Drei Tage später näherte sich die Karawane dem Ort Klein-Arusha. Seit dem Morgen verhüllten Wolkenschleier den Himmel, ohne die flirrende Hitze mindern zu können, welche die Kehlen ausdörrte und an den Kräften zehrte. Sogar der Uferbewuchs des Pangani, der hier Rufu genannte wurde, war spärlich geworden, die wenigen Büsche von umherziehenden Gnus und Antilopen zernagt, das Gras an vielen Stellen von größeren Tieren niedergetreten. Rötliche Staubwirbel erhoben sich hier und da auf dem ausgetretenen Pfad wie tanzende sheitani, irrten zwischen den schwarzen Trägern umher und verloren sich im Gestrüpp. Gelbgrau breitete sich die Njika-Savanne zu beiden Seiten des Flusses in schierer Unendlichkeit aus, nur vereinzelt war ein wenig blassgrünes Buschwerk zu erkennen, eine dunkle Schirmakazie, die ihre Zweige wie schützende Hände über das trockene Gras breitete, eine graugrüne Insel im Boden an einer Stelle, wo sich noch ein wenig Feuchtigkeit gehalten hatte. Bleichende Knochen lagen umher, starrten sie gleichmütig aus leeren Augenhöhlen an – Überreste der einstmals großen Herden der Massai, die vor Jahren der Rinderpest zum Opfer gefallen waren.

Gegen Mittag, als sie in einer Flussbiegung haltmachten, um eine Rast einzulegen, geschah das Wunder. Der weißliche Dunst riss auseinander, und vor dem tiefblauen Himmel zeigte sich der gewaltige Berg gleich einer Geistererscheinung.

Was war die kleine Zeichnung ihrer Kindheit gegen die Magie dieses Augenblicks! Nichts, nicht einmal ein Abglanz. Es schien, als habe jemand einen Vorhang zurückgeschoben, um ihnen Einblick in eine überirdische Götterwelt zu gewähren. Riesig schwebte das Bergmassiv über der Savanne, erhob sich dunkel aus den Resten des Wolkendunstes, stieg als ein mächtiger Kegel in den Himmel empor, von weißen Schnee- und Eisfeldern gekrönt, die sich über die Felshänge hinunterzogen und in schmalen, glänzenden Linien ausfaserten.

»Beeindruckend«, murmelte Dr. Meyerwald, der, ebenso wie Dobner, wieder genesen war und seine Kenntnisse mit gewohntem Eifer über seine Mitreisenden ausschüttete. »Jetzt begreift man, weshalb die ersten Berichte über den Kilimandscharo als Hirngespinste abgetan wurden. Wo sollte mitten in der Savanne ein alpines Massiv wie dieses herkommen? Ohne Zweifel vulkanischen Ursprungs, beachten Sie die gleichmäßige Kegelform …«

»Er scheint so nah, als könne man ihn berühren«, murmelte Dobner, der vollkommen verzaubert dastand. »Was für eine Anziehungskraft. Man möchte immer weitergehen, jedes Hindernis meistern, sogar dem Tod entgegenblicken, um nur dorthin zu gelangen.«

Charlotte erschauerte. Sie kannte diese Worte, hatte sie mit heißen Wangen gelesen, sich hineingesteigert, und doch begriff sie ihren wahren Sinn erst in diesem Augenblick.

»Als wäre dort oben, wo die Eisfelder das dunkle Himmelsblau berühren, ein Ort, an dem sich alle Wünsche, alle Hoffnungen erfüllten …«, flüsterte sie.

»Der Ort, an dem das Glück wohnt. Meinst du das?«

Sie spürte Christians Hand, die sich auf ihre Schulter legte, vorsichtig und sehr leicht, als habe er Sorge, sie zu erschrecken. Sie wehrte sich nicht. Er war diesen gefahrvollen Weg mit ihr gegangen, stand jetzt neben ihr und empfand das Gleiche wie sie. Weshalb sollte sie ihm nicht vergeben? Er liebte sie.

Auch einige der Träger und ihre Begleiter waren bei der unerwarteten Erscheinung stehen geblieben. Manche, die unter den schweren Bürden kaum den Kopf heben konnten, hatten ihre Last abgestellt, um besser sehen zu können, andere gingen gleichmütig weiter, so dass die Karawane in Unordnung geriet. Man hörte die zornigen Rufe der Araber, die Trommeln setzten wieder ein, und die Karawanenführer mühten sich, ihre Leute in Bewegung zu bringen.

