Juni 1899

Akazie-Klein.epsCharlotte ließ das Buch sinken und lehnte den Kopf zurück in das weiche Kissen. Es war angenehm, hier unter dem Vordach zu sitzen, die Augen zu schließen und den herb-süßen Duft der Kaffeeblüten einzuatmen. Woran erinnerte er sie nur? An Weißdorn? Schlehen? Jasmin? Vielleicht an alles zugleich, und doch war es ein ganz eigenständiges, ungemein zartes Aroma, das sich nur in warmen Nächten zu intensiver Süße verdichtete. Es war schade, dass die Kaffeeblüte bald vorüber sein würde, denn die Bäume erschienen aus der Ferne wie mit flauschigem Schnee bedeckt und erinnerten sie an ihre Kindheit. Sie dachte in letzter Zeit oft daran, und seltsamerweise stiegen Erinnerungen in ihr auf, die lange verschüttet gewesen waren. Ein Spaziergang bei Schneetreiben am Fluss entlang, die braunen Stiefel, die wegen der dicken Wollsocken so schrecklich eng waren, der taubenblaue Mantel ihrer Mutter, auf den die dicken, feuchten Schneeflocken weiße Tupfer setzten. Mama hielt Jonnys emporgestreckte Hände, damit er durch den Schnee marschieren konnte, er musste damals noch sehr klein gewesen sein …

Es lag wohl an der Schwangerschaft, dass ihr diese lang vergangenen Zeiten wieder einfielen. Sie war schon im sechsten Monat.

Von dem kleinen Platz links der Akazienallee war jetzt erzürntes Stimmengewirr zu vernehmen, und sie musste schmunzeln. Max hatte wieder einmal sShauri zu halten, eine Art Gericht, bei dem die Streitigkeiten der schwarzen Angestellten geregelt wurden. Er tat es mit viel Hingabe, hörte aufmerksam zu, wenn die Klagen und Gegenklagen vorgebracht wurden, oft entschied er auch erst, nachdem er den Fall mit ihr besprochen hatte. Es war nicht einfach, solche Zwistigkeiten unter den Eingeborenen aus der Welt zu schaffen – sie hatten ihre eigenen Gesetze im Hinterkopf, die meist wenig mit dem Rechtsempfinden eines Europäers zu tun hatten. Aber das sShauri gehörte zu den Aufgaben des bwana Roden, den sie als eine Art Häuptling ansahen, und Max bemühte sich redlich darum, diese Rolle auszufüllen. Sie musste lächeln – gewiss hatten die Herren von Roden in Brandenburg früher ebenfalls in ihren Dörfern Gericht gehalten.

Sie trank einen Schluck Zitronenlimonade und klappte das Buch zu. Nein, die erbauliche Literatur, die Klara ihr geschickt hatte, war nicht nach ihrem Geschmack. Einen Augenblick lang überlegte sie, ob sie aufstehen sollte, um nach dem Garten und den neu angelegten Blumenbeeten zu sehen, aber sie fühlte sich zu träge dazu. Lieber noch ein wenig verweilen, die Gegenwart des mächtigen Berges hinter den Wolken spüren und auf Max’ Stimme lauschen, die jetzt energisch zwischen den aufgeregten Rednern hervortrat. Manchmal regte sich das Kind in ihrem Bauch, dann fuhr sie mit der Hand an die Stelle und glaubte, das kleine Wesen für einen Augenblick zärtlich berühren zu können. Das Glück hatte seinen wärmenden Mantel über sie gebreitet, und sie verharrte still darunter, schmiegte sich in seine Falten und ahnte zugleich, dass es nicht für immer sein konnte.

