März 1896

Akazie-Klein.epsGleißend spielte die Sonne auf den Meereswellen, ließ sie hellblau und türkis aufleuchten und bestreute sie mit blitzenden Fünkchen. Charlotte beschattete die Augen mit beiden Händen, um sich vor den glitzernden Lichtreflexen zu schützen, dennoch vermochte sie den Blick nicht abzuwenden. Seit sie in Hamburg in See gestochen waren, nahm sie jede Möglichkeit wahr, auf dem Vorderdeck des Dampfers zu stehen, aufs Meer hinauszuschauen, zu spüren, wie der Wind an ihrer Kleidung riss, und den Atem des Meeres in sich aufzunehmen, der ihr so seltsam vertraut war.

»Heute haben wir’s gemütlich«, sagte eine Männerstimme neben ihr. »Nicht so wie letzte Woche, als der Sturm Sie fast weggepustet hat, junge Frau!«

Es war einer der Heizer, ein kräftiger, junger Bursche aus Bremen, der ebenso wie seine Kameraden hin und wieder auf dem Vorderdeck auftauchte, um sich von der schweißtreibenden Arbeit zu erholen. Er hatte zugesehen, wie die Matrosen Charlotte während eines Sturms im Atlantik energisch unter Deck schicken mussten, hatte sie doch ernsthaft vorgehabt, sich an die Reling zu klammern und das grandiose Naturschauspiel dort draußen zu beobachten.

»Der hätte mich ganz sicher nicht weggepustet«, versetzte sie schmunzelnd. »Ich habe gute Seebeine.«

»Auf jeden Fall war’s besser so!«, versetzte der Heizer gleichmütig. »Die Brecher schlugen verdammt hoch.«

Sie hatte keine Angst. Auch wenn das Meer stürmisch war und seine grauen Wogen das Schiff auf- und niederwarfen, hatte sie keine Sekunde gefürchtet, das nasse Element könne sie verschlingen. Stattdessen hatte sie fasziniert das zornige Pulsieren der Tiefe gespürt, das die Wogen emporwachsen ließ und sie über den Ozean jagte, und sie hatte begriffen, dass dort unten auf dem Grund des Wassers das Herz des Meeres schlug.

»Wo sind wir jetzt?«

Er hatte die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen und schützte sie jetzt zusätzlich mit der Hand, während er nach Süden spähte. Gestern hatten sie die Straße von Gibraltar passiert und Tarifa gesehen mit der vorgelagerten Insel Las Palomas – helles Felsgestein, die Umrisse des weißen Leuchtturms von kobaltblauem Wasser umgeben. Dann hatte die Abendsonne alles rötlich gefärbt, und das Land in der Ferne schien zu brennen. Von der afrikanischen Küste, nach der sie sich voller Sehnsucht die Augen ausschaute, war nur ein dunkler, unregelmäßiger Streif zu erkennen gewesen, von Nebeln halb verborgen, die später zu rostrotem Dunst wurden.

»Da drüben liegt Marokko«, murmelte der Mann. »Ist zu weit weg, um es sehen zu können. Die nächsten Tage sind wir auf offener See, da stoßen wir höchstens auf ein paar Inseln. Aber in Neapel liegen wir ein paar Tage fest, laden Kohle und Proviant und nehmen auch die Post an Bord. Dort sollten Sie an Land gehen und sich umschauen.«

Neapel! Sie hatte so viel darüber gelesen, über die fruchtbaren Hänge, auf denen Oliven und Weinstöcke wuchsen, den grandiosen, feuerspeienden Vesuv, das stahlblaue Meer, das in den Buchten weiße Felsen umspülte. Vielleicht würden sie einen kleinen Rundgang am Hafen machen, mehr konnte Klara nicht schaffen. Um einen Wagen zu mieten und Stadt und Umgebung zu erkunden, brauchte man Geld.