»Evollah! Evollah!«

Schweigend ging Christian neben Charlotte her, beide sahen immer wieder hinüber zu dem mächtigen Bergmassiv, als stünde zu befürchten, dass ein böser Zauber es wieder hinter dem Schleier verbergen könne. Umso redseliger war Dr. Meyerwald: Ein Deutscher aus Leipzig sei es gewesen, der den höchsten der drei Gipfel, den Kibo, im Jahr 1889 gestürmt habe. Hans Meyer heiße der Mann, und er selbst habe ihn vor drei Jahren auf den Kanarischen Inseln angetroffen und außerordentlich interessante Gespräche mit ihm geführt. So habe ein Negerhäuptling der Matschambe seinen Leuten einmal befohlen, auf den »Berg des bösen Geistes« hinaufzusteigen, um ihm etwas von dem glitzernden, weißen Silber zu bringen, das auf dem Gipfel verstreut läge. Nur wenige der naiven Burschen kamen von dort zurück; sie hatten Hände und Füße erfroren und berichteten, der böse Geist des Berges habe alle anderen getötet.

Klein-Arusha erwies sich als die übliche Ansiedlung eines Eingeborenenstammes, strohgedeckte Lehmhütten standen im Kreis um einen Dorfplatz, dessen Zentrum ein mächtiger Affenbrotbaum bildete. Eine Gruppe junger Krieger, ganz ähnlich geschmückt wie die Massai, lief der Karawane entgegen, und wieder einmal mussten die Warenballen geöffnet, die Tributzahlungen geleistet werden. Anschließend brachten die schwarzen Einwohner Bananen, Hühnereier, Erdnüsse und Bohnen, die sie den wanjampara zum Tausch gegen weitere Geschenke anboten. Wie üblich erwarben die Araber eine große Menge an Lebensmitteln, die am Abend an die schwarzen Träger und ihre Begleiter, vor allem aber an die vier Deutschen weiterverkauft wurden.

Seit einigen Tagen schon schleppten sie auch hölzerne Zeltpfosten mit, denn in der Njika-Savanne war nur Gestrüpp zu finden, es bereitete schon Mühe, das nötige Feuerholz aufzutreiben. In den Nächten wurde das Lager stets mit einem Zaun aus dornigem Gebüsch gesichert, man ließ die Feuer brennen und stellte eine Wache auf. Charlotte, die zuerst geglaubt hatte, diese Vorkehrungen erfolgten wegen der aufdringlichen Massai-Krieger, wurde bald eines Besseren belehrt. In der Abenddämmerung fanden sich viele Tiere am Flussufer ein; sie hatten Gnus und Impalas gesehen, einmal auch Büffel und vor allem Zebras. Doch die Dämmerung war auch die Zeit der Jäger. Durch das Sirren der Zikaden hindurch war immer wieder das ferne, manchmal auch erschreckend nahe Brüllen der Löwen zu vernehmen und hin und wieder der lang gezogene Todesschrei ihrer Beute. Die Herren der Savanne waren unterwegs, um sich die Mägen zu füllen – wer immer am Fluss seinen Durst stillte, der tat es unter Einsatz seines Lebens.

An diesem Abend war Dr. Meyerwald gemeinsam mit zwei Arabern und einigen Afrikanern flussabwärts gegangen, und nach einer Weile hörte man das trockene, harte Knallen ihrer Gewehre. Jubel verbreitete sich unter den schwarzen Trägern, es würde Fleisch geben, der bwana, der die Schmetterlinge fing, hatte Jagdglück gehabt. Tatsächlich schleppten die schwarzen Träger bald darauf mehrere Gnus und ein Impala herbei. Helles Blut rann aus vielen Einschüssen in den Kadavern, das verwundete Impala war schließlich von den Afrikanern durch einen Schnitt in den Hals getötet worden. Sein schmaler Kopf baumelte willenlos im Takt der Schritte, in seinen sanften, weit geöffneten Augen sammelten sich hungrige Fliegen.

»Waidmanns Heil«, bemerkte Christian trocken.