Der Tumult drüben brach ab, jetzt sprach nur noch Max, schien einen Schiedsspruch zu fällen, der mit beifälligem Gemurmel aufgenommen wurde. Charlotte hob leicht den Oberkörper an, um nachzusehen, ob sie richtig vermutet hatte. Tatsächlich – Kläger, Beklagte und Zuhörer gingen in kleinen Gruppen hinüber zu ihren Behausungen, es wurde eifrig geredet und gelacht, das sShauri war vor allem für die Zuschauer ein wundervolles Spektakel, zu dem jeder gern seine Ansicht kundtat. Alle schwarzen Angestellten nahmen den Umweg über die inzwischen üppig grünende Wiese, um nicht die Akazienallee zu kreuzen. Charlotte hatte schon öfter bemerkt, dass die schnurgerade gepflanzten Baumreihen den Eingeborenen unheimlich waren, sie mieden diesen Weg, weigerten sich, ihn zu überqueren, doch den Grund dafür hatte sie noch nicht herausgefunden. Der einzige Schwarze, der sich dort unbefangen bewegte, war Schammi. Aber der nahm sowieso jede Möglichkeit wahr, sich von den übrigen Angestellten der Plantage abzugrenzen. Er mochte jetzt zwölf oder dreizehn Jahre alt sein, war lang aufgeschossen und sehr dünn, sein schmales Gesicht mit den großen lebhaften Augen erinnerte sie manchmal an einen Springbock, den eine fremde Witterung beunruhigte. Schammi war sehr stolz darauf, jeden Morgen die Namen der zur Arbeit erschienenen Schwarzen in eine Liste eintragen zu dürfen, die am Abend wieder verlesen wurde. Die Arbeiter erhielten dann eine kleine Summe, das posho, dazu eine Marke, die sie am Ende des Monats in Geld umtauschen konnten.

Der Bretterboden des überdachten Vorbaus knarrte unter Max’ Schritten, als er mit zufriedenem Grinsen zu ihr hinüberging.

»So habe ich es gern, mein Schatz«, lobte er und ließ sich neben ihr nieder. »Geht es euch beiden gut?«

»Natürlich – sieht man das nicht?«

Er runzelte die Stirn und meinte, sie sei ein wenig blass um die Nase. Dann erklärte er zum wiederholten Mal, dass sie die Rückenlehne ihres Stuhles verstellen könne, sie sitze viel zu gerade, sein Sohn müsse sich ja ganz eingeklemmt vorkommen. Er war sehr stolz auf diesen selbst gebauten Liegestuhl, zu Anfang hatte er ständig das Rückenteil verstellt, wenn sie darauf Platz genommen hatte, um ihr zu beweisen, dass sie vier verschiedene Positionen zur Auswahl hatte. Sie ließ es sich lächelnd gefallen, manchmal benahm er sich wie ein großer Junge, aber auch das liebte sie an ihm.

»Ich wollte sowieso noch rasch durch den Garten gehen und mich dann um die Wäsche kümmern …«

»Nichts da«, knurrte er. »Du bist heute schon genug herumgelaufen. Gleich wird das Essen aufgetragen, und wenn du magst, spielen wir noch ein paar Stücke vierhändig vor dem Schlafengehen.«

Sie seufzte, doch sie schwieg. Es war nahezu unmöglich, ihm klarzumachen, dass eine Schwangerschaft keine Krankheit war. Die Marktfrauen in Leer hatten in diesem Zustand ihre Waren verkauft, und die Afrikanerinnen arbeiteten hochschwanger auf ihren Feldern. Doch Max war anders erzogen. Bei ihm zu Hause wurde eine schwangere Frau umhegt und mit besonderen Speisen gefüttert, sie zeigte sich so wenig wie möglich in der Öffentlichkeit, und reiten oder ähnliche körperliche Betätigungen kamen schon gar nicht infrage. Seitdem er wusste, dass sie ein Kind trug, hatte er sie nicht mehr genommen, was ihm schwer genug fiel. In den Nächten hielt er sie umschlungen, vergrub sein Gesicht in ihrem Haar, und oft ließ er sacht die Hand über ihren Bauch gleiten, in dem das neue Leben heranwuchs. Ihr gemeinsames Kind, der Sohn, auf den er so sehr hoffte.

