Schammi tauchte am gleichen Tag auf, an dem Kamal Singh ihnen die Nähmaschine bringen ließ. Charlotte war rasch auf den Markt gelaufen, um Früchte und Gemüse einzukaufen, als sie den Jungen bemerkte. Er hockte zusammengekauert neben einem der hölzernen Pfosten des lang gezogenen Strohdachs, unter dem sich das Marktgeschehen abspielte. Charlotte spürte seinen eindringlichen Blick, während die Händlerin ihr zwei Hände voll Erdnüsse in den Korb warf, und aus einem plötzlichen Impuls heraus hockte sie sich vor ihn hin und reichte ihm einige Nüsse.

Zunächst rührte er sich nicht, in seinen Augen spiegelten sich Zweifel und Misstrauen. Er hatte große, dunkelbraune Augen, die in seinem schmalen Gesicht riesig wirkten, vielleicht war es das, was Charlotte an diesem Kind so berührt hatte. Es dauerte eine kleine Weile, bis er mit einer langsamen Bewegung den Arm hob und ihr die Nüsse eine nach der anderen aus der Hand nahm. Sie nickte ihm lächelnd zu und beeilte sich dann, zu ihrem Laden zurückzulaufen, wo Klara sich mit der Nähmaschine abplagte.

Erst später bemerkte sie, dass er ihr gefolgt war. Vorerst kämpfte sie zornig gegen die Tücken des widerspenstigen Geräts und zugleich gegen Klaras sanfte Resignation, die ja gleich gewusst hatte, dass diese Anschaffung sinnlos war.

»Es ist zu anstrengend für mich, Charlotte. Mein Fuß …«

»Du hast zwei Füße, Klara. Mit dem gesunden Fuß kannst du die Maschine sehr gut in Gang bringen!«

»Es geht zu schwer. Und wenn sie dann endlich in Bewegung kommt, reißt der Faden ab.«

Die Nähmaschine war ein Fabrikat der Firma Seidel & Naumann aus Dresden, wie in goldener Schrift auf ihrem schwarzen Eisenkörper zu lesen war. Kamal Singh hatte sie auf verschlungenen Wegen erworben, angeblich stammte sie von einem holländischen Siedler aus Südafrika.

»Wenn die Deutschen sie gemacht haben, muss sie solide sein«, hatte er behauptet.

Solide war sie sicher, es wackelte nichts, nur war das Gerät ungeheuer schwergängig. Charlotte bat den Inder um Öl und rückte der eisernen Dame mit einer kleinen Kanne zu Leibe, kippte in jedes Löchlein, auf jede Schraube und vorsorglich auch über das große Schwungrad eine Portion der durchsichtigen, seltsam riechenden Flüssigkeit.

Nach und nach bildete sich ein Kreis von Zuschauern, die ihre Bemühungen neugierig beobachteten. Junge Männer, Kinder jeglichen Alters, Frauen, die mit Körben und Lasten auf dem Kopf unterwegs waren – alle blieben stehen, verfolgten jede ihrer Bewegungen, schwatzten, staunten, klatschten in die Hände, wenn die Maschine für kurze Zeit ihre Arbeit tat. Es waren Inder, Goanesen und Araber, die meisten jedoch schwarze Afrikaner. Charlotte stellte fest, dass Schadenfreude überall in der Welt verbreitet war, hier in Afrika jedoch trug man sie viel offener zur Schau. Das Gelächter über ihre Misserfolge war laut, manchmal sogar schrill, dennoch empfand sie es nicht als hämisch, denn es lag eine gutmütige Fröhlichkeit darin.

Nach vielen vergeblichen Versuchen gelang es ihr endlich, eine gerade Naht herzustellen, ohne dass sie sich in die Finger stach oder der hinterhältige Faden riss. Das Geheimnis bestand darin, gleichmäßig zu treten; kam man aus dem Rhythmus, nähte die Maschine rückwärts.

