Der Schmerz hatte sie ausgehöhlt, ihr alle Kraft genommen und pulsierte jetzt wie ein giftiger, heißer Strom durch ihre Adern. Immer wieder schien eine mächtige Hand sie zu packen und durchzurütteln; sie spürte, wie ihre Zähne aufeinanderschlugen, und verkrampfte die Finger, wie um einen Halt zu finden. Doch der Schüttelfrost tat mit ihr, was er wollte; es war unmöglich, dagegen anzukämpfen.

War das der Tod? Sie war ihm nahe, konnte seine kalte Gegenwart spüren, doch seltsamerweise fürchtete sie sich nicht davor zu sterben. Es waren die Bilder, die ihr Angst machten. Die schwarzroten Maskengesichter, die sich vor ihrem Fieberblick seltsam verzerrten, in die Länge wuchsen, breite Mäuler öffneten, sie mit runden, hervorquellenden Augen anstarrten. Sie schienen mit dem peinigenden Schmerz verbunden zu sein, näherten sich ihr bedrohlich, wenn die Qual sich mehrte, wichen zurück, wenn sie ein wenig Erleichterung fand. Es half nichts, die Augen zu schließen, denn die Masken verschwanden nicht, stattdessen begannen sie zu tanzen, wandelten sich zu rotweißen Fabelwesen, bekamen Arme und Krallenfüße, und in ihren Mäulern wuchsen spitze Zähne. Sie bewegten sich in einem wilden Kreistanz immer dichter auf sie zu, berührten sie, schlugen nach ihr, rissen die Raubtiermäuler auf, und sie konnte sich nur vor ihnen retten, indem sie die Augen wieder öffnete. Ein vorübergleitender, belaubter Ast, ein Stück Himmel, ein brauner, sehniger Rücken, der sich vor ihr her bewegte – dies alles war flüchtig, und doch konnte sie sich für Sekunden daran festhalten und den Fiebergespenstern entkommen.

Auch die Geräusche halfen. Zuerst hatte sie nur ein Rauschen vernommen wie von einem großen Gewässer, doch es schien aus ihr selbst gekommen zu sein und legte sich allmählich. Sie hörte Stimmen, konnte jedoch keine Worte verstehen. Ein Schlagen und Zischen schien von einem Buschmesser herzurühren, Zweige knackten, Wasser gluckerte. Einmal spürte sie kühle Tropfen auf ihrer Haut wie einen kräftigen Regen, sie sah eine Hand, die ein Büschel nasser Blätter hielt und sie damit besprengte. Man flößte ihr Wasser ein, sie trank es durstig und erbrach es gleich wieder. Als sie danach die Augen schloss, zog ein kreisender Strudel sie tief hinab in dröhnende Finsternis.

Nur langsam trieb sie wieder an die Oberfläche des Bewusstseins, das Dröhnen wurde zu einem leisen Pfeifen, die Schmerzen kehrten zurück. Um sie herum war Dämmerlicht, aus dem sich glänzende schwarze Gestalten lösten, von Rauchschwaden umweht. Jetzt nahm sie auch den scharfen Geruch des Feuers wahr, und als sie zu husten begann, war es, als steche man ihr mit Messern in den Leib.

Ein schwarzes Gesicht beugte sich über sie, es war klein und mager, das Weiße der Augen von roten Äderchen durchzogen, die Pupillen glänzten. Über diesem Gesicht tauchte ein zweites, geflecktes auf. Der Kopf eines Leoparden.