»Und wenn es ein Mädchen wird?«

»Das nehmen wir auch. Dann wird es eben beim nächsten Mal ein Junge.«

»Aber eine Frau könnte die Plantage doch auch führen.«

»Das glaubst du nur, mein Schatz. Eine Plantage braucht einen Mann. Vor einer Frau haben die Arbeiter keinen Respekt.«

Er goss sich ein Glas Limonade ein und warf einen neugierigen Blick auf das zugeklappte Buch in Charlottes Schoß. Als er den Titel entziffert hatte, grinste er leicht spöttisch – er hatte ihr gleich gesagt, dass sie nicht viel Freude daran haben würde. Max schätzte Klara sehr, doch er hatte oft bemängelt, dass sie unter dem Einfluss ihres Ehemannes mit jedem Brief frommer würde. Wobei das Wort »fromm« in seinem Sprachgebrauch kein Lob war. Er selbst hatte einige Reiseberichte und Romane für Charlotte in Berlin bestellt, darunter auch das heiß umstrittene Buch der Bertha von Suttner Die Waffen nieder, das Charlotte tief erschüttert und zu Tränen gerührt hatte. Was Max auch wieder nicht recht gewesen war, denn er fürchtete ernsthaft, diese Aufregung könne dem Kind schaden, also hatte er Mozarts Klavierkonzerte für seine Frau geordert und die Monatshefte von Velhaagen & Klasing abonniert.

»Seid ihr mit der Arbeit vorangekommen?«, erkundigte sich Charlotte nun. »Ausgezeichnet! Bald werden wir ganz groß in das Geschäft mit dem Sisal einsteigen. Der Boden bei den ehemaligen Kokospflanzungen ist genau richtig, wir müssen nur noch ein paar Bäume roden, dann können wir pflanzen …«

Sie wusste, dass er die augenblicklichen Probleme schönredete, um sie nicht zu beunruhigen, doch sie war nicht ärgerlich darüber. Die Schwangerschaft machte sie ohnehin gelassener, spann sie in einen Kokon ein, der drängende Sorgen von ihr abhielt und ihr die Zuversicht gab, alles würde sich schon zum Guten wenden. Die erste Sisalernte war ein Fehlschlag gewesen, die Pflanzen waren noch zu jung, die Fasern zu weich und leicht zerreißbar. Auch die Kaffee-Ernte war geringer ausgefallen als erwartet, schon deshalb, weil Max die alten Kaffeebäume gerodet hatte, um Sisal zu pflanzen. Leider hatten seine eher halbherzigen Verhandlungen um den Kaffeepreis nichts eingebracht, im Gegenteil, sie hatten Einbußen hinnehmen müssen. Max hatte sich damals sein Erbe auszahlen lassen und bis auf eine kleine Notreserve alles in die Plantage investiert, es konnte also knapp werden in den kommenden Jahren.

»Da schau!«, rief er und deutete mit dem Glas in der Hand nach Westen. »Seine Majestät zeigt sich, um uns eine gute Nacht zu wünschen.«

Der Kilimandscharo war seit Tagen nicht zu sehen gewesen, jetzt plötzlich tauchte sein dunkler Kegel vor dem Abendhimmel auf, schwamm dort in zartem, orangefarbigem Dunst wie eine Erscheinung, die ein Geisterbeschwörer herbeigezaubert hatte. Weißer Nebel stieg aus den Regenwäldern empor, lagerte sich hier und da an den Berghängen ab und schimmerte fast ebenso hell wie der Schnee auf seinem Gipfel.

»Ein gutes Zeichen«, bemerkte Max. »Du wirst sehen, die Agaven wachsen gut an, und in ein paar Jahren sind wir so reich, dass wir anbauen können. Einen Saal mit einem Konzertflügel für dich, mein Liebling …«

Er brachte sie zum Lachen. Als sie spürte, wie sich das Kind dabei bewegte, nahm sie seine Hand und legte sie auf ihren Bauch. Staunen und Entzücken malten sich in seinem Gesicht; in diesem Augenblick konnte er kaum fassen, dass er es war, der dieses zappelnde Leben in sie gepflanzt hatte.