»Es ist gar nicht so schwer, Klara. Ein paar Tage, dann hast du es gelernt und willst gar nicht mehr mit der Hand nähen!«

Sie erntete einen kleinen Applaus, als sie die Naht triumphierend in die Höhe hielt, von den Scherzworten verstand sie nur wenige, aber besonders den schwarzen Frauen schien sie großes Vergnügen bereitet zu haben. Klara, die sich bei so viel Aufmerksamkeit am liebsten in das nächstbeste Loch verkrochen hätte, atmete erleichtert auf, als sich die Leute endlich zerstreuten. Übrig blieb nur ein schwarzer Junge, ein schmales Bürschlein von vielleicht zehn oder elf Jahren, nur mit einem kurzen Jutekittel angetan. Er hatte sich dicht vor dem Laden auf den Boden gesetzt, gleich neben den Tisch, auf dem sie ihre Gewürze, ein paar Töpfe und bunte Tassen aufgestellt hatten. Charlotte erkannte ihn sofort wieder.

»Jambo. Willst du noch Erdnüsse?«

»Nein.«

Ratlos sah sie Klara an, die die Schultern zuckte und mitleidig auf den Jungen blickte.

»Er hat bestimmt Hunger, Charlotte. Schau, wie dünn er ist.«

Der Junge sagte etwas auf Suaheli, das sie nicht gleich verstanden. Dann redete er langsamer, zeigte auf den Tisch mit den Gewürzen, stand auf und warf sich in die Brust.

»Ich glaube gar, er will auf unsere Waren aufpassen.«

»Aber das geht nicht«, meinte Charlotte. »Wir können ihn nicht bezahlen.«

»Kein Geld. Nur chakula. Schammi isst nicht viel.«

Wie es schien, wollte er nur für das Essen arbeiten.

»Wir brauchen niemanden.«

»Weiße bibi braucht einen boy. Bibi kann schlecht gehen. Schammi holt, was sie haben will. Schammi fängt Dieb. Schammi trägt Kiste. Schammi läuft, wohin sie will …«

Er begleitete diese Worte mit Gesten, sprang hin und her, tat, als wolle er einen imaginären Spitzbuben festhalten, schleppte mit gebeugtem Rücken eine nicht vorhandene Last. Ganz sicher war er ein begabter Pantomime.

»Gehen Sie nicht darauf ein«, riet Kamal Singh, der zu ihnen hinüberkam, um ihnen zwei Gläser mit gesüßtem Tee und ein wenig Gebäck auf einem Tablett zu bringen. Seitdem sie den Laden neben ihm eröffnet hatten, tat er dies jeden Morgen und auch am frühen Nachmittag.

»Er ist ein gewitzter Dieb«, meinte er mit dem ihm eigenen Gleichmut. »Vor allem aber trägt er den Keim des Todes in sich.«

»Den Keim des Todes? Wie meinen Sie das?«

Charlotte entdeckte in Kamal Singhs Augen einen Ausdruck, der ihr bisher noch nie aufgefallen war. Im goldblitzenden Dunkel seiner Iris lag Kälte.

»Es gibt immer wieder Krankheiten, die niemand beim Namen nennen oder gar heilen könnte. Seine Familie starb an solch einem Fieber, er ist der Einzige, der überlebt hat. Niemand weiß, weshalb gerade er zum Weiterleben auserwählt wurde, aber er trägt die Krankheit in sich.«

Schammi hatte sich wieder neben den Tisch mit den Waren gesetzt und schien zu einer dunklen Statue zu erstarren, solange Kamal Singh mit Charlotte und Klara plauderte. Erst als der Inder sich wieder in seinen eigenen Laden begeben hatte, regte sich Schammi.

»Kein Geld. Nur wenig chakula.«

»Es ist unsere Christenpflicht, Charlotte«, sagte Klara. »Kamal Singh mag uns gewogen sein, aber er ist ein hartherziger Mensch.«

»Und wenn er recht hat?«

»Gott wird uns schützen. Und gegen das Fieber gibt es Chinin.«

Sie hatten beide hin und wieder mit Fieberanfällen oder Durchfall zu kämpfen gehabt, doch diese Unpässlichkeiten hatten sich nach einigen Tagen gelegt. Charlotte entschied, es mit Schammi zu versuchen. Man konnte ihn für Botengänge gebrauchen, als Aufpasser für den Laden, er konnte kleine Handreichungen leisten, auf dem Markt für sie einkaufen, und vor allem würden sie mit ihm Suaheli reden und dabei die Sprache lernen.

