Graue Wolken zogen sich über Kilwa Kivinje zusammen, als der Küstendampfer im Hafen festmachte. Charlotte stand fröstelnd an der Reling und hielt mit einer Hand den Tropenhelm fest, der ihr sonst vom Kopf geweht worden wäre. Wie trübsinnig diese eigentlich doch reizvolle Landschaft auf sie wirkte. Vielleicht lag es an dem aufkommenden Gewitter – eine Seltenheit in der Trockenphase –, vielleicht auch an ihrer Müdigkeit, denn sie hatte zwei Nächte auf dem Schiff verbracht, ohne rechten Schlaf zu finden. Weder der palmenbestandene Strand noch die weiße Festung der deutschen Schutztruppe mit den vorgelagerten Häusern und Hafenanlagen konnten ihr Begeisterung abringen, auch die schwach begrünten, flachen Hügelketten im Hintergrund ließen sie gleichgültig. Sie spürte eine unerklärliche Abneigung gegen diesen Landstrich und sehnte sich zurück aufs Meer, wo spielende Delphine das Schiff so anmutig begleitet hatten.

Während über ihnen schon die ersten Blitze aufzuckten, wurden die schwarzen Arbeiter von ihren Bewachern mit eisernen Fesseln aneinandergekettet und im Gänsemarsch über den Landungssteg getrieben. Charlotte hatte zwar früher in Daressalam häufig solche unangenehmen Bilder vor Augen gehabt, heute jedoch trugen sie weiter zu ihrer trüben Stimmung bei. Auch Juma starrte beklommen auf die Gefangenen und schien sehr froh zu sein, dass ihm selbst ein besseres Schicksal beschieden war.

Das Bezirksamt war nicht besetzt, doch sie schafften es gerade noch, trockenen Fußes die Festung zu erreichen, wo man sie ohne weitere Fragen einließ. Kaum waren sie über den Innenhof zum Hauptgebäude gelaufen, da krachten über ihnen die Donnerschläge, und der Regen klatschte wie aus Eimern auf den roten Staub.

Es stellte sich heraus, dass nur wenige weiße Offiziere in der Festung anwesend waren, dafür aber der Bezirksamtmann und Stabsarzt Dr. Lott. Charlotte atmete erleichtert auf – ein Arzt war auf jeden Fall zur Stelle.

»Sie bringen Regen mit«, bemerkte Dr. Lott heiter, als er sie in seinem Dienstzimmer begrüßte. »Das ist ein gutes Omen, Frau von Roden. Seien Sie uns herzlich willkommen.«

Er war ein blonder Mensch mit rötlichem Schnauzbart, der wegen seiner hellen Haut stets mit Sonnenbränden zu kämpfen hatte. Auch jetzt waren Kinn und die Umgebung des Adamsapfels entzündet. Seine etwas ruppige Fröhlichkeit erinnerte Charlotte an Dr. Brooker.

»Ich bin zu einem Besuch bei meiner Cousine Klara Siegel in der Missionsstation Naliene unterwegs. Sie erwartet in den kommenden Tagen ein Kind. Ist sie vielleicht gar schon in Kilwa?«

»Bedaure, Frau von Roden. Eine Entbindung hatten wir hier schon lange nicht mehr. Dafür kann ich Ihnen aber heute Abend einen leibhaftigen Bischof präsentieren. Keine Sorge – er wird Sie nicht beißen, selbst wenn Sie Protestantin sind …«

Er bemühte sich, ihr den Hof zu machen, erzählte, dass dieser Posten in Kilwa reichlich eintönig sei, die Gegend sei lange vernachlässigt worden, erst in letzter Zeit würden Truppenstationen und Polizeiposten ausgebaut. Dabei sei die Landschaft nicht übel, drüben in den Bergen gewiss auch fruchtbar, sicher nicht mit dem Usambara-Gebirge oder dem Kilimandscharo zu vergleichen, aber immerhin. Schließlich versicherte er ihr, dass er ihren Mut bewundere – es sei immer noch eine kleine Sensation, wenn eine weiße Frau ganz allein durch die Kolonie reise. Charlotte lächelte höflich zu seinem Geschwätz. Er war ein wenig lästig, aber im Grunde ein anständiger Bursche, und wie die meisten jungen deutschen Offiziere hatte er lange keine weiße Frau mehr gesehen.