»Wenn das ein Junge ist, dann wird er einmal ein …«

Ein lauter Ruf vom Hauseingang her unterbrach ihn. Es war Sadalla, der eben gerade die Schüsseln mit Reis, Hühnerfleisch und roten Bohnen aus der Küche zum gedeckten Tisch im Wohnzimmer trug.

»Bwana Roden! Bibi Roden! Gäste kommen.«

Schon wieder, dachte Charlotte resigniert. Eigentlich war sie recht froh, dass die lästige Jagdgesellschaft aus Frankreich, die sich über zwei Wochen bei ihnen einquartiert hatte, vor einigen Tagen weitergezogen war.

»Ganz so schlimm wird es nicht«, beruhigte sie Max schmunzelnd, der ihre Gedanken erraten hatte und zur Akazienallee hinüberblickte. »Ich glaube, es ist nur ein einziger Gast, er führt zwei bepackte Maultiere mit sich.«

Die Sonne war schon gesunken, der Abendhimmel glühte orangerot, so dass sich Reiter und Maultiere als dunkle Silhouetten zwischen den blühenden Akazien abzeichneten. Sie mussten ziemlich erschöpft sein, die Tiere zockelten mit gesenkten Köpfen dahin, auch der Reiter schien es nicht gerade eilig zu haben, das vielversprechende Nachtquartier zu erreichen. Charlotte richtete sich in ihrem Stuhl auf und musste tief Atem holen; ihr Herz klopfte plötzlich so stark, dass sie es im ganzen Körper spürte.

»Wenn du mich fragst, ist es einer dieser verrückten Goldsucher«, meinte Max. »Sind oft unterhaltsame Burschen.«

Der Reiter hob den Kopf und spähte zu ihnen hinüber. Jetzt, da er näher kam, wurden seine Konturen deutlicher, und Details wie ein heller Tropenhelm, eine offene Jacke und eine hellbraune Reithose wurden sichtbar. Ein blonder Vollbart verdeckte Wangen und Kinn, und doch gab es keinen Zweifel. Auch wenn sie ihn noch nie im Sattel gesehen hatte, diese lässige, scheinbar unbeholfene Haltung, die im nächsten Augenblick in höchste Anspannung umschlagen konnte, hatte sie nur ein einziges Mal an einem Mann bemerkt.

»Es ist George«, sagte Charlotte leise. »George Johanssen.«

»Was?«, rief Max aus. »Der Doktor aus London? Für den du als Backfisch so geschwärmt hast? Das ist ja großartig – da werden wir uns heute Abend ganz sicher nicht langweilen!«

Er unterließ es, die Scheidung zu erwähnen, so wie er es überhaupt seit ihrer Schwangerschaft vermied, von unangenehmen Dingen zu sprechen. Sie warteten, bis der Gast ein Stück näher geritten war, dann sprang Max auf, um ihm entgegenzugehen. Die Worte, die gewechselt wurden, konnte Charlotte nicht genau verstehen, doch sie sah, wie Max impulsiv die Hand zu dem Reiter hinaufstreckte und George die dargebotene Rechte ergriff. Gleich darauf waren die beiden von Juma, Sadalla und Schammi umringt, die sich um Maultiere und Gepäck kümmern sollten, und George stieg aus dem Sattel. Er war ein Stück größer als Max und wirkte neben ihm noch schmaler, als sie ihn in Erinnerung hatte. Als er jetzt den Hut abnahm, musste er sich das blonde Haar hinter die Ohren streichen. Einen Friseur hatte er vermutlich schon lange nicht mehr aufgesucht.

Charlotte war aufgestanden und erwartete den Gast an den Stufen zum Vorbau. Das Herzklopfen hatte sich zum Glück gelegt, und sie empfing George Johanssen mit dem Lächeln einer guten Freundin.