Die erste Nacht verbrachte Schammi im Laden. Am Morgen fanden sie ihn hinten zwischen den Warenballen, zitternd vor Angst, denn obgleich die hölzerne Tür mit einem Schloss gesichert war, fürchtete er sich vor den Löwen. Auch zum Einkaufen taugte er nicht viel, stets brachte er die falschen Dinge, redete sich damit heraus, die Früchte, die er hatte kaufen sollen, seien schlecht gewesen, deshalb habe er andere gebracht. Das Rechnen lag ihm gar nicht; wenn er vom Markt zurückkehrte, konnte er niemals sagen, wie viel er für welchen Einkauf bezahlt hatte. Dafür zeigte er andere Talente. In großer Schnelligkeit lernte er die deutschen Wörter, konnte bald alle möglichen Gegenstände und Sachverhalte ausdrücken, und Charlotte musste sich große Mühe geben, es ihm auf Suaheli gleichzutun. Klara, die ihm besonders zugetan war, erfreute sich den ganzen Tag über seiner Aufmerksamkeit. Mit kritischen Augen sah er zu, wie sie an der Nähmaschine wirkte, und erriet, ohne dass sie es ihm auftragen musste, was er ihr herbeiholen sollte. Dennoch blieb die ratternde Nähmaschine für ihn eine unheimliche Angelegenheit, vor allem die blitzenden, auf- und niedersausenden Metallteile waren ihm verdächtig, und nicht für alle Güter dieser Welt hätte er es gewagt, den metallenen Körper der Maschine zu berühren. Sheitani hause darin, sagte er einmal.

»Manchmal glaube ich, er will mich beschützen, falls der Scheitan aus der Nähmaschine springen sollte«, meinte Klara lächelnd.

»Schammi dich beschützen? Vor seinen Geistern und Dämonen? Der ist der größte Hasenfuß, den ich kenne.«

»Er ist doch noch ein Kind, Charlotte!«

Seit jener ersten Nacht, in der Schammi im Laden fast vor Angst gestorben war, wohnte er bei ihnen in der Wohnung. In dem noch leer stehenden Schlafraum lag er zusammengekauert wie ein Säugling auf einem Teppich und schien mit seinem harten Lager hochzufrieden zu sein.

Charlotte entschloss sich, einen ersten Brief in die Heimat zu senden. Es war kein ausführlicher Bericht, sie vermeldete, dass sie gesund seien, einen kleinen Laden in Daressalam führten und sich dort gut eingerichtet hätten. Von Christians Reise ins Usambara-Gebirge schrieb sie nichts. Seit der Abfahrt des Dampfers vor drei Wochen hatten sie nichts mehr von ihm gehört, und sie begann, sich ernsthaft Sorgen zu machen.

»Aller Anfang ist schwer«, tröstete Klara. »Er wird uns erst dann schreiben, wenn er auf sicheren Füßen steht.«

Wenn er überhaupt irgendwo einen Posten oder wenigstens eine kurzfristige Beschäftigung gefunden hat, dachte Charlotte beklommen. Die schrecklichen Phantasien, die sie in schlaflosen Nächten plagten, behielt sie besser für sich. Es gab zahllose Berichte über Europäer, die irgendwo im Urwald oder in der Steppe verschwunden waren und deren Schicksal niemals geklärt wurde. Schlimmer als die Sorge um Christian war jedoch ein zutiefst boshafter, sündiger Gedanke, den sie voller Scham von sich wies, dessen sie sich aber dennoch nicht erwehren konnte: Das Leben ohne ihn war angenehm.

Kamal Singh wusste, dass Charlottes Ehemann nach Usambara gereist war, doch er fragte niemals nach ihm. Fast schien es Charlotte, der Inder glaubte nicht daran, dass Christian jemals zurückkehrte. Viel weniger noch schien er damit zu rechnen, dass Charlotte und Klara eines Tages nach Usambara fahren würden, um dort mit Christian Ohlsen zu leben. Kamal Singh war nach wie vor bemüht, Charlotte bei der Führung ihres Ladens unter die Arme zu greifen. Er vermittelte Klara Aufträge aus seinem weitläufigen Freundeskreis, verschaffte Charlotte allerlei Waren, die günstig im Einkauf waren und guten Absatz fanden, und wenn er ihnen Tee brachte, plauderte er jetzt immer häufiger von seinen Geschäften. Er bezog Elfenbein, Tierhörner, Krallen und Zähne aus dem Landesinneren, außerdem Kopal: braune Klumpen eines urgeschichtlichen Baumharzes, das die Schwarzen aus dem Boden ausgruben. Doch das Geschäft sei heute schwieriger geworden, es sei ungemein teuer, eine Karawane auszurüsten, da die Träger immer höhere Löhne verlangten. Früher hätten Sklaven diese Arbeit besorgt, da habe man nur die Ausrüstung und die Verpflegung zahlen müssen – die Araber, die drüben am anderen Ende der Straße ihre Läden hätten, könnten ein Lied davon singen. Trotz allem schien er noch gut im Geschäft zu sein und hatte manch einen Abnehmer, der für Löwenkrallen oder das Horn eines Nashorns viel Geld zahlte. Man stellte ein Pulver daraus her, das von Männern sehr begehrt war.