»Meine Güte! Ich rede Ihnen die Ohren voll. Mtusi – zeig Frau von Roden die Gästezimmer!«

Das Abendessen wurde in der Offiziersmesse eingenommen, einem recht karg eingerichteten Raum mit hell gestrichenen Wänden, einem klobigen Schrank aus dunklem Holz und einer langen, weiß gedeckten Tafel. Gerahmte Fotografien ergänzten die Ausstattung: ein Bild der Lüneburger Heide, ein Foto des Reichspostdampfers Bürgermeister und das übliche Bild von Kaiser Wilhelm II. Es waren außer Dr. Lott nur zwei junge Feldwebel und der Funker erschienen, ein Unteroffizier lag krank darnieder und ließ sich entschuldigen, dafür aber saßen drei geistliche Herren mit am Tisch.

»Seine Exzellenz, Bischof Cassian Spiß – Frau von Roden aus der Kilimandscharo-Region.«

Charlotte hatte zuerst geglaubt, die Ankündigung eines leibhaftigen Bischofs sei als Scherz zu verstehen gewesen, jetzt wurde sie eines Besseren belehrt. Bischof Cassian hatte zum Glück nichts von jenen wohlgenährten Prälaten, über die ihr Großvater früher gern gespottet hatte. Er war eher schmal, das dunkle Haar war an der Stirn gelichtet, und er trug das Habit der Benediktiner in Weiß, wie es in Afrika üblich war. Das Bischofskreuz auf seiner Brust war keineswegs mit Diamanten besetzt, sondern aus schlichtem Metall. Seine beiden Begleiter waren Laienbrüder und grau gewandet, sie erschienen ihr von Statur und Gesichtszügen her jedoch handfester und wurden ihr als Andreas Scholzen und Gabriel Sonntag vorgestellt.

Charlottes anfängliche Befangenheit schwand rasch, denn der schwarzbärtige Bischof erwies sich als leutselig, und es störte ihn wenig, dass sie sich gleich als Protestantin und Enkelin eines Superintendenten zu erkennen gab.

»Ihr Schwager hat also eine evangelische Missionsstation bei Naliene aufgebaut – das ist große Anerkennung wert. Ja, wir von der päpstlichen Fraktion müssen uns anstrengen, damit wir nicht von den Protestanten überrundet werden. Aber im Grunde sind wir doch alle Botschafter des einen christlichen Glaubens …«

Er stammte aus dem Süden, wie man an seiner Aussprache hören konnte; als sie ihn unbefangen fragte, ob er aus dem Bayrischen käme, widersprach er heftig: Er sei Tiroler.

Dr. Lott begann sofort das Lied von den lustigen Tirolern anzustimmen, und da die schwarzen Angestellten zum Essen auch Bier und Whisky serviert hatten, fielen die Offziere begeistert ein. Der Bischof ließ ihnen ihren Spaß, fügte aber hinzu, dass man in seiner Heimat keineswegs lustiger als anderswo sei und dass so mancher Bergbauer dort ein hartes Leben führe. Charlotte überlegte, ob er vielleicht gar selbst der Sohn eines solchen Bauern war, einer jener begabten Knaben, denen die katholische Kirche eine Ausbildung zum Priester ermöglichte. Trotz seines fast asketisch wirkenden Äußeren schien er ausdauernd und von robuster Gesundheit zu sein, das Fieber, das fast jeden Europäer in Afrika befiel, hatte ihm bisher nichts anhaben können.

»Wenn ich auch einmal raten darf«, wandte er sich schmunzelnd an sie. »Könnte es sein, dass Sie Ihre Kindheit im schönen Ostfriesland verbracht haben?«

»Hört man das so deutlich?«

»Ein wenig«, erwiderte er zurückhaltend. »Nur wenn man ein Ohr für Dialekte hat.«

Er hatte schon vor sieben Jahren in der Nähe von Songea eine Missionsstation gegründet und eine Kirche erbaut. Dort hatte er auch die Sprachen der Einheimischen erlernt und ihre Grammatik verfasst. Die der Wangoni, die aus Südafrika eingewandert waren, und die der Kigoni, der ursprünglichen Bewohner der Gegend um Songea.

