihr Lächeln konnte Anteilnahme, aber auch Spott bedeuten. Charlotte hatte sich auf die Bettkante gesetzt, um ihre Füße zu verarzten, und wieder war ein Schatten über ihre Gedanken geglitten. War George tatsächlich ein »anständiger« Ehemann? Hatte er sie nicht dazu aufgefordert, sich von ihrem Mann zu trennen? Weshalb? Für wen sollte sie frei sein? Für ihn vielleicht, den Ehemann ihrer Cousine, den Vater von drei unschuldigen Kindern?

George mochte ein interessanter und kluger Mensch sein, sie konnte viele seiner Überzeugungen teilen, in einigen Dingen bewunderte sie ihn sogar, aber sie würde sich in Zukunft fern von ihm halten und auch seine Manuskripte nicht mehr lesen. Vor allem das nicht, waren es doch gerade seine Schriften gewesen, die sie in seinen Bann gezogen hatten.

Sie hatte kaum geschlafen, und wie es schien, war auch George oben in seinen Räumen nicht zur Ruhe gekommen. Mehr als einmal hatte sie seine Schritte vernommen, hatte gehört, wie er den Stuhl rückte, einmal war ein Glas heruntergefallen und zerschellt. Sie verbot sich, darüber nachzugrübeln, ob er ganz allein dort oben umherging oder ob es vielleicht noch jemanden gab, der auf leichten Bastschuhen fast lautlos über den Fußboden lief. Die Schuhe, die er ihr hatte bringen lassen, gehörten ganz sicher nicht ihm, vermutlich stammten sie aus dem Besitz der stolzen Abessinierin.

Noch vor Sonnenaufgang, im ersten, fahlen Morgengrauen, war sie mit Regenschirm, Hut und Tasche aus dem Haus gelaufen, als sei sie auf der Flucht. Erst nach einer Weile hatte sie sich umgedreht. Die Fensterscheiben seines Arbeitszimmers spiegelten die ersten orangeroten Strahlen der aufgehenden Sonne. Sie glaubte, einen Schatten dahinter zu erkennen. Wenn er ihren überstürzten Aufbruch beobachtet hatte, so war er ihr doch nicht gefolgt. Charlotte hatte einen Augenblick verharrt, dann hatte sie sich langsam umgedreht und war weiter Richtung Hafen gegangen. Zwei füllige Afrikanerinnen mit bunten, aufwendig gewickelten Kopftüchern und silbernen Armreifen drängten sich soeben neben sie an die Reling und unterhielten sich auf Suaheli. Offenbar ging es um eine heitere Begebenheit, die Frauen gestikulierten, redeten schnell und laut und lachten herzhaft. Sie hatten ein hartes Leben, die afrikanischen Frauen, dachte Charlotte, und doch konnten sie so fröhlich sein, so unbefangen. War diese Gabe nicht auch eine Art von Glück? Ein Glück, das in ihnen selbst lag und das ihnen über so viel Schweres hinweghalf.