»Mir gefällt nicht, was er uns da erzählt«, meinte Klara, als sie am Abend miteinander allein waren. »Gewiss hat er früher selbst Sklaven gehalten. Und dieses Zeug, das sie aus Tierhörnern machen – nichts als Aberglaube und Hokuspokus.«

Charlotte war weniger kritisch. Ein Geschäft war ein Geschäft – und wenn die Käufer dieser Pülverchen daran glaubten, es könne ihre Manneskraft erhöhen –, warum nicht? Vielleicht half es ja tatsächlich, wer konnte das schon so genau wissen. Doch das waren Dinge, über die sie mit Klara besser nicht sprach – die errötete ja schon, wenn sie nur das Wort »Manneskraft« hörte. So eng sie nach wie vor mit ihrer Cousine verbunden war – es taten sich Risse auf. Immer häufiger musste Charlotte ihre Gedanken vor ihr verbergen, und sie wusste, dass auch Klara ihr manches verschwieg. Ihre Cousine hatte sich zwar dazu durchgerungen, vor dem Laden an ihrer Nähmaschine zu sitzen, doch sie tat ihre Arbeit, ohne nach rechts oder links zu sehen, und wenn sie redete, dann sprach sie nur mit Charlotte oder mit Schammi. Die lebhafte, fröhliche Art, mit der Charlotte inzwischen ihre Kunden bediente, sie beriet, mit ihnen auf Suaheli, Arabisch oder Deutsch radebrechte und vor allen Dingen um die Preise feilschte, lag Klara gänzlich fern. Sie sehnte sich stattdessen nach einer kleinen Stube, in der sie ungestört von neugierigen Blicken ihrer Arbeit nachgehen konnte, vor allem aber brauchte sie den Halt der christlichen Religion, in der sie aufgewachsen war. Inzwischen mietete sie sich jeden Sonntag eine Rikscha, um gemeinsam mit Schammi zur evangelischen Missionsanstalt zu fahren und dort den Gottesdienst zu besuchen. Charlotte, die keine Sehnsucht nach religiösem Trost verspürte, hatte sich energisch geweigert, den Laden während dieser Zeit zu schließen, und so blieb sie allein zurück und verkaufte ihre Waren auch am heiligen Sonntag.

Der erste Streit zwischen ihnen brach an jenem Tag aus, als Sarah William in der Inderstraße erschien. Charlotte, die vor dem Laden stand und mit einem goanesischen Koch und seinem Diener um den Preis der rötlichen Galgantwurzeln feilschte, erblickte plötzlich weit hinten, dort, wo die Araber ihre Läden hatten, einen lila Fleck. Zuerst glaubte sie, ihre Augen spielten ihr einen Streich, denn inzwischen war die Trockenzeit angebrochen, und jeder kleine Windhauch wirbelte gelbliche Staubwolken empor, welche die Sicht erschwerten. Doch als sie ihren Handel abgeschlossen hatte und dem Goanesen noch rasch von den Muskatblüten und den Korianderfrüchten erzählte, die morgen ganz frisch bei ihr eintreffen würden, erblickte sie Sarahs Hut, an dem eine zarte Straußenfeder befestigt war.

»Schau doch, wer zu uns kommt!«, rief sie Klara zu. »Sarah William – ich habe mich schon gefragt, was wohl aus ihr geworden ist.«

Sarah war auffallender gekleidet denn je und erregte sogar hier, wo viele Afrikanerinnen grelle, bunte Farben bevorzugten, einiges Aufsehen. Als Charlotte ihr zuwinkte, blieb sie überrascht stehen und blinzelte gegen die Sonne. Als sie ihre ehemalige Mitreisende endlich erkannt hatte, breitete sie entzückt die Arme aus und lief auf Charlotte zu. Zwei schwarze boys mit weißen Mützen und langen Gewändern, die ihrer bibi folgten, mussten ebenfalls rennen.