Es war kein Fiebertraum, dieses Doppelwesen aus Mensch und Tier war Teil der Wirklichkeit. Vier Augen starrten sie an, zwei Hände betasteten ihren Bauch, aus dem menschlichen Mund kamen murmelnde Worte. Die Hände schienen in ihren Körper eindringen zu wollen, stießen auf ihr Mieder und wanderten über ihre Arme zu den Handgelenken. Jemand kreuzte ihr die Arme vor der Brust, hob ihren Kopf an und flößte ihr einen heißen Sud ein. Sie schluckte etwas von dem widerlich fauligen Gebräu, würgte und wollte sich erbrechen, doch man drückte sie zurück auf ihr Lager, und eine Hand verschloss ihren Mund. Eine Weile kämpfte sie, hustete, schluckte, rang nach Luft und war nahe daran zu ersticken, dann richtete man sie von Neuem auf und zwang sie, einen weiteren Schluck von der stinkenden Brühe zu nehmen. Die Quälerei wollte nicht aufhören, am Ende war ihr alles gleichgültig, sie trank den Sud bis auf den letzten Tropfen in der Hoffnung, dass man sie dann in Ruhe ließ. Seltsamerweise hatte ihr Magen die gleiche Entscheidung getroffen, denn er hörte auf zu rebellieren, sogar der Schmerz ließ nach, und als man endlich von ihr abließ, fiel sie in einen traumlosen Halbschlaf.

»Er will wissen, ob sie deine bibi ist.«

»Sag ihm, sie ist … die bibi eines Freundes.«

Charlotte vernahm die Sätze, konnte sie jedoch nicht recht zuordnen. Sie schwamm in einem sanften, warmen Fluss, trieb willenlos mit dem Strom dahin, und das Gefühl war so angenehm, dass sie auf keinen Fall wollte, dass es verging.

»Er fragt, wo dein Freund ist. Weshalb er nicht selbst kommt.«

»Sag ihm, dass mein Freund krank ist und ich deshalb an seiner Stelle komme.«

Der Strom wurde unruhig, und das schöne Gefühl des sachten Dahingleitens verebbte. Kleine Wellen schwappten über ihren Bauch, abgerissene Zweige trieben an ihr vorüber und stießen gegen ihren Körper. Es waren die vielen Stimmen, die ihre Ruhe gestört hatten, draußen redeten mehrere Leute durcheinander, ein unverständliches Palaver, von dem sie nur hin und wieder einen Satz verstand.

»Der Häuptling sagt, er will weiße bibi behalten, wenn sie nicht dir gehört.«

Plötzlich versiegte der sanfte Fluss, der sie getragen hatte, ließ sie im harten Uferkies zurück, und es dämmerte ihr, dass man möglicherweise über sie redete. Die Stimme kam ihr bekannt vor.

»Sag ihm, dass ihr Mann mein Gast und mein Bruder ist. Ich werde in allem so handeln, als sei sie meine eigene bibi!«

Das war von Roden, der da draußen verhandelte. Charlotte schlug die Augen auf und versuchte, im Dämmerlicht etwas zu erkennen. Wo war sie nur? Ihr Magen brannte, ihr Kopf schmerzte, und als sie sich jetzt aufsetzen wollte, wurde ihr so schwindelig, dass sie gleich wieder zurücksank.

»Der Häuptling will sie dir nicht geben, bwana.«

»Warum nicht? Was will er mit einer weißen bibi? Sind ihm die bibi der Dschagga nicht mehr gut genug? Sind sie faul oder hässlich? Bringen sie keine Söhne mehr auf die Welt?«

»Nicht zornig, bwana. Sonst sie uns töten.«

»Übersetze, was ich gesagt habe, verdammt!«

Wieder vernahm sie Worte in einer unbekannten Sprache, doch langsam begann sie zu begreifen. Der Sturz vom Maultier, das schreckliche Würgen, das Fieber, die Maskengeister … Sie befand sich in einer niedrigen, kreisrunden Hütte, dort glomm noch ein Feuer, dessen Rauch jetzt senkrecht zur Decke emporstieg und durch ein kleines Loch abzog. Eine Frau hockte in einiger Entfernung von ihr am Boden und wandte ihr den Rücken zu. Sie hatte die langen Bananenblätter, die vor dem Ausgang hingen, ein wenig zur Seite geschoben, um nach draußen zu spähen.