»Nun sehen Sie sich den Burschen an! Er folgt uns schon seit Tagen, hat wohl einen Narren an uns gefressen!«

Blinzelnd schaute sie in Richtung seines ausgestreckten Arms nach oben, wo man die großen Hebekräne des Schiffes sah, vom Rauch des Schornsteins umweht. Hoch über ihnen am blauen Himmel sah man den Umriss eines großen Seevogels, der mit ausgebreiteten Schwingen scheinbar reglos über ihnen stand. In Landnähe hatten sich hin und wieder ein paar Möwen zu ihm gesellt – lästige Gesellen, die ihn feindselig umkreisten, seinen ruhigen Flug stören wollten. Doch er hatte die frechen Plagegeister ignoriert und seinen Weg unbeirrt fortgesetzt, als gäbe es zwischen ihm, dem freien Herrn der Lüfte, und dem rauchenden, stampfenden Schiff tief unter ihm eine geheime Verbindung.

»Na, dann will ich mal wieder«, sagte der Heizer und ließ die Reling los. »Passen Sie auf, dass Sie nicht über Bord fallen, junge Frau. Wäre schade um Sie.«

Sie lachte und band sich das Tuch fester, mit dem sie ihr Haar vor dem Wind schützte.

»Alles Gute. Sorgen Sie dafür, dass wir vorankommen.«

»Das tun wir wohl!«

Er bewegte sich breitbeinig über das Deck, wo einige Passagiere der dritten Klasse auf den Schiffsplanken saßen, um sich zu sonnen. Unten im Heizraum musste es die pure Hölle sein, das hatte er so zwar nicht gesagt, aber Charlotte hatte es seinen wenigen Andeutungen entnommen. Pausenlos wurde das rot glühende Drachenmaul der Maschine gefüttert, die Männer arbeiteten in Schichten, schaufelten die Kohle in stickiger Luft und brennender Hitze bis zur Erschöpfung.

Sie hatte das ständige Schlagen und Stampfen der Maschine, das selbst nachts nicht aufhörte, zuerst als beängstigend empfunden, denn die Passagiere der dritten Klasse waren unter dem Vorderdeck untergebracht, nicht weit vom Maschinenraum entfernt. Doch inzwischen hatte sie sich entschlossen, diese gewaltige, beharrlich arbeitende Kraft als ihre Verbündete zu sehen. Anders als ein Segelschiff, das die Meereswinde nutzen musste, zog der Dampfer schnurgerade seine Bahn durch die Wellen, steuerte ohne Umwege sein Ziel an und brauchte keine Flauten zu fürchten. Dieses lärmende, feurige Höllenwerk im Bauch des Schiffes trug sie ihrem Ziel entgegen – es war eine gute, eine verlässliche Kraft.

Sie nahm noch einmal den Anblick des blitzenden, kobaltblauen Meeres in sich auf, sog tief die kühle Meeresbrise in ihre Lungen, dann stieß sie sich seufzend von der Reling ab und wandte sich der von einem Holzgeländer umrandeten Luke zu, durch die man hinunter ins Zwischendeck stieg. Sie musste nach Klara und Christian sehen, die beide trotz des schönen, sonnigen Wetters bisher nicht auf Deck erschienen waren.

Die wiedererwachte Zuneigung zu ihrem Mann, ihre Rührung über seine Versuche, über sich selbst hinauszuwachsen und Geld für die Reise zu verdienen, hatten nicht lange angehalten. Schon bald nach ihrer Ankunft in Hamburg, als ihr Onkel Gerhard sie in seine enge Zweizimmerwohnung führte, waren heftige Streitigkeiten ausgebrochen. Christian war zornig geworden, als er den Schmuck sah, nahm ihr übel, dass sie ihm diesen Schatz verheimlicht hatte. Noch schlimmer wurde es, als sie darauf bestand, die Schmuckstücke allein und ohne seine Begleitung zu verkaufen, denn er war davon überzeugt, dass sie in ihrer Unerfahrenheit betrogen wurde. Den Erlös, den sie schließlich nach vielen misslungenen Versuchen und beharrlichem Feilschen erzielte, bezeichnete er als lächerlich, sie habe nur einen Bruchteil des wirklichen Wertes erhalten und sich kräftig übers Ohr hauen lassen. Wäre nicht Klara bei ihnen gewesen, die immer wieder besänftigte und vermittelte, dann hätte Charlotte ihre Zunge nicht länger im Zaum halten können und Dinge gesagt, die ihr später leidgetan hätten. Auch Gerhard, der sich rührend um sie kümmerte, fand keine Gnade vor Christians Augen. Was dieser Mensch wohl treibe? Wie er in solch einer verkommenen Bleibe in Hafennähe überhaupt leben könne? Mit all diesem merkwürdigen Zeug in der Wohnung.

