»Wie kannst du so grausam sein, Charlotte?«, fragte Klara in sanftem Ton. »Er hat bereut und seine Sünden vor den Herrn getragen. Christi Blut hat auch deinen Mann erlöst, Gott hat ihm vergeben.«

Es war Juni, und die Trockenperiode hatte eingesetzt, ein kühler Südostwind wehte über die Küste, beugte die hoch aufgesprossenen Gräser und trug den Duft der blühenden Akazien und Tamarindenbäume über die Stadt.

»Ich kann ihm nicht vergeben!«

Christian hatte wochenlang wie ein Fremder in der Wohnung gelebt. Charlotte sprach kein Wort mit ihm, sah durch ihn hindurch, als wäre er nicht vorhanden, seine verzweifelten Bitten und Selbstbeschuldigungen ließen sie gleichgültig. Tagsüber ging sie schweigend an ihm vorüber, kümmerte sich um ihr Geschäft, sorgte für Klara und Schammi, in der Nacht schlief sie bei ihrer Cousine. Christian hatte tagelang vor sich hin gebrütet, dann versuchte er eine Weile, sich im Laden nützlich zu machen, übernahm Botengänge, die eigentlich Schammis Aufgabe waren, versuchte sogar, die Wäsche zu waschen. Es war alles umsonst – der Stachel saß zu tief. Niemals hätte Charlotte es für möglich gehalten, dass ihr Mann sie mit einer anderen betrog. Dass er Freude daran haben konnte, mit einer Hure – denn was waren diese schwarzen Frauen anderes? – das Lager zu teilen. Jetzt war es ihr wie Schuppen von den Augen gefallen: die vielen Nächte, die er früher angeblich wegen seiner Geschäfte in Hamburg oder Bremen verbracht hatte. Sein langes Ausbleiben, damals, als das Geschäft in Konkurs ging – oh, er hatte sie schon immer abscheulich belogen und hintergangen. Sie hatte ein Scheusal geheiratet; es schauderte sie, ihn auch nur anzusehen, hätte er sie auch nur mit dem kleinen Finger gestreift, sie hätte vor Abscheu laut aufgeschrien.

»Ich will die Scheidung.«

Er hatte ihr keine Antwort gegeben, sondern sich nur bleich und schweigend vor ihr zurückgezogen. Es war Klara, die sich – selbst kaum von ihrem Fieber genesen – rührend um Christian bemühte, lange Gespräche mit ihm führte und ihn am Sonntag mit in die Missionsstation nahm. Christian war niemals wirklich fromm gewesen, doch jetzt, in seiner Verzweiflung, suchte er Halt in der protestantischen Lehre. Pfarrer Peter Siegel lud ihn ein, sein Herz zu erleichtern, redete ihm ins Gewissen, forderte eine Abkehr von der Sünde, und als Christian dieses aus tiefstem Herzen gelobte, erklärte der Missionar ihm, dass Gott der Herr den reuigen Sünder auf den rechten Weg geleite. Er müsse Geduld zeigen und den Beweis erbringen, dass es ihm Ernst sei, dann würde auch seine Frau ihm verzeihen.

Um Charlotte von der Ernsthaftigkeit seiner Umkehr zu überzeugen, siedelte Christian im April in die Missionsstation über, half beim Ausbau der Gebäude, der Bestellung des Gartens und – wie Klara voller Begeisterung berichtete – unterrichtete auch die Missionsschüler, brachte ihnen das Rechnen und die deutsche Sprache bei.

Klara besuchte Christian häufig, schilderte Charlotte seinen Eifer, lobte seine Geduld, seine liebevolle Art, mit den schwarzen Kindern und auch mit den erwachsenen Schülern umzugehen. Er habe all die Unrast und die schlechten Gewohnheiten früherer Tage abgelegt, sei ein neuer Mensch geworden. Klara kehrte von ihren Besuchen stets mit glücklich leuchtenden Augen zurück und vergaß niemals, Charlotte daran zu erinnern, dass sie ihrem Mann vor Gottes Altar Treue in guten und in schlechten Zeiten gelobt habe.