»Häuptling sagt, er ist mit seinen bibi zufrieden. Will weiße bibi dennoch behalten. Wenn dein Freund seine bibi zurückhaben will, er muss Preis bezahlen.«

»Aha!«, sagte von Roden auf Deutsch. »Daher weht der Wind!«

Charlotte unternahm einen zweiten Versuch, sich aufzusetzen, dieses Mal langsam und vorsichtig. Einen Augenblick lang drehte sich alles um sie, dann wurde es besser. Sie stützte sich mit den Händen ab und stellte fest, dass ihre Arme vor Schwäche zitterten. Nie zuvor hatte sie sich so hilflos gefühlt, sie konnte nicht einmal sitzen – wie sollte sie überhaupt von hier fortgelangen?

»Es ist nicht klug, solche Forderungen zu stellen«, hörte sie von Roden auf Suaheli mahnen. »Die deutschen Soldaten unten in Moshi werden kommen, um die weiße bibi zu befreien. Dann wird der Häuptling vielleicht all sein Land und viele Krieger verlieren …«

»Wir sind im Dschagga-Dorf, bwana. Viele Speere auf uns gerichtet!«

»Nun mach schon, Kapande!«

Das Palaver dehnte sich aus, und Charlotte ließ sich wieder zurücksinken, da ihre Arme ihr den Dienst versagten. Keuchend lag sie auf dem harten Boden und spürte, wie Panik in ihr aufstieg. Im gleichen Moment wurde ihr bewusst, dass ihre Kleider verschwunden waren. Man hatte sie ausgezogen, ihr nicht einmal ein Hemd gelassen, nur ein staubiger, roter Stofffetzen bedeckte ihren Körper.

»Der Häuptling will mit dir Preis verhandeln.«

»Ich zahle keinen Preis, verflucht! Ich fordere die weiße bibi zurück, die er entführt hat. Wo ist sie?«

Wieder hörte sie fremde Laute, dieses Mal kam die Antwort rascher. Vermutlich spielte der Übersetzer sein eigenes Spiel.

»Er sagt, sie viel Mühe mit ihr gehabt. Medizinmann war bei ihr. Bibi ist krank.«

»Ich will sie sehen!«

Unsinnigerweise erschrak sie über von Rodens energische Forderung – er durfte sie auf keinen Fall so sehen, vollkommen verdreckt, mit wirrem Haar und dazu nackt, nur mit einem knappen Tuch bedeckt …

Die langen Bananenblätter vor dem Hüttenausgang raschelten, und die Frau wich eilig zurück, als eine Hand den Blättervorhang beiseiteschob. Licht fiel in das Innere der Hütte und blendete Charlottes Augen, doch sie erkannte Max von Roden, der jetzt in gebückter Haltung eintrat.

Er schien ihre Blöße gar nicht wahrzunehmen, kniete neben ihr nieder und lächelte sie ermutigend an.

»Keine Angst, Frau Ohlsen. Ich hole Sie hier heraus.«

Sie versuchte, sein Lächeln zu erwidern, auch wenn es recht kläglich ausfiel.

»Haben Sie sich etwas gebrochen?«, fragte er und ließ nun doch den Blick über ihren Körper wandern.

»Ich glaube nicht … Es ist wohl eher ein Fieber … Wo ist mein Mann? Ist er etwa auch hier gefangen?«

»Zum Glück nicht. Er ist hinunter nach Moshi geritten, um nach Ihnen zu suchen.«

»Es tut mir schrecklich leid, dass ich Ihnen solche Mühe bereite …«

Er schüttelte den Kopf und legte ihr beruhigend die Hand auf die nackte Schulter. »Reden Sie keinen Unsinn. Es ist alles meine Schuld, ich hätte Sie begleiten müssen. Aber verlassen Sie sich darauf: In wenigen Stunden liegen Sie in einem gemütlichen Bett und erholen sich von dem Schrecken.«

»Ich kann doch gar nicht laufen …«

»Das soll unsere geringste Sorge sein«, entgegnete er aufmunternd, erhob sich und ging wieder hinaus.