Charlotte musste sich abwenden, als die erlegten Tiere an ihr vorbeigetragen wurden. Es war lächerlich, das wusste sie; man hatte sie getötet, weil man ihr Fleisch benötigte, genau wie es die Raubtiere dort draußen in der Savanne taten. Es gab Jäger und Opfer in der Wildnis, so war die Welt nun einmal eingerichtet. Und doch musste sie an Kamal Singh denken, der niemals Fleisch anrührte, weil seine Religion es ihm verbot.

Die Afrikaner begrüßten die heimkehrenden Jäger mit schrillen Trillerlauten. Die Beute wurde blitzschnell zerlegt und an den Feuern geröstet, und selbst Charlotte musste zugeben, dass die aufsteigenden Bratendüfte verführerisch waren. Für die Weißen wurden selbstverständlich die besten Stücke reserviert, die Afrikaner jedoch waren weniger wählerisch, alles, sogar die Innereien, wurde gekocht und restlos verzehrt, nur die Knochen blieben übrig, und der glückliche Schütze Meyerwald hatte Mühe, sich seine Trophäen zu sichern.

»Die Hörner der Gnus haben sie – weiß der Teufel wie – abgetrennt und verschwinden lassen! Verflixte Neger. Sind doch allesamt Diebe und Gauner.«

Während der Mahlzeit, die der Koch mit Kurkuma und reichlich Pfeffer gewürzt hatte, schilderte Dr. Meyerwald die Jagd, regte sich über die dummen Araber auf, die allzu früh losgeballert hätten, und beklagte die Tatsache, dass er seine rechte Hand immer noch nicht wie gewohnt bewegen könne. Unter normalen Umständen habe er für ein Wild selten mehr als einen einzigen Schuss gebraucht. Niemand widersprach. Christian bemerkte lächelnd, dass die Abenddämmerung gute Augen erfordere und der lästige Staub die Sache nicht gerade einfacher mache. Charlotte vernahm das Gespräch nur am Rande, ihre ganze Aufmerksamkeit galt den Afrikanern, die das Festmahl mit Trommeln, Gesängen und Tänzen feierten. Die Melodien waren einfach, wie aus dem Augenblick heraus geboren, und doch mussten sie uralt sein, denn alle schienen sie zu kennen. Aus dem gleichförmigen, immer wiederkehrenden Singsang erhoben sich einzelne Stimmen, fanden Beifall und Antwort, dann schwollen die Töne an, und es erklangen helle Trillerlaute. Die Seele ihrer Musik aber war der Rhythmus der Trommeln, der stampfenden Füße, der auf und niederspringenden Körper. Sie trugen diesen Rhythmus in jedem Muskel ihrer schwarzen Leiber, er schien aus ihnen selbst zu kommen, und ihre Bewegungen waren von einer seltsam gelassenen Geschmeidigkeit, zu der ein Europäer niemals fähig gewesen wäre. Wie steif wirkten dagegen die »Tanznachmittage« der deutschen Offiziere und ihrer geschnürten Ehefrauen, zu denen sie gelegentlich Klavier gespielt hatte!

Auch Dobner war still, was nicht weiter auffiel – er redete selten. Während sein Reisegefährte auf die Pirsch gegangen war, hatte er fieberhaft gezeichnet, er schien jedoch wenig zufrieden mit dem Ergebnis zu sein, denn er hatte alle Blätter ins Feuer geworfen und war danach in eine trostlose Stimmung verfallen.

»Verfluchte Künstlerallüren«, hatte Dr. Meyerwald gestöhnt. »Wozu bezahle ich dich, Anton?«

»Es ist platt und kitschig. Keine Magie. Kein Geheimnis. Mein Talent reicht nicht aus …«

»Dass du nicht Rembrandt bist, weiß ich auch. Zeichne diesen Berg eben so, wie du es kannst! Ich brauche die Bilder!«

Später lag Charlotte im Zelt und starrte auf die schräge Stoffbahn über ihrem Feldbett, durch die der helle Mond hindurchleuchtete. Der mächtige Berg war kurz vor Einbruch der Dämmerung wieder im Nebel verschwunden, ob man ihn morgen früh wieder zu Gesicht bekommen würde, war unsicher, oft sollte er sich wochenlang in den Wolken verborgen halten. Doch er war da, sie spürte seine Gegenwart wie eine große Kraft, die sie erzittern ließ und sie zugleich mit Glück erfüllte. Die Karawane würde ein Stück in das Hochland zu Füßen des Bergmassivs hineinsteigen, jedoch nur bis zu dem Ort Moshi, wo man im Schutz der deutschen Truppenstation lagern wollte. Dort würde man über die augenblickliche Lage bei den Dschagga Erkundigungen einziehen. Die vielen Stämme lagen meist miteinander im Streit, was ein kluger Händler, der nicht Leib und Leben riskieren wollte, stets zu bedenken hatte …

»Dort oben auf dem Schneegipfel zu stehen, muss etwas Großartiges sein«, sagte Christian in ihre Gedanken hinein.