»Weshalb erzählst du mir das? War ich es vielleicht, die die Treue gebrochen hat?«

»Eine Frau muss verzeihen können, Charlotte. Es war nicht recht von dir, diesen schrecklichen Brief zu schreiben.«

Charlotte hatte Christian schriftlich aufgefordert, einer Scheidung zuzustimmen, und ihre Gründe dafür angeführt. Klara hatte ihr seine Antwort überbracht. Er halte die Ehe, die er vor Gott geschlossen habe, für unauflöslich, niemals sei er freiwillig dazu bereit, sich von seiner Frau zu trennen.

»Ich habe ihm schon viel zu oft verziehen!«

»Bist du selbst niemals ohne Anfechtung gewesen?«

»Was soll diese Frage?«

Es waren schon zwei Briefe von George aus England eingetroffen, doch Charlotte hatte sie ungeöffnet in die Truhe geworfen. Sie wollte sich dieser Lektüre auf keinen Fall hingeben, denn sie kannte ihre tückische Wirkung. War sie einfältig gewesen, als sie sich Georges Zärtlichkeiten widersetzte? Nur einen einzigen Kuss hatte sie ihm gestattet, einen kleinen, viel zu kurzen Augenblick der Seligkeit gekostet. Weshalb hatte sie sich ihm nicht hingegeben? Für eine ganze Nacht, für viele Nächte, in denen sie sich hätten treffen können, heimlich, unter irgendwelchen Vorwänden. Hatte es Christian nicht ähnlich gemacht? Das Glück ergreifen, wenn es vorüberging. Vielleicht kam es nie wieder, ein ganzes Leben nicht mehr.

Nein, dachte sie dann. Ich will mir keine Seligkeit auf Kosten eines anderen Menschen erkaufen. Auch wenn George keine Skrupel hat, seine Frau zu betrügen, ich würde Marie niemals ein solches Leid zufügen.

Weshalb hatte ihr niemand davon erzählt, dass Männer ihre Frauen betrogen? Es schien die normalste Sache der Welt zu sein: Jeder tat es, George, Christian, die deutschen Offiziere und Beamten, die daheim Ehefrauen und Kinder hatten. Ob es auch der Großvater in Leer mit der ehelichen Treue nicht so genau genommen hatte? Und ihr Vater, der oft monatelang auf großer Fahrt gewesen war?

Sie wollte es nicht wissen. Eine tiefe, dunkle Spalte hatte sich vor ihr aufgetan, die Welt war nicht mehr dieselbe, die sie vorher gewesen war. Wo waren ihre Sehnsüchte? Die schönen Träume, die sie als junges Mädchen emporgetragen und beglückt hatten?

Als Kamal Singh Anfang Juni begann, die Träger für die Karawane anzumieten, ging sie zu ihm hinüber, und zum ersten Mal seit Beginn ihrer Bekanntschaft sah sie den Inder fassungslos.

»Das ist unmöglich.«

»Ich bin fest entschlossen.«

Er legte beide Hände an die Schläfen, als wolle er sich die Haare raufen.

»Sie werden sterben, Charlotte!«, rief er. »Es gibt kriegerische Stämme, die den schwarzen Trägern die Weiber rauben. Wissen Sie, was einer weißen Frau geschehen kann, die bei den Dschagga oder den Massai in Gefangenschaft gerät?«

»Ich weiß, dass Sie bewaffnete Männer anmieten, um die Karawane zu schützen.«

»Es ist purer Wahnsinn!«

Sie ließ sich nicht beirren. Es wurde ausgemacht, dass er zwei seiner jungen Leute abstellte, um Klara beim Führen des Ladens zu helfen, dafür erhielt er einen Teil der Einkünfte. Ende Juni würde er alle Träger angemietet haben, dazu die Karawanenführer, die Begleiter, den Koch, die boys, einen Übersetzer und alle anderen, die vonnöten waren.

Charlotte wollte mit der Karawane gen Westen reisen. Sie würde den Kilimandscharo sehen, jenen majestätischen, nebelumwölkten Berg, der schon immer das Ziel ihrer Sehnsucht gewesen war. Danach würde sie entscheiden, wie ihr Leben weitergehen sollte.

Himmel über dem Kilimandscharo
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