Gleich darauf krochen zwei junge Frauen in die Hütte, brachten eine Kalebasse und einen ziemlich schmutzigen, ehemals roten Stoff und machten sich an ihr zu schaffen. Sie schwatzten auf sie ein, gaben ihr zu trinken und halfen ihr, sich aufzurichten. Charlotte war zu schwach, um sich zu wehren, sie ließ geschehen, dass man sie mit den Tüchern umwickelte und sie dann wieder auf den Boden setzte. Immer noch war ihr mulmig zumute, alles drehte sich, und das hohle Gefühl, der Vorbote des Fiebers, kündigte sich erneut an. Was trieben diese Frauen mit ihr? Sie trugen das Haar kurz geschoren, weshalb ihnen Charlottes lange Lockenpracht offenbar sehr merkwürdig erschien. Sie fassten mit den Händen hinein und lachten, dann lief eine davon, brachte einen Topf mit einer hellbraunen Pampe, und sie begannen, Charlottes Haar damit einzuschmieren und in Zöpfchen zu flechten. Charlotte wehrte sich nicht. Durstig trank sie das klare Bergwasser. Was für ein Teufelszeug mochten sie ihr eingeflößt haben, dass sich ihr Magen tatsächlich beruhigt hatte?

Draußen wurde lebhaft verhandelt, und es war kein schönes Gefühl zu wissen, dass sie die Ware war, um die gefeilscht wurde.

»Das kommt gar nicht in Frage!«, hörte sie von Roden wütend ausrufen.

»Der Häuptling will weiße bibi nicht hergeben, wenn du dich weigerst, bwana …«

O Gott! Was verlangten sie bloß von ihm? Geld? Geschenke? Waffen? Ja, gewiss. Sie würden Gewehre und Patronen haben wollen, die waren besser als ihre Speere. Sie würde von Roden den Schaden ersetzen müssen, wenn sie das überhaupt konnte. Aber das war alles gleich – wenn sie nur bald aus dieser verdammten, stinkenden Hütte herauskam …

Die beiden Frauen hatten bereits einen Teil ihres Haares geflochten, als man sich draußen endlich einig wurde. Der Blättervorhang wurde zurückgeschoben, und sie erblickte einen geschmückten Krieger, nicht allzu groß gewachsen, doch mit ansehnlichen Muskelsträngen an Armen und Beinen. War er der Häuptling? Er musterte sie und schien nicht ganz zufrieden mit ihrem Aussehen zu sein. Eine der Frauen musste ein besticktes Band opfern, das sie um ihren Kopf gebunden hatte, die andere legte Charlotte eine lange Kette um den Hals. Ganz sicher ein wertvoller Schmuck, denn der Kupferdraht war äußerst kunstvoll zu winzigen, ineinandergreifenden Gliedern geschlungen. Als die beiden Frauen sie jetzt aus der Hütte führten, beschlich sie das aberwitzige Gefühl, geschmückt wie eine Braut zu sein, und sie fragte sich, ob sie das alles womöglich doch nur phantasierte.

Von Roden erwartete sie mit unbeweglicher Miene, allein seine Mundwinkel zuckten leicht, als er einen kurzen Blick auf sie warf. Die beiden Frauen ließen Charlotte los, die augenblicklich zusammensackte. Rasch sprang von Roden herbei, um sie zu stützen.

»Sie können mich doch nicht den ganzen Weg über tragen …«

»Nur bis zu der Stelle, wo der Pfad breiter wird, dann werden wir reiten.«

Ihr Abgang wurde von triumphierenden Rufen und Jubellauten begleitet, so dass Charlotte sich beklommen fragte, was von Roden wohl für sie bezahlt haben mochte. Sie hatte die Arme um seinen Hals gelegt, um ihm die Last zu erleichtern, während er schnell den Pfad hinabeilte und ihr leise versicherte, sie brauche sich keine Sorgen zu machen, er werde sie schon nicht fallen lassen.

Sobald die Wegverhältnisse es zuließen, hob er sie vor sich auf sein Maultier und flüsterte ihr während des unbequemen Ritts immer wieder zu, dass sie schon bald auf der Plantage seien. Sie reagierte kaum; das Fieber war wieder angestiegen, und sein Arm, mit dem er sie fest um die Mitte hielt, schmerzte sie höllisch. Der Weg zurück zur Plantage erschien ihr wie eine Ewigkeit.

Himmel über dem Kilimandscharo
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