»Du bist noch schöner geworden, als du es in Daressalam gewesen bist«, sagte er, und erwiderte ihr Lächeln. »Lass dir zu diesem netten Burschen da neben mir gratulieren!«

»Aber nein!«, rief Max dazwischen. »Ich bin es, den Sie beglückwünschen müssen. Ich habe die wunderbarste Frau der Welt für mich erobert.«

»Das will ich gern glauben«, gab George zurück.

Seine grauen Augen ruhten mit der gewohnten Intensität auf ihr, und natürlich erkannte er ihre Schwangerschaft an der hochgezogenen Taille ihres Kleides. Mit einem raschen Lachen rettete sie sich aus der Verlegenheit.

»Ihr redet alle beide vollkommenen Blödsinn. Aber gehen wir hinein, Hamuna zeigt dir unser Gästezimmer, und dann sputest du dich ein wenig, George, das Essen ist schon aufgetragen …«

»Höre ich da den Ton deiner Großmutter in Leer heraus?«, witzelte George. »Ich glaube, du hast doch mehr von ihr, als ich zunächst angenommen hatte!«

»O ja!«, pflichtete ihm Max lachend bei. »Charlotte ist die Herrin dieses Hauses. Meiner Wenigkeit ist es gestattet, unter ihrem Dach zu wohnen und sich von ihr umsorgen zu lassen!«

Die Stimmung war allzu ausgelassen, als dass man sich hätte wohlfühlen können; Charlotte kam es vor, als steckten in Georges Bemerkungen zahlreiche Spitzen, was aber sicher nicht der Fall war. Er bemühte sich einfach nur, freundlich zu sein, und er schien Max wirklich zu mögen. Für das Abendessen hatte er einen hellen Anzug angelegt und sogar den Bart ein wenig gestutzt, so dass er nun sehr viel zivilisierter aussah. Max goss Rotwein ein, von dem er sich einen guten Vorrat angelegt hatte, und die Gespräche wurden nun sachlicher. Nur gelegentlich erlaubte sich George eine kleine Ironie, die Max zumeist gar nicht bemerkte, Charlotte aber umso mehr auffiel.

Sie sprachen über die Plantage, die Max mit großem Stolz als sein Lebenswerk darstellte; den Hinweis auf den zu erwartenden Erben verkniff er sich, um Charlotte nicht allzu sehr in Verlegenheit zu bringen. George hörte voller Interesse zu, wollte dieses und jenes wissen, und Charlotte ahnte, dass er neugierig war, was Max von Roden dazu gebracht hatte, seine heimatlichen Güter zu verlassen, um am Kilimandscharo neu anzufangen. Doch er stellte die Frage nicht direkt, lobte stattdessen den Rotwein und den indischen Koch, bewunderte Max’ Jagdtrophäen, darunter das Leopardenfell, das inzwischen ebenfalls an der Wand über dem Kamin seinen Platz gefunden hatte.

»Die Löwenplage in Daressalam ist inzwischen eingedämmt«, erzählte George und sah Charlotte dabei an. »Wer jetzt bei Wilhelm Schmidt sein Weißbier trinkt, kann zu später Stunde sorglos heimwärts wandern.«

»Davon schrieb mir Klara«, gab sie zurück. »Sie ist in Daressalam verheiratet und wohnt mit ihrem Mann in der Mission am Imanuelskap.«

»Ich weiß«, erwiderte er ruhig. »Wir sind uns hin und wieder begegnet. Ich arbeite seit einem halben Jahr in dem Eingeborenenhospital, das der Inder Sewa Hadji gestiftet hat.«

»Ach …«

Er lächelte und half ihr über die Peinlichkeit hinweg, indem er über seine Arbeit berichtete, über seine Hoffnung auf einen Impfstoff gegen die Malaria, nun, da man den Erreger, die Anopheles-Mücke, ausfindig gemacht habe. Es gäbe leider immer noch Fälle von Pocken und Cholera, vereinzelt zum Glück, aber nicht desto weniger tragisch. Charlotte hörte schweigend zu und ärgerte sich über ihre fromme Cousine, die Georges Anwesenheit in Daressalam in keinem ihrer Briefe erwähnt hatte. Was bildete sie sich eigentlich ein? War sie ihre Tugendwächterin? Glaubte Klara tatsächlich, sie, Charlotte, könne sich noch nach George sehnen, da sie doch vollkommen glücklich verheiratet war?