Er hustete, trank gierig einige Schlucke Wasser und ließ sich zurück auf sein Lager fallen. Er hatte heute Chinin eingenommen. Endlich. Es musste ihm sehr schlecht gehen.

»Das kann nur erfahrenen Bergsteigern gelingen«, gab sie zurück. »Ich glaube nicht, dass ich es versuchen möchte.«

»Ich dachte, du hättest Sehnsucht nach dem Ort, an dem sich deine Träume erfüllen.«

»Gewiss …«

Sie musste nach Worten suchen, ihr war wichtig, dass er sie verstand.

»Aber dieser Ort ist nicht oben auf dem Berg, Christian. Auch nicht in den Wolken, die ich als Kind so gern betrachtet habe. Unsere Träume sind wie ein Licht, das uns leuchtet, und auch wenn wir dieses Licht niemals erreichen, so brauchen wir es doch zum Leben.«

Er lag eine Weile still und schien nachzudenken.

»Du meinst, dass ein Mensch ohne Hoffnung nicht leben kann – ist es das?«

»Ja, das ist es, Christian.«

Überrascht vernahm sie sein leises Lachen.

»Da bin ich aber froh! Ich hatte schon gefürchtet, mit dir auf diesen Berg steigen zu müssen!«

Seine Heiterkeit steckte sie an – wie lange war es her, dass sie gemeinsam über ein und dieselbe Sache gelacht hatten? Erst als er wieder husten musste, hörten sie auf zu lachen.

»Du wärst tatsächlich mitgegangen? Bis oben auf den Gipfel?«

»Zweifelst du daran?«

Er drehte sich auf die Seite und legte den angewinkelten linken Arm unter den Kopf, um sie ansehen zu können.

»Deine Träume sind so stark, Charlotte«, murmelte er. »Vielleicht reichen sie ja für uns beide.«

Tiefe Erleichterung erfasste sie. Sie schlief ruhig und erwachte erst von dem lästigen Geschrei des Hahns, der schon Stunden vor Sonnenaufgang zu krähen begann. Die Afrikaner bestanden darauf, das Tier mitzuführen, ganz offensichtlich brauchten sie diese Weckrufe, um sich auf den kommenden Morgen einzustellen. Nach dem vierten oder fünften Hahnenschrei war es ihr unmöglich, wieder einzuschlafen. Ärgerlich über den beharrlichen Ruhestörer, drehte sie sich auf den Rücken und vernahm Christians schwere, viel zu rasche Atemzüge. Der Morgen konnte nicht mehr fern sein, im Zelt war es dämmrig, doch weder der Geruch einer frischen Feuerstelle noch der Duft der afrikanischen Hanfpfeifen drang zu ihr. Vielleicht herrschte nach dem ausgiebigen Mahl und der Feier gestern Abend noch allgemeine Müdigkeit, und sie würden ein wenig später aufbrechen.

Etwas strich außen an der Zeltbahn entlang, eine sachte, kaum hörbare Berührung, die sie nur vernahm, weil all ihre Sinne geschärft waren. Ihr Herz schlug plötzlich rasend schnell, ohne dass sie den Grund dafür benennen konnte. Ein Windstoß? Einer der Mitreisenden aus dem Zelt nebenan, den ein Bedürfnis hinausgetrieben hatte? Oder Humadi, der sich anschickte, ihnen den Morgentee …

Ein kratzendes Geräusch dicht neben ihr ließ sie erstarren. Das war kein Mensch – irgendein Tier machte sich an ihrem Zelt zu schaffen, scharrte, schnaufte, wollte unter die mit Stricken festgespannte Plane gelangen. Ein fremder, stechender Geruch drang ihr in die Nase. Die Ausdünstung eines wilden Tiers. Entsetzt sprang Charlotte von ihrem Schlafplatz auf.