Fröstelnd zog sie die Schultern zusammen. Sie war mit diesem Talent nicht gesegnet. Sie fühlte sich einsam, am falschen Ort und hasste sich selbst. Bis der Dampfer Daressalam erreichte, würde sich der Himmel schon wieder mit schwarzen Gewitterwolken bezogen haben und der nächste Tropenregen über die Küstenregion hereinbrechen. Noch vor wenigen Tagen hatte sie die Regenzeit sehnsuchtsvoll erwartet, den ersten, kräftigen Wolkenbruch mit Begeisterung begrüßt, sich an dem Geruch des feuchten Bodens und der wachsenden Pflanzen berauscht. Jetzt war ihr nur noch kalt. In Daressalam müsste sie vermutlich durch Schlamm und tiefe Pfützen tapsen, was die albernen Bastschuhe bestimmt nicht durchstehen würden. Sie hatte sich nicht getäuscht. Das einzig Gute war, dass der kleine Küstendampfer direkt am Landungssteg festmachen konnte, so dass den Passagieren die Fahrt auf den schwankenden Schiffchen erspart blieb. Bei Blitz und Donner verließen sie das Schiff, Charlotte nahm zwei junge Inderinnen mit unter ihren Schirm, und sie strebten eilig auf das schützende Dach des Hafengebäudes zu. Die Fahrgäste, die dort auf den Dampfer gewartet hatte, hasteten ihnen mit Körben und Taschen entgegen, so dass sie sich vorsehen mussten, auf dem schmalen Steg nicht zur Seite gedrängt zu werden und im Wasser zu landen. Charlotte ließ ihre beiden Schützlinge am Hafengebäude zurück, wo ein Verwandter auf sie wartete, empfing überschwänglichen Dank für ihre gute Tat und machte sich auf den Weg zur Inderstraße. Obgleich sie nur für eine Nacht weg gewesen war, sehnte sie sich wie selten zuvor nach Klaras zärtlicher Fürsorge, nach trockenen Kleidern und Schuhen, einem heißen, duftenden Tee. Ihr Laden, ihre kleine Wohnung, Klara, ihre engste Vertraute, der lustige Schammi – all das war das Glück, das für sie bestimmt war. Kein strahlend heller Planet, eher ein schwach blinkendes Sternchen am Nachthimmel. Aber es gehörte ihr, sie hatte es sich selbst geschaffen.

Der Laden war geschlossen. Fassungslos rüttelte sie an den hölzernen Falttüren und stellte fest, dass man sie von innen verriegelt hatte. Gut, es regnete. Aber das war doch kein Grund, das Geschäft im Stich zu lassen! Die Läden ringsum hatten die Vordächer aus Stoff eingerollt, einige hatten auch die Türen zum Schutz gegen die aufspritzenden Wassermassen vorgeklappt. Doch die Geschäfte waren geöffnet, wenn der Gewitterregen nachließ, würden die Kunden schon kommen.

»Klara? Schammi!«

Innen wurde der Schlüssel ins Vorhängeschloss gesteckt, knirschend bewegte sich Metall auf Metall, dann öffnete sich ein Spalt zwischen den Türflügeln, und Schammis schmales Gesicht erschien. Er strahlte sie so begeistert an, als kehre seine eigene Mutter zu ihm zurück.

»Was ist denn hier los? Wieso ist der Laden nicht offen? Was denkt ihr euch eigentlich? Wie sollen wir Geld verdienen, wenn ihr …«

»Charlotte!«

Klara zwängte sich zwischen Nähmaschine und Regalen hindurch und stieß im schwachen Licht gegen einen Tisch voller Teekannen und Bierkrüge. Es schepperte, ein Gefäß fiel herunter.

»Mein Gott, bin ich froh, dass du wieder hier bist. Komm herein. Du bist ja ganz durchnässt. Sei vorsichtig mit dem Schirm. Schammi, mach die Türen hinter ihr wieder zu und schließ ab. Jesus Christus im Himmel, komm rasch, Charlotte …«

Klara war nur selten so redselig, es musste also etwas Schlimmes geschehen sein. Charlotte vergaß alle Müdigkeit und folgte ihr durch den dunklen Laden zur Wohnungstreppe.

»Geh voraus«, flüsterte Klara. »Du weißt ja, dass ich nicht so schnell bin. Erschrick nicht, er ist krank. Gestern Abend ist er gekommen. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Schammi hat ihm Wasser zum Waschen und Rasieren gebracht, aber er musste ihm dabei helfen und ihn ankleiden wie ein Kind. Er hat keinen Bissen essen können. Charlotte, wir müssen ihn in das Gouvernementskrankenhaus bringen, sonst stirbt er uns unter den Händen weg …«

Böses ahnend stieg Charlotte hinauf. Der strömende Regen verdunkelte den Wohnraum, so dass Klara eine Petroleumlampe entzündet hatte. In ihrem Licht erschien Christian erschreckend hohlwangig, seine Augen waren entzündet, die Lippen aufgesprungen und blutig. Er saß auf dem Boden, den Rücken gegen die Wand gelehnt, und sah zu ihr auf, dumpfe Hoffnungslosigkeit lag in seinem Blick.