»Den Kilimandscharo wollen Sie besteigen?«, hörte sie Max begeistert ausrufen.

»Den Berg des bösen Geistes – ganz recht. Ich bin gespannt, wie er uns dort oben empfangen wird.«

»Kalt und frostig, Mann. Ich hoffe, Sie haben warme Kleidung dabei. Außerdem soll die Luft dort oben verdammt dünn sein, vor ein paar Monaten haben zwei Bergsteiger diese Unternehmung nur knapp überlebt …«

Das Gespräch zog an ihr vorbei. Sie gab Schammi einen Wink, das Geschirr möglichst unauffällig abzuräumen und den Nachtisch aufzutragen, und nippte an ihrer Zitronenlimonade. Den Rotwein überließ sie den beiden Männern, die jetzt eifrig über den Aufstieg zum Kibo diskutierten, dem »Hellen«, wie er in der Sprache der Dschagga hieß, »der Dunkle«, eislose Mawensi und der mit nur viertausend Metern niedrigste Gipfel, der Shira, interessierten George weniger. Durch den Regenwald schlängelte sich der Pfad bis hinauf zur baumlosen Zone, wo nur noch Heidekraut und Flechten gediehen, dann ging es weiter über Lavageröll. Am besten war es, es Dr. Hans Meyer gleichzutun, der zur letzten Etappe mitten in der Nacht aufgebrochen war. In dieser Höhe war die Luft so dünn, dass jede Bewegung ein Vielfaches an Kraft kostete, doch wenn man tatsächlich den Gipfel erreichte, auf dem Dr. Meyer vor Jahren eine deutsche Fahne ins Eis gesteckt hatte, dann waren alle Anstrengungen reich belohnt.

Die beiden Männer verstanden sich glänzend. Sie waren von der gleichen Begeisterung beseelt, und Charlotte begriff, dass Max nur allzu gern bei dieser Unternehmung dabei gewesen wäre. Doch er war zu verantwortungsbewusst, um sich diese Freiheit zu gestatten; es tat ihr leid, aber zugleich war sie sehr froh darüber – sie wäre vor Angst um ihn gestorben.

Während sie das süße Kompott aus Bananen und Mango löffelte, betrachtete sie nachdenklich Georges Gesicht. Seine Stirn hatte waagerechte Furchen bekommen, die sich stärker eingruben, wenn er kritisch dreinsah, auch die kleinen Linien um die Augen waren mehr geworden. Sein Blick besaß immer noch dieselbe Eindringlichkeit, doch die jugendliche Neugier war schon lange daraus verschwunden, Ernst lag darin und ein Anflug von Resignation. Sie dachte daran, dass er im Hospital gewiss viel Elend zu sehen bekam, dem er nicht abhelfen konnte, und sie fragte sich, aus welchem Grund er wohl zurück nach Daressalam gekommen sein mochte. Marie – so hatte Ettje geschrieben – hatte inzwischen wieder geheiratet, Georges Kinder lebten bei der Mutter …

Sie ist immer noch die Gleiche, dachte Charlotte bitter. Marie nimmt sich vom Leben, was sie haben will, erst hat sie George gewollt und ihn bekommen, nun hat sie sich einen anderen geangelt, mit dem sie ihr Leben nach ihren Vorstellungen führen kann. Warum auch nicht? Marie und George hatten vermutlich niemals zueinander gepasst …