Charlotte hatte bisher keine Ahnung gehabt, womit ihr Onkel seinen Lebensunterhalt verdiente, und sie zweifelte daran, dass überhaupt jemand in der Familie Genaueres darüber wusste, auch die Großeltern hatten stets nur vage Andeutungen gemacht. Onkel Gerhard war Musiker, es gab einige Geigen und eine Laute in seiner Wohnung, aber auch eine Trompete, mehrere Flöten und eine Trommel. Dazu hingen überall seltsam bunte Gewänder herum, lange Seidenstrümpfe, Schuhe aus glänzendem Leder und allerlei Flitterkram, der an Theater oder Zirkus denken ließ. Christian behauptete abschätzig, Gerhard sei ein Vagabund und Straßensänger, vielleicht auch einer dieser geschminkten Artisten, die in kleinen Theatern oder Varietés auftraten, zusammen mit Tänzerinnen, zahmen Löwen oder dressierten Pudeln.

Vielleicht hatte er sogar recht, denn während der wenigen Tage, die sie dort wohnten, packte Gerhard jeden Nachmittag allerlei Kleider und Instrumente ein, um damit zu verschwinden, und meist kam er erst spät in der Nacht zurück.

Dennoch war er ein gütiger Mensch, ohne seine Hilfe hätten sie diese Reise niemals antreten können. Er hatte drei Fahrkarten für den Reichspostdampfer Bundesrath für sie vorbestellt und angezahlt, versorgte sie mit Lebensmitteln und teilte seine enge Bleibe mit ihnen. Er wollte auch die Anzahlung nicht zurückhaben, schließlich habe ihm Charlotte das Klavier geschenkt. Sie versprach ihm, die Schulden abzuzahlen, sobald sie in ihrer neuen Heimat Fuß gefasst hatten. Die übrig gebliebene Summe war nicht groß, aber sie musste reichen, um sich damit eine bescheidene Existenz aufzubauen.

Noch während sie die Treppe hinabstieg, vernahm sie Christians Stimme – er schien sich angeregt mit einigen Mitreisenden zu unterhalten.

»Mkwawa – nie gehört. Wer soll das sein? Ein Neger?«

Ein leises, höhnisches Lachen war zu hören.

»Sie sollten diese Kerle nicht unterschätzen. Mkwawa und seine Leute haben vor einigen Jahren über dreihundert Askari samt den deutschen Offizieren niedergemacht. In zehn Minuten waren sie alle hin. Auch der deutsche Befehlshaber – Zelewski hieß er, die arme Sau.«

»Großer Gott! Und hat man diesen Mkwawa inzwischen gefasst?«

»Der treibt dort immer noch sein Unwesen. Mich brächten jedenfalls keine zehn Pferde nach Deutsch-Ost.«

Das Gespräch erstarb, als sie unten angekommen war. Die beiden Männer, mit denen Christian am Tisch saß, waren sehr jung, vermutlich erst knapp über zwanzig, doch in ihren Gesichtern lag jener unwägbare Ausdruck eines Menschen, der gelernt hatte, sich auf jede erdenkliche Weise durchzuschlagen. Angeblich wollten sie bis ins portugiesische Mosambik fahren und von dort aus weiter nach Südafrika gelangen, wo einer der beiden einen Onkel hatte. Sie starrten Charlotte mit unverhohlener Begierde an. Es gab nicht viele Frauen an Bord; in der dritten Klasse fuhr außer ihr und Klara nur noch ein einziger weiblicher Passagier mit, eine nicht mehr ganz junge Person, die einen sehr offenen Umgang mit den männlichen Mitreisenden pflegte.