Sie musste sich überwinden, die wenigen Schritte zu ihm hinüberzugehen, doch dann hockte sie sich neben ihn auf die Bastmatte, und ihr Mitleid war stärker als alle anderen Empfindungen.

Zaghaft hob er den Arm, fuhr damit hin und her, als könne er die Bewegung nicht richtig steuern, dann sank seine Hand auf ihr Knie.

»Es ist schön, wieder bei dir zu sein«, hörte sie ihn leise murmeln.

Er fieberte und hatte Schüttelfrost. Sie stellte keine Fragen. Er würde jetzt sowieso nicht darauf antworten, und außerdem war unschwer zu erraten, was geschehen war. Seine Hoffnungen hatten sich nicht erfüllt, er würde von nun an bei ihr bleiben und ihr eine Last mehr sein.

»Hast du ihm Chinin gegeben?«

Klara nickte. Sie hatte alles getan, was ihr möglich war. Nur die verdreckten und zerfetzten Kleider hatte sie ihm nicht ausziehen mögen, das verbot die Schamhaftigkeit. Sie hatte Schammi jedoch geholfen, Christian zu waschen, solange er mit einer Unterhose bekleidet war, außerdem hatte sie die Geschwüre an Armen, Beinen und Oberkörper mit Salbe behandelt. Klara war wirklich bis an ihre Grenzen gegangen. In der Nacht hatte sie mehrfach für Christian gebetet.

Charlotte entschied, erst einmal die Wirkung des Chinins abzuwarten. Er war vermutlich zu Fuß nach Daressalam zurückgekehrt, hatte kaum Nahrung zu sich genommen und unsauberes Wasser getrunken. In den Sümpfen hatte er sich Insektenstiche eingehandelt, die sich entzündet und das Fieber hervorgerufen hatten.

»Wir werden ihn aufpäppeln, dann werden wir sehen.«

Klara war unendlich froh darüber, die Verantwortung an Charlotte abgeben zu können. Zu dritt mühten sie sich, den Kranken auf Charlottes Bett zu tragen. Schammi erhielt den Auftrag, den bwana mit Tee und Limonade zu versorgen und ihnen sofort zu melden, wenn sich sein Zustand verschlechterte. Dann erklärte Charlotte ihrer Cousine, sie wolle den Laden auf der Stelle wieder öffnen.

»Dein Mann ringt mit dem Tode, und du denkst nur an deine Geschäfte!«

Charlottes Kopf schmerzte immer noch, sie war übernächtigt, und jeder Schritt tat ihr weh – sie hatte wenig Lust, sich Klaras Vorwürfe anzuhören.

»Ich denke an uns alle. Wovon sollen wir leben, wenn wir nichts verkaufen? Wovon Medikamente für Christian bezahlen? Nur vom Beten allein wird das nicht gehen!«

Ärgerlich zerrte sie an den Klapptüren, die bei dem feuchten Wetter aufgequollen waren und sich nur schwer öffnen ließen. Klara hatte sich in Schweigen gehüllt, und Charlotte wusste, dass sie die Cousine verletzt hatte. Es tat ihr leid, doch sie war auch nicht bereit, sich zu entschuldigen. Stille trat ein, nach einer Weile begann die Nähmaschine leise zu rattern, der Regen hatte nachgelassen, so dass das Licht zum Nähen ausreichte.

Das Glück, dachte Charlotte beklommen und sah auf die Straße hinaus, die sich nun langsam wieder belebte. Ein Goanese, der bei einem der deutschen Offiziere als Koch arbeitete, ging von Laden zu Laden und besah die Auslagen, mehrere schwarze boys liefen mit Körben hinter ihm her. Zwei Frauen balancierten hohe Gefäße auf den Köpfen, wiegten die Hüften beim Gehen, die eine hatte sich ihren friedlich schlafenden Säugling auf den Rücken gebunden. Das Glück war etwas, über das man nicht nachdenken durfte. Man hatte das Leben so zu nehmen, wie es eben kam. Und im Grunde hatte sie es ja selbst so gewollt.