»Christian!«, flüsterte sie. »Christian – da ist etwas neben dem Zelt …«

Er rührte sich nicht, schlief tief und fest, als wäre er betäubt. Erst als sie ihn heftig an der Schulter rüttelte, schlug er die Augen auf.

»Was … was ist?«

»Da!«

Eine mächtige, gelbe Pranke schob sich unter der Plane hindurch, angelte mit halb ausgestreckten Krallen wie spielerisch nach den gekreuzten Holzbeinen des Feldbetts und verfing sich dabei in einem Zipfel des Leinentuchs, mit dem Charlotte sich zugedeckt hatte. Dann knallten urplötzlich mehrere Schüsse, die Pfote verschwand und riss das Laken mit sich fort.

»Simba! Simba!«, brüllte eine Stimme, die keinem Araber, aber auch keinem Afrikaner gehören konnte.

Im gleichen Moment erwachte das Lager zum Leben. Wildes Geschrei ertönte, nebenan verlangte Dr. Meyerwald aufgeregt nach seinem Gewehr, Schüsse peitschten. Männer brüllten, Knüppel sausten durch die Luft, ein Pfeil drang durch die Zeltplane und traf die blecherne Petroleumlampe.

»Der verdammte Neger hat geschlafen und das Feuer ausgehen lassen!«, brüllte Dr. Meyerwald draußen. »Auf diese Leute ist kein Verlass! Ein Löwe im Lager!«

»Es war eine Löwin«, antwortete die Stimme des Unbekannten. »Und noch dazu trug sie ein Nachthemd!«

»Sie haben gerade Grund, Witze zu machen! Weshalb haben Sie die Bestie nicht erschossen? Sie haben sie doch als Erster gesehen, oder?«

»Gewiss. Aber hier zwischen den Zelten war es schwer, sie zu erwischen, ohne ein Menschenleben zu gefährden. Also habe ich nur in die Luft geschossen, um sie zu vertreiben.«

Christian hatte nach dem ersten Schrecken sein Gewehr gefasst, und war damit aus dem Zelt gelaufen. Charlotte folgte ihm besorgt, weniger wegen des Löwen – der war vermutlich längst davon – als vielmehr wegen der umherirrenden Pfeile und Gewehrkugeln. Im Lager herrschte immer noch helle Aufregung; die Frauen beeilten sich, Feuer anzuzünden, die Männer suchten im fahlen Licht des beginnenden Sonnenaufgangs nach weiteren Löwen zwischen den Zelten. Irgendwo in der Dämmerung war zorniges Schelten zu vernehmen – die Araber fielen über den unglücklichen Wächter her, der seine Aufgabe so schlecht erfüllt hatte. Besorgt hielt Charlotte Ausschau nach Christian, konnte ihn jedoch nirgendwo entdecken. Dicht vor ihr standen mehrere Männer, die sich heftig gestikulierend unterhielten; Araber, Afrikaner, dazwischen auch zwei Weiße. Einer von ihnen war unverkennbar Dr. Meyerwald, der andere trug einen Hut mit breiter Krempe und wandte ihr den Rücken zu.

»Was für eine Negerschlamperei!«, rief Meyerwald. »Ich wollte gerade draußen mein Wasser abschlagen, das hätte übel ausgehen können …«

Der Unbekannte lachte und drehte dabei den Kopf zur Seite. Sein Blick fiel auf Charlotte. Abrupt hörte er auf zu lachen und starrte sie an, dann legte er Meyerwald mit einer langsamen Bewegung die Hand auf die Schulter, schob ihn mit dieser freundschaftlichen Geste beiseite und ging auf Charlotte zu.

»Frau Ohlsen! Was für ein unerwartetes Wiedersehen.«

Sie hatte keine Ahnung, wer dieser bärtige Mensch war, der sie anstrahlte und ihre Hand so fest drückte, dass sie fast aufgeschrien hätte.

»Erinnern Sie sich denn nicht?«, rief er. »Wir waren Reisegefährten auf der Bundesrath. Ich besaß die Frechheit, ihre Schwester vom Dampfer herunter ins Boot zu tragen …«

»Natürlich … Wie dumm von mir. Es muss an diesem Bart liegen, dass ich Sie nicht sofort erkannt habe. Herr von … von … Nun, jedenfalls kamen Sie aus Brandenburg.«

»Max von Roden. Zu Ihren Diensten, gnädige Frau.«

Er schien enttäuscht zu sein, dass sie seinen Namen vergessen hatte, deutete aber eine Verbeugung an und strich sich dann mit der Hand über den kurzen, blonden Bewuchs an Kinn und Wangen.