»Gewiss, wenn man mit den Offizieren der Schutztruppe redet, dann zollen sie diesem Aufrührer einen gewissen Respekt«, sagte Max soeben. »Mkwawa scheint ungewöhnlichen Mut besessen zu haben und dazu großen Einfluss. Aber wir wissen auch, dass er jeden Schwarzen, der nicht mit ihm gemeinsame Sache machen wollte, brutal ermorden ließ. Nein – einen Helden sollten wir keinesfalls aus ihm machen.«

Sie waren inzwischen bei dem Rebell Mkwawa angekommen, ein Häuptling der Wahehe, der die Deutschen jahrelang im Landesinneren in Atem gehalten hatte. Vor acht Jahren hatte er den unglücklichen Oberst Zelewski mit seiner Askari-Truppe niedergemetzelt, was der Rebellion der Wahehe mächtigen Auftrieb gegeben hatte. Es war ein zähes Ringen gewesen, das viele Menschenleben gekostet hatte, doch zuletzt siegte die deutsche Schutztruppe unter Tom von Prince. Der einst mächtige Mkwawa wurde wie ein Jagdwild gehetzt, entkam den Verfolgern immer wieder, bis er im vergangenen Jahr endlich gefunden wurde. Es wurde berichtet, dass er seine Begleiter niedergemacht und sich anschließend selbst das Leben genommen habe.

»Aufrührer?«, fragte George und zog ironisch die Stirn in Falten. »Aber gehört dieses Land denn nicht in Wahrheit ihnen? Den Afrikanern?«

Es war ein heißes Thema, und Charlotte wusste recht gut, dass Max diese Dinge völlig anders sah.

»Dieses Land ist riesig, mein Freund. Es ist genügend Platz für alle da.«

George drehte das Rotweinglas in seiner Hand und schien zu überlegen, ob es der Mühe wert war, ein Streitgespräch zu beginnen. Er entschloss sich dafür.

»Das mag wohl sein. Doch dann sollte jeder den anderen und seine Lebensweise respektieren. Wir aber behandeln die schwarzen Eingeborenen wie Untergebene, oft sogar wie Sklaven. Bestenfalls sehen wir sie als unwissende Kinder und glauben, über ihr Schicksal entscheiden zu dürfen.«

»Sie scheinen ein Weltverbesserer zu sein«, sagte Max grinsend, womit er nach Charlottes Ansicht den Nagel auf den Kopf traf.

»Natürlich sind sie wie die Kinder«, fuhr er fort. »Aber fragen Sie doch meine Schwarzen auf der Plantage, ob sie zufrieden mit ihrem Leben sind. Sie sind hier in Sicherheit, besitzen Häuser, halten ihr Vieh, dürfen ihr Land bearbeiten. Es gefällt ihnen, und sie sind dankbar dafür. Keiner von ihnen wäre in der Lage, eine solche Plantage ins Leben zu rufen, sie können weder vernünftig organisieren noch wirtschaften, noch haben sie das dazu nötige Durchhaltevermögen. Sie sind tatsächlich wie die Kinder und denken nur bis zum nächsten Tag.«

Charlotte spürte Georges Augen, die auf sie gerichtet waren – fragend und unsicher, ob er die Diskussion besser abbrechen sollte. Sie hatte sich früher zu seinen Ansichten bekannt, war sogar hellauf davon begeistert gewesen, seine Manuskripte, in denen er solche Dinge darlegte, hatten sie fasziniert.