»Weshalb gehst du nicht hinauf an Deck?«, fragte sie Christian. »Die Sonne und die frische Brise werden dir guttun.«

»Ich kann das verdammte Wasser nicht mehr sehen.«

Die drei Männer lachten und schienen das für einen guten Witz zu halten. Der tatsächliche Grund war wohl ein anderer: Christian litt darunter, dass den Passagieren der dritten Klasse nur das Vorderdeck zur Verfügung stand, wo auch Heizer und Matrosen herumliefen, während das Oberdeck den Reisenden der ersten und zweiten Klasse vorbehalten war. Diese schönen, weiß gestrichenen Aufbauten mit den hübschen Fenstern und den überdachten Seitendecks erhoben sich wie eine Festung über dem Vorderdeck, doch es war ihnen nicht einmal gestattet, die Treppen hinaufzusteigen, um sich dort umzusehen. Die hell gekleideten Herren und wenigen Damen, die dort oben promenierten, wünschten nicht, mit den Passagieren der dritten Klasse in Berührung zu kommen.

»Dann werde ich halt mit Klara hinaufgehen.«

Er gab keine Antwort, vermutlich hatte er wenig Lust, der Schwägerin die Treppe hinaufzuhelfen und sie auf dem schwankenden Deck zu stützen. Diese Fürsorge überließ er gern Charlotte. Immerhin ging es ihm jetzt, da die See ruhiger war, beträchtlich besser. Die Euphorie der ersten Reisetage, als er heilfroh war, nicht kurz vor der Abfahrt in Hamburg noch aufgespürt und arretiert worden zu sein, hatte ziemlich bald tiefster Verzweiflung Platz machen müssen. Im Gegensatz zu Charlotte und Klara litt Christian unter der Seekrankheit, sobald das Meer unruhig wurde, lag er sterbenskrank in seiner Koje und erbrach sich. Charlotte hatte sich liebevoll um ihn gekümmert, was bei heftigem Seegang nicht einfach war. Nur der Tisch war am Boden festgeschraubt, Stühle, Gefäße und andere Gegenstände rutschten gefährlich rasch von einer Seite des Zwischendecks auf die andere, und die Männer in den oberen Kojen mussten aufpassen, nicht herausgeschleudert zu werden.

Man hatte den hinteren Teil des Zwischendecks mit einer beweglichen Holzwand abgeteilt, dort befanden sich die Schlafkojen der Frauen. Der Frauenbereich war so eng, dass noch nicht einmal ein Tisch hineingepasst hätte. Auch hier gab es Stockbetten, aus hartem Holz gefertigt und ohne Matratze, dafür waren jedem Reisenden zwei Decken zur Verfügung gestellt worden. Klara und Charlotte teilten sich eine Schlafkoje, die andere war von ihrer Mitreisenden besetzt, die im oberen Bett ihre Kleider ausgebreitet hatte. Sarah William besaß zahlreiche Kleidungsstücke, die sie immer anders miteinander kombinierte, zudem eine Auswahl von auffälligen Hüten, die in Farbe und Form niemals zu ihren Kleidern passen wollten. Sie zeigte sich gern in immer neuen Aufmachungen an Deck, was Charlotte und Klara etwas verwunderte, denn Sarah war zu ihrem Verlobten, der bei einer Hamburger Land- und Plantagengesellschaft tätig war, nach Daressalam unterwegs. Von diesem seltsamen Gebaren abgesehen, hatte sich Sarah jedoch als hilfsbereite und tatkräftige Person erwiesen, besonders die schüchterne Klara hatte es ihr angetan. Sarah hatte sich von ihr porträtieren lassen und war über das Ergebnis so begeistert, dass sie Klara Geld für das Bild bot. Zu Charlottes Ärger lehnte Klara jedoch ab und schenkte ihr das Porträt. Sarah bedankte sich, indem sie Klara einen ihrer Hüte verehrte.