»Sie waren es wohl, der die Löwin von meinem Zelt vertrieben hat«, fuhr sie eifrig fort, um ihre Unhöflichkeit wiedergutzumachen. »Ich muss mich bei Ihnen bedanken, Herr von Roden. Was für ein Glück, dass Sie zufällig ins Lager kamen …«

Sie erkannte sein Lächeln wieder. Unbefangen und voller Selbstvertrauen, ohne aufdringlich zu wirken, dieses Mal war auch ein wenig Stolz dabei. »Nun – ganz so zufällig bin ich nicht hier«, gestand er. »Gestern erzählte mir einer meiner Botengänger, er habe in Masinde eine Karawane gesehen, mit der einige Europäer reisten. Da bin ich noch in der Nacht losgeritten …«

Richtig, er war ein Mensch der raschen Entschlüsse, das hatte er schon damals bewiesen, als er Klara ganz einfach ins Boot getragen hatte. Weshalb er allerdings mitten in der Nacht aufgebrochen war, nur um einige Europäer zu begrüßen, konnte sie nicht so recht begreifen.

»Die Karawanen halten sich in Moshi meist mehrere Tage auf, um mit den Dschagga Verhandlungen aufzunehmen«, fuhr er lebhaft fort und sah sich nach Dr. Meyerwald um. »Ich würde mich unendlich freuen, Sie während dieser Zeit als meine Gäste empfangen zu dürfen. Meine Plantage ist nur etwa zehn Meilen von Moshi entfernt. Schlagen Sie es mir bitte nicht ab – ich habe so selten Gelegenheit, Landsleute zu begrüßen und Neuigkeiten auszutauschen. Zumal in deutscher Sprache …«

Charlotte zögerte. Das Angebot war verlockend, ein wenig Komfort, in einem richtigen Bett schlafen, eine Plantage sehen. Und doch gefiel ihr etwas daran nicht, vielleicht war es der Übereifer, mit der die Einladung ausgesprochen wurde, diese Art, jemanden mit seiner Gastfreundschaft förmlich zu überrumpeln. Unsicher schwieg sie, während Dr. Meyerwald schon begeistert zustimmte und dann davoneilte, um seinem Freund Dobner die frohe Nachricht zu verkünden.

»Machen Sie mir die Freude, Frau Ohlsen?«, fragte von Roden, der bei ihr stehen geblieben war. Seine Stimme klang jetzt anders als vorher, leiser, auch wärmer. Wieso war ihr damals nicht aufgefallen, dass er hellblaue, ungemein klar blickende Augen hatte? Sie war fast froh, dass Christian in diesem Augenblick zwischen den Zelten auftauchte, die kurze Flinte über der Schulter, das zusammengeknüllte Laken vor sich hertragend.

»Die Löwin hat es in den Dornbüschen verloren!«, rief er ihr fröhlich zu. »Es sind ein paar Risse hineingekommen, aber die kann man flicken.«

Er begrüßte Max von Roden mit Zurückhaltung, und Charlotte erinnerte sich daran, dass er diesen Mann schon auf dem Postdampfer nicht besonders gemocht hatte. Auch die Einladung gefiel ihm nicht. Doch Charlotte, die daran dachte, dass er immer noch fieberte und auf der Plantage ein wenig Erholung finden würde, überredete ihn, mitzukommen.

Nach einem kurzen Frühstück brachen sie auf. Max von Roden wurde von drei Afrikanern begleitet, die jetzt jedoch ebenso wie ihr bwana zu Fuß gingen, da die vier Maultiere den Gästen als Reittiere dienten.

»Das Pflanzerleben ist doch eine einsame Geschichte«, meinte Dr. Meyerwald. »Tagein, tagaus nur unter Negern und Kaffeebäumen! Das wäre schon fast ein Grund, sich eine Frau zu suchen …«

Niemand hörte ihm zu, alle beobachteten fasziniert den Sonnenaufgang. Tiefrotes Licht floss über die graue Savanne, ließ eine einzelne Schirmakazie zu einem schwarzen Schattenriss werden und färbte die Morgennebel für kurze Zeit zart orange. Die Nebel, hinter denen der Berg verborgen lag.

Himmel über dem Kilimandscharo
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