»War es schön auf Sansibar?«, fragte Klara, ohne von ihrer Näharbeit aufzusehen.

»Ja, sehr. George arbeitet in einer großen Klinik. Marie und den Kindern geht es gut.«

Charlotte fühlte sich schlecht, aber weitere Vorwürfe von Klara hätte sie nicht ertragen. Und eigentlich war es ja auch keine Lüge, Marie ging es in England sicher gut. Sie war froh, dass in diesem Augenblick eine Inderin den Laden betrat, um sich die zierlichen Tassen mit den aufgemalten Rosen anzuschauen, und sie beeilte sich, der Kundin noch eine Kanne mit dem gleichen Muster zu zeigen. Es war kein guter Tag, die Kundin ging wieder hinaus, ohne etwas gekauft zu haben. Klara arbeitete mit der Schere, wie immer langsam und mit großer Sorgfalt, denn sie hatte Angst, den Stoff zu verschneiden.

»Was ist mit deinen Füßen passiert? Und wo sind deine Schuhe?«

Sie hatte es also bemerkt. Charlotte hatte die Schuhe noch rasch gewechselt, bevor sie in den Laden hinunterging, aber da war es schon zu spät gewesen. Jetzt würde sie also doch lügen müssen.

»Ich habe sie leider bei Marie stehen lassen. Eine dumme Sache. Am Abend, als ich zu Bett gehen wollte, ist mir eine Flasche heruntergefallen, und ich bin in die Scherben getreten. Da hat Marie mir diese Bastschuhe geliehen. Sie waren bequemer, wegen der dicken Verbände …«

Sie hatte keine Chance, nicht bei Klara, die sie so gut kannte, dass sie ihre Gedanken lesen konnte. Vielleicht wäre die Cousine bei anderer Gelegenheit schweigend über diese Lüge hinweggegangen, heute jedoch war sie nicht dazu geneigt.

»Was für ein Pech. Du bist mit beiden Füßen in die Scherben getreten? War es denn dunkel im Zimmer?«

»Ja, ja – es war dunkel. Ich habe nach den Streichhölzern gesucht, um die Lampe anzuzünden.«

»Ach!«

Wieder wurde es still. Charlotte entschloss sich, den Tisch vor den Laden zu schieben, um ihre Waren dort auszustellen – der Himmel war zwar noch wolkenverhangen, doch es regnete nicht mehr.

»Charlotte?«

Sie antwortete nicht. Es war schwierig, den Tisch zu bewegen, ohne etwas Zerbrechliches umzustoßen.

»Ich weiß, dass Marie nicht auf Sansibar ist, Charlotte. Sie ist mit den Kindern in England.«

Charlotte erstarrte. Klara sprach leise, wie es ihre Art war, ihre Worte klangen nicht einmal vorwurfsvoll, nur unendlich traurig.

»Gestern Mittag kam ein Brief aus Leer. Von Ettje. Meine Mutter ist gestorben.«

»Deine Mutter? Tante Fanny? Aber sie … sie war doch … ganz gesund …«

»Sie hat nicht geklagt. Man fand sie am Morgen tot in ihrem Bett …«

»O mein Gott! Es … es tut mir so leid, Klara!«

Charlotte ließ den Tisch stehen, lief zu Klara hinüber und umarmte sie. Jetzt endlich kamen die Tränen, sie schluchzte, streichelte Klaras schmale Schultern, weinte über den dummen Streit und ihre Lügen, über ihre Enttäuschung, ihren Kleinmut und ein bisschen auch um Tante Fanny. Klara hielt ihre Hände fest, und auch ihr Kummer löste sich in Tränen auf.