Charlotte fand Klara auf dem Rand ihrer Koje sitzend, wo sie im trüben Licht des winzigen Bullauges eine von Christians Jacken flickte.

»Du wirst dir noch die Augen verderben! Hinauf mit dir an die Sonne!«

Es brauchte ein wenig Überredungskunst, da Klara sich scheute, an Deck zu steigen. Dabei hatte Charlotte ihr immer wieder erklärt, dass man ihre Behinderung dort oben kaum bemerken würde; sie sei nicht die Einzige, die bei dem ständigen Schwanken des Schiffes unsicher daherging.

»Ich bin dir eine ziemliche Last, nicht wahr? Vielleicht hätte ich besser in Leer bleiben sollen …«

»Ohne dich wäre ich niemals fortgereist, Klara. Wir beide gehören zusammen, das weißt du.«

Klara lächelte schwach. Ja, sie beide gehörten zusammen, seit vielen Jahren war das nie anders gewesen. Doch im Gegensatz zu Charlotte, die voller Begeisterung in all das Neue eintauchte, das sie täglich erfuhren, sehnte sich Klara zurück nach dem Haus der Großeltern, der engen Schlafkammer, dem kleinen Garten und all jenen Dingen, die ihr bisher ein sicheres Refugium gewesen waren. Was sollte aus ihr werden in dem fremden Land, wenn sie noch nicht einmal allein eine Treppe hinaufsteigen konnte?

»Nun komm schon. Es ist kaum Seegang, es wird dir leichtfallen.«

Charlotte nahm eine der Decken über den Arm und hakte Klara unter, während sie durch den Männerbereich zur Treppe gingen. Wieso stellte sie sich so an? Klaras ungleichmäßiger Gang war kaum zu bemerken, erst auf der Treppe begann sie zu stolpern, und oben an Deck musste Charlotte sie gut festhalten, da sie bedenklich ins Schwanken geriet.

»Mein Gott, was für ein Licht!«, flüsterte Klara und schloss die Augen. »Es ist unfassbar hell, man ist ganz geblendet davon.«

»Warte nur, bis wir in Neapel sind, dann wirst du Farben sehen, noch schöner als an der spanischen und portugiesischen Küste. Und in Afrika erst …«, schwärmte Charlotte. Bei sich dachte sie: Wenn ich erst einmal weiß, wovon wir leben, werde ich ihr Wasserfarben kaufen, das wird sie glücklich machen …«

Die wenigen Liegestühle waren alle besetzt, aber Klara hätte eine so wacklige Sitzgelegenheit sowieso nicht benutzen können. Charlotte suchte eine windgeschützte Ecke, breitete die Decke auf den Deckplanken aus und half ihrer Cousine, sich darauf niederzulassen. Nicht weit von ihnen hatte sich auch Sarah gelagert, umringt von einigen Mitreisenden. Es ging lebhaft zu, eine Flasche kreiste, und Sarahs Lachen wurde immer häufiger von hellen Kieksern unterbrochen. Matrosen, die auf Deck zu tun hatten, riefen ihr im Vorüberlaufen ein paar Worte zu, doch sie mussten sich vorsehen: Der Maat hatte ein wachsames Auge auf sie. Charlotte war froh, dass die Schiffsmaschine so laut dröhnte, dass sie die Sätze nicht verstehen konnte.

Als Christian endlich an Deck erschien, hatte sich der Himmel bereits wieder bezogen; ein frischer Wind wühlte das Meer auf, das nun plötzlich grau und feindselig erschien. Weißliche Gischtschleier spritzten seitlich des Schiffes empor, noch waren sie harmlos und hübsch anzusehen, ganz anders als in der Nordsee. Da schlugen sie mit gefährlicher Wucht über das Deck, und das Seewasser lief sogar die Treppe hinunter ins Zwischendeck. Missmutig setzte sich Christian neben Charlotte auf die Decke, die unruhiger werdenden Schiffsbewegungen bekamen ihm schlecht, und seine Stimmung war düster.