»Aber …«, wandte sie zögernd ein. »Vielleicht brauchen die Afrikaner ja gar keine Plantagen. Die Dschagga bauen ihre Bananen und ihren Mais auch ohne uns an und haben damit ihr Auskommen. Es ist nicht recht, dass man sie jetzt immer weiter hinauf zum Regenwald treibt und ihr Land an Buren und Deutsche aus Russland verteilt, die dort Plantagen anlegen.«

»Gewiss, mein Schatz«, sagte Max sanft. »Aber du darfst nicht vergessen, dass die Dschagga auch früher keineswegs wie im Paradies gelebt haben. Eher wie im Mittelalter, ständig in Gefahr, von fremden Stämmen niedergemetzelt zu werden. Dazu kommt, dass arabische Sklavenhändler die Menschen in diesem Land jahrhundertelang wie Vieh gefangen und verschachert haben. Und nicht selten waren es die afrikanischen Häuptlinge, die ihre eigenen Leute verkauften. Wir Deutschen haben ihnen das Handwerk gelegt und die Sklaverei verboten. Wir bieten den Schwarzen Wohlstand und ein sicheres Leben, dafür können sie uns verdammt dankbar sein.«

»Mkwawa war es nicht«, bemerkte George mit leiser Ironie. »Er zog die Freiheit dem sicheren Leben vor.«

»Mkwawa war ein Phantast, und er hat dafür bezahlt.«

»Die einen nennen ihn einen Phantasten, die anderen einen Freiheitskämpfer. Vielleicht braucht ein Volk einen Mann wie ihn, um an sich selbst glauben zu können.«

»Nennen Sie ihn, wie Sie wollen, Johanssen, aber er hat den Afrikanern nichts als Unglück und Elend gebracht. Ich schwöre Ihnen, es liegt mir verteufelt viel daran, dass meine schwarzen Arbeiter zufrieden sind. Auf meiner Plantage wird nicht geprügelt wie bei den Buren, und es gibt auch keine kiboko, höchstens mal ein hartes Wort, und wenn einer gar zu frech wird, gebrauche ich meine Fäuste. Schließlich sind wir von ihnen abhängig. Aber so, wie Sie sich das denken, funktioniert das nicht …«

Sie stritten bis spät in die Nacht hinein, doch zu Charlottes großer Erleichterung schienen sie es beide mehr als ein Spiel zu betrachten, einen Austausch von Argumenten, einen sportlichen Kampf mit dem Florett, bei dem man den Gegner nicht wirklich verletzen, sondern nur seine Überlegenheit beweisen will. Es war George, der Max immer wieder herausforderte, ihn reden ließ und dann mit einer scheinbar harmlosen Frage einhakte. George, der über diese Dinge schon seit Jahren nachgrübelte, ohne eine Lösung gefunden zu haben, und Max, der so genau zu wissen glaubte, wo der richtige Weg lag, ohne lange darüber nachdenken zu müssen. Als sie zu Bett gegangen war, hörte sie nebenan immer noch ihre gedämpften Stimmen, und sie fand es merkwürdig, dass sie dabei so ruhig einschlafen konnte.

George brach schon am folgenden Morgen auf, er hatte sich mit Freunden unten in Moshi verabredet und wollte sie nicht warten lassen.

»Ich bin sehr froh, dass du so glücklich bist«, sagte er beim Abschied zu ihr. »Du hast es verdient, Charlotte.«

In diesem Augenblick erkannte sie die Trauer in seinen Augen, und sie hielt seine Hand länger fest, als es nötig gewesen wäre.

»Sei vorsichtig«, warnte sie ihn beklommen. »Der Aufstieg ist nicht ungefährlich. Schon viele, die es versucht haben, sind nicht zurückgekommen.«

Er lachte und erwiderte voller Ironie, der böse Geist dort oben könne mit einem wie ihm nicht viel anfangen. Charlotte blieb unter dem Dach des Vorbaus stehen, als er davonritt, und plötzlich krampfte sich ihr Herz zusammen. Er erschien ihr unendlich einsam.

»Was für ein sympathischer Kerl«, sagte Max. »Ich bin zwar in vielem nicht seiner Meinung, aber dennoch hat er mir gewaltig imponiert. Ich hoffe, er besucht uns bald wieder.«

»Ja, das wäre nett …«

Sie war sich sicher, dass sie George Johanssen niemals wiedersehen würde.

Himmel über dem Kilimandscharo
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