»Es ist nur schlimm, dass ich nicht einmal zu ihrer Beerdigung gehen konnte, alle waren dort, sogar Marie ist aus England gekommen …«

»Eines Tages werden wir uns die Reise nach Deutschland leisten können, dann werden wir ihr Grab besuchen, Klara. Das verspreche ich dir.«

Klara hatte nicht einmal Abschied von ihrer Mutter genommen, bei Nacht und Nebel waren sie aufgebrochen, und nun würde sie sie in diesem Leben nicht wiedersehen. Wie seltsam – sie hatten offenbar geglaubt, das Leben in der kleinen Stadt würde still stehen, alles bliebe so, wie sie es zurückgelassen hatten. Doch dem war nicht so. Auch dort nahmen die Dinge ihren Lauf, und jeder Tag, jeder Monat, jedes Jahr vergrößerte den Abstand zwischen ihnen und der Heimat.

Am Nachmittag erschien Kamal Singh in ihrem Laden, um ihnen den gewohnten Tee zu bringen. Er wusste bereits, dass Charlottes Ehemann zurückgekehrt war, worüber er nicht sonderlich erstaunt wirkte. Er brachte ihnen eine Schachtel mit einem grauen Pulver, das die Geschwüre heilen sollte; woraus es bestand, konnte er nicht sagen.

»Sie müssen nicht traurig sein«, sagte er zu Klara. »Die Seele Ihrer Mutter ist nun erlöst, und wenn sie ein tugendhaftes Leben geführt hat, wird sie sich mit Gott vereinigen.«

Er lächelte, als Klara zweifelnd die Stirn runzelte, schließlich hing er einem ganz anderen Glauben an als sie. Dennoch dankte sie ihm freundlich und meinte, sie sei überzeugt davon, dass die Seele ihrer Mutter im Himmel sei.

In der Nacht schlief Charlotte auf einer Decke am Fußboden neben Christians Krankenlager. Er fieberte und murmelte allerlei Ungereimtes vor sich hin, rief irgendwelche Leute beim Namen, gab Befehle, jammerte, flehte, fluchte – hin und wieder weinte er. Sie flößte ihm Wasser ein und hoffte inständig, er möge endlich einschlafen; sie war am Ende ihrer Kräfte. Doch wenn sie ihn stützte, damit er aus dem Becher trinken konnte, fasste er ihre Schulter und klammerte sich an ihren Arm.

»Du gehst nicht fort, nicht wahr? Es ist so verdammt dunkel, ich kann dich nicht sehen …«

»Aber nein, die Lampe brennt doch. Ich bin bei dir und passe auf dich auf. Trink jetzt. Noch einen Schluck. So ist es gut…«

»Die Geister der Hölle«, phantasierte er. »Tausendstimmig hörst du sie in der Nacht. Sie umschleichen dich, umkreisen dich auf leisen Sohlen, aber du hörst sie atmen. Du kannst sie riechen, du spürst, wie sie näher kommen …«

»Du bist in Daressalam in unserer Wohnung, Christian. Du bist in Sicherheit. Du bist bei mir …«

»Bei dir …«

Er entspannte sich und streckte sich wieder auf dem Bett aus, lag mit weit offenen Augen da und starrte auf die Insekten, die um die Lampe schwirrten.

Er musste Schreckliches erlebt haben, vermutlich hatte er im Freien übernachtet und gefürchtet, von Raubtieren angegriffen zu werden. Erschöpft ließ sie sich wieder auf ihr Lager gleiten und lauschte in die Nacht hinaus. Sie hatte dieses Geräusch schon öfter gehört, ein dumpfes, rhythmisches Stampfen, das man sogar körperlich spüren konnte, wenn man die Erde berührte. Es kam von Nordwesten her, wo das Viertel der Schwarzen war, und man hatte ihr erzählt, dass sie ihre ngoma feierten – eine geheime Versammlung, eine Feier, auf der nach uraltem Brauch Tänze aufgeführt wurden. Kein Weißer war dort zugelassen, auch konnte niemand sagen, welcher Art diese Tänze waren und wozu sie dienten. Doch in der zähen, ruhigen Kraft dieser Trommelschläge spürte Charlotte den Puls der afrikanischen Erde. Das fremde Land gab ihr großzügig von seiner Gelassenheit und schenkte ihr erlösenden Schlaf.

Himmel über dem Kilimandscharo
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