»Schau ihn dir an, den hochwohlgeborenen Herrn dort oben«, lästerte er und deutete ungeniert mit dem Finger zum Oberdeck hinauf. »Seit Tagen steht er am Geländer und glotzt zu uns herunter, als wären wir eine Horde Affen im Tierpark.«

Auch Charlotte hatte diesen Mann schon öfter bemerkt. Er trug einen hellen Tropenanzug wie viele Passagiere, die in der ersten und zweiten Klasse reisten, doch er ging immer ohne Hut. Sein Gesicht war von der Sonne gebräunt, und er trug einen kleinen Oberlippenbart, sein welliges, blondes Haar flatterte im Wind. Seltsam an ihm war nur, dass er immer allein dort oben stand, vermutlich war er ein Mensch, der sich nicht so rasch an andere Mitreisende anschloss.

»Wie kommst du darauf, dass er uns beobachtet? Er sieht aufs Meer hinaus, das ist alles.«

Christian hatte ihren Einwand gar nicht vernommen, er war viel zu sehr damit beschäftigt, seinem Ärger über die Zurücksetzung Luft zu machen.

»Eine Kabine mit Waschbecken und Fenster, Raucherzimmer, Speisesaal, Salon mit Sofas und Polstersesseln. Was für ein Luxus! Etliche von ihnen schleppen ganze Waffensammlungen mit sich herum, auf Löwenjagd wollen sie gehen, Elefanten und Nashörner schießen. Eingebildete Nichtstuer! Sogar ihre Bediensteten haben Kabinen in der zweiten Klasse.«

Charlotte ließ ihn reden. Auch sie hatte die reiche Ausstattung der ersten Klasse in den Prospekten bewundert, doch sie vermisste den Luxus nicht. Jahrelang hatte sie sich eine winzige Schlafkammer mit Klara, Ettje und Tante Fanny geteilt, sie war an Einschränkungen gewöhnt.

»Noch ein paar Wochen, dann wird alles anders werden!«

Die Wellen schienen das Schiff jetzt von allen Seiten anzugreifen, es schlingerte bedenklich, man hörte die Maschine ächzen und stampfen. Christian wurde aschfahl im Gesicht.

»Großartig wird es werden«, versetzte er zynisch. »Wenn wir jemals in Daressalam ankommen, werden die deutschen Behörden mich einsperren und zurück ins Reich expedieren. So wird es ausgehen!«

»Weshalb sollten sie das tun? Niemand dort weiß etwas von deinen Schulden. Und außerdem müssten sie dann ja die Kosten für deine Heimreise übernehmen!«

Er machte eine abschätzige Handbewegung und erhob sich schwerfällig, um so rasch wie möglich wieder hinunter in seine Koje zu gelangen. Auch Klara wollte nun doch lieber wieder nach unten, sie fröstelte, und dann musste sie ja doch Christians Jacke flicken …

»Ich tauge nun einmal nicht für eine Seereise, Charlotte. Besser du lässt mich unten, dann musst du dir nicht immer solche Mühe machen …«

»Das macht mir keine Mühe!«, widersprach Charlotte ärgerlich und machte Anstalten, Klara auf die Füße zu helfen.

Sorgte sie nicht ständig für die beiden? Versuchte sie nicht ihr Möglichstes, um sie aufzuheitern, ihnen Mut zu machen? Meine Güte, sie tat alles, was in ihrer Macht stand, um Klara und Christian in ein neues, freies, glückliches Leben zu führen, aber anstatt dass sie ihr dafür dankbar waren, machten sie ihr mit ihrem unablässigen Genörgel zu schaffen.

Himmel über dem Kilimandscharo
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