»Charlotte Ohlsen und meine kleine Klara! Was für eine Freude! Ich hatte schon gefürchtet, ihr wäret im Usambara-Gebirge verschollen …«

Sie umarmte Charlotte, und Klara musste die Arbeit unterbrechen, als Sarah auch sie herzlich umschlang und auf beide Wangen küsste.

»Ich besitze die hübsche Zeichnung immer noch, meine Kleine. Sie hat einen Ehrenplatz an der Wand über meinem Bett, und jeder, der sie sieht, will wissen, wer das Bild gemalt hat …«

Charlotte schickte Schammi in die Wohnung hinauf, um Kaffee zu kochen, was er ausgezeichnet verstand, dann bot sie ihrem Gast den Sessel an, den Kamal Singh ihr geschenkt hatte, und Sarah ließ sich mit einer gezierten und zugleich aufreizenden Bewegung darauf nieder.

»Das ist doch nicht etwa euer eigener Laden? Meine Güte, was für eine Arbeit, noch dazu bei dieser Hitze! Zeig mir doch einmal diese Ohrringe mit den grünen Steinen. Nicht die – die anderen, die daneben hängen. Ist das Jade? Echt oder nur gefärbtes Glas? Lass mal sehen, wie sie mir stehen. Hast du einen Spiegel?«

Sie schwatzte ohne Punkt und Komma, erzählte freimütig, dass es mit ihrer Heirat nun doch nichts würde, ihr Verlobter habe sich als ein schrecklicher Langweiler entpuppt, und überhaupt sei sie nicht für die Ehe geschaffen. Sie habe eine hübsche Wohnung im Westen der Stadt gemietet, dort sei es angenehm ruhig, die Häuser meist in gutem Zustand, und über Mangel an Gesellschaft könne sie auch nicht klagen.

Die beiden boys waren mit geflochtenen Taschen ausgestattet, in denen sich bereits allerlei Stoffe und andere Dinge gesammelt hatten. Während ihre Herrin Kaffee trank und ausgiebig plauderte, hockten ihre afrikanischen Diener mit Schammi zusammen, um sich mit ihm in einer fremden Sprache zu unterhalten, die nichts mit Suaheli zu tun hatte.

»Ihr beide müsst mich unbedingt besuchen«, meinte Sarah. »Dass meine kleine Klara so gut nähen kann … Nun ja, du hast ja auf dem Dampfer schon immer gesessen und gestichelt. Wo ist denn dein Mann, Charlotte? Ist er dir etwa abhandengekommen?«

Sie lachte hell auf über ihren Scherz, den weder Charlotte noch Klara besonders lustig fanden. Dann räumte sie ein, sie habe gehört, Christian Ohlsen sei ins Usambara-Gebirge gezogen, um dort auf einer Plantage zu arbeiten.

Von wem sie das wisse, erkundigte sich Charlotte.

»Ach, Liebste! Ich kenne eine Menge Leute. Offiziere, Inspektoren, Ärzte, Beamte … Alles, was sich hier so angesiedelt hat, geht bei mir ein und aus. Hast du gehört, dass es bald auch eine deutsche Brauerei hier geben wird? Ein gewisser Wilhelm Schmidt stellt Weißbier her – ein grauenhaftes Zeug, aber es erinnert so angenehm an die deutsche Heimat …«

Weißbier trank man aus hohen Gläsern, so viel wusste Charlotte. Aber vielleicht brauchte dieser Schmidt ja auch Bierkrüge mit der Aufschrift seiner Brauerei? Sie überlegte noch, wie sie die beschaffen könnte, als Sarah auch schon beim nächsten Thema war.

»Klara, meine Süße! Ich brauche unbedingt eine geschickte Schneiderin. Kannst du auch Korsagen nähen? Wäsche? Diese Inder können keine anständige Kleidung herstellen – von ihrem Geschmack ganz zu schweigen –, alles ist zu weit, trotzdem lösen sich die Nähte auf.«

Sie kaufte zwei Paar Ohrringe aus Silber, ein rotes Seidentuch und einige der kleinen Duftbeutel, die Charlotte erfunden hatte. Sie füllte sie mit Stoffresten, zwischen die sie Zitronengras, Nelken oder Vanillestangen legte, und sie fanden reißenden Absatz. Sarah handelte nicht, zahlte ohne Zögern den geforderten Preis, und der lederne Beutel, den sie unter der Jacke verbarg, schien noch lange nicht leer zu sein.

Der Abschied war herzlich – zumindest von Sarahs Seite. Charlotte verhielt sich freundlich, aber doch zurückhaltend, Klara dagegen, die allein schon Sarahs Gehabe und den ganzen Aufruhr als schrecklich peinlich empfunden hatte, musste sich stark zusammennehmen, um wenigstens Lebewohl zu sagen.

»Bibi ist laute Frau. Viel reden«, stellte Schammi unbefangen fest, während Charlotte und Klara noch betreten schwiegen. »Sie hat afrikanisches Mädchen, das heißt Mgumditemi. Muss Kleider waschen und Essen kochen, aber weiße bibi ist nie zufrieden. Am Abend viel Besuch in Wohnung. Viel lachen und trinken. Viel weiße Männer kommen zu weiße bibi und …«

»Halt den Mund!«, unterbrach ihn Klara mit ungewohnter Schärfe. »Das ist schrecklich, Charlotte. Wir hätten es gleich auf dem Schiff bemerken müssen. O Gott – sie ist eine … eine …«

Sie brachte das Wort nicht heraus, sondern setzte sich wieder an ihre Nähmaschine, die jetzt in der Trockenzeit sehr unter dem Staub litt und häufig geölt werden musste. In ihrer Aufregung trat sie zu heftig aufs Pedal, die Maschine ratterte los – der Faden riss.

»Für diese Frau nähe ich nicht, Charlotte!«

Charlotte glaubte, nicht recht gehört zu haben. Sarah würde die bestellten Kleidungsstücke gut bezahlen – was ging es sie an, womit sie ihr Geld verdiente? Sie waren Geschäftsleute und keine Moralapostel.

»Wie kommst du dazu, über diese Frau den Stab zu brechen? Gerade du, die Sarah besonders ins Herz geschlossen hat?«

Klara bemühte sich, das gerissene Nähgarn wieder einzufädeln, doch da ihre Finger vor Aufregung zitterten, wollte es ihr nicht gelingen.

»Ich breche nicht den Stab über sie, Charlotte. Dazu habe ich kein Recht. Jesus sagt: Wer unter uns ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.‹ Aber ich werde ihr Tun auf keinen Fall unterstützen, indem ich Korsagen und Wäsche für sie nähe!«

Es war ganz offensichtlich, dass Klara zu viel Zeit in der Missionsstation verbrachte. Meist blieb sie mit Schammi den ganzen Sonntagvormittag dort, sie hatte den Jungen sogar überreden wollen, die Missionsschule zu besuchen, doch Schammi hatte sich hartnäckig geweigert. Er war stolz auf den kleinen Lohn, den Charlotte ihm inzwischen auszahlen konnte und den er sogleich in allerlei überflüssige, glänzende Dinge umsetzte.

»Sie wird ihrer Tätigkeit auch ohne Korsagen und Wäsche nachgehen!«, schimpfte Charlotte.

Klara beugte sich über ihre Näherei, doch obgleich sie einen Strohhut mit gewölbter Krempe trug, um sich vor der Sonne zu schützen, sah Charlotte, dass sie tiefrot geworden war. Dabei hatte sie die Worte gar nicht so gemeint, wie Klara sie offenbar verstanden hatte.

»Unser Herr Jesus Christus ist auch für sie gestorben, deshalb wird Gott ihr diese Sünde einst vergeben«, sagte sie leise. »Aber ich will sie nicht in ihrem schlechten Tun bestärken. Ich werde kein einziges Stück für sie nähen.«

Nie zuvor war die sanfte Klara so hartnäckig gewesen. Charlotte stand eine Weile fassungslos da, bekämpfte den aufkommenden Zorn und wandte sich schließlich ab. Es war Kundschaft im Laden, um die sie sich kümmern musste. Schammi schlich mit trauriger Miene hinter ihr her, sah sich aber immer wieder nach Klara um, die ohne aufzublicken ihre Arbeit tat. Schließlich entschloss er sich, seinen Platz neben der Nähmaschine wieder einzunehmen, doch sein schmales Kindergesicht zeigte einen bekümmerten Ausdruck, und wenn er zu Charlotte hinübersah, schien er sie um Verzeihung zu bitten.

Himmel über dem Kilimandscharo
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