»Es ist ein vielverbreiteter Irrtum, wenn man glaubt, die Sprachen der Eingeborenen seien arm – ich habe festgestellt, dass sie unendlich viele Sachverhalte und auch Gemütszustände ausdrücken können, für die es im Deutschen manchmal gar kein Adäquat gibt. Aber dieses Wissen erschließt sich dem Europäer nicht, weil er sich keine Mühe macht, diese Sprachen zu erlernen, und weil er die Denkweise der Afrikaner nicht begreifen kann …«

Was für ein Wunder – er hatte vor Jahren die Schriften von Heinrich Barth gelesen, den er hoch schätzte. Allerdings diente sein eigenes Interesse an den afrikanischen Sprachen nur einem einzigen Zweck: »Wer auszieht, die Eingeborenen eines fremden Landes zum christlichen Glauben zu führen, der muss verstehen, was in ihren Köpfen vor sich geht, und mit ihren eigenen Worten zu ihnen reden können. Nur so und nicht anders kann Gottes heilige Botschaft in ihren Herzen Wurzeln schlagen …«

»Dann ist Ihre Gemeinde am Njassa-See wohl sehr groß?«

Er strich sich ein wenig verlegen über den schwarzen Kinnbart, seinem Lächeln war jedoch der Stolz auf den Erfolg abzulesen.

»Wenn wir in einigen Wochen in Peramiho ankommen, hoffe ich, dort bereits weitere bekehrte Heidenkinder anzutreffen. Unsere Arbeit ist mühsam und voller Rückschläge, aber dennoch sieht Gott der Herr mit Wohlgefallen auf unser Werk, Frau von Roden …«

»Seine Exzellenz wartet noch auf zwei junge Damen, ohne die er nicht weiterreisen mag«, stichelte Dr. Lott, der ordentlich gebechert hatte und sich darüber ärgerte, dass die junge Frau von Roden nur noch Augen für den Bischof hatte.

»Das ist richtig. In den nächsten Tagen werden zwei Missionsbenediktinerinnen aus Tutzing mit dem Küstendampfer hier eintreffen. Wir werden dann alle gemeinsam den langen Fußweg über Liwale bis hinüber nach Peramiho gehen …«

Das war die von ihm gegründete Gemeinde bei Songea – gut vierhundert Kilometer westlich von Kilwa, in der Nähe des Njassa-Sees.

»Na, hoffentlich sind die Damen gut zu Fuß!«, witzelte einer der beiden Feldwebel.

Charlotte bedauerte, dass sie sich der Gruppe nicht anschließen konnte, doch Naliene lag weiter nördlich, und außerdem wollte sie schon am nächsten Morgen aufbrechen, um ja keine Zeit zu verlieren.

»Darf ich Ihnen meinen Segen mit auf den Weg geben – auch wenn Sie die Enkelin eines Superintendenten sind?«, fragte der Bischof aus Tirol, als sie sich nach Stunden voneinander verabschiedeten. Seine Augen blickten sie dabei sehr ernsthaft an, und doch war sie fast sicher, dass der dunkle Vollbart einen heiteren Zug um seine Mundwinkel versteckte.

»Ich bitte Sie darum, Eure Exzellenz …«

Am folgenden Morgen hatte sie beim Frühstück einen harten Kampf mit Dr. Lott zu bestehen, der sie unbedingt in Kilwa zurückhalten wollte.

»Wozu wollen Sie drei Tage lang durch die Wildnis ziehen, um dann doch wieder hierher zurückzukehren? Bleiben Sie hier bei uns, bis Ihr Schwager und die Cousine eintreffen – so ist es doch beschlossen, oder nicht?«

»Ich bin nicht ganz sicher, Doktor. Möglicherweise ist das Kind schon geboren. Oder es lässt sich noch ein bis zwei Wochen Zeit …«

»Ich sehe schon«, knurrte er. »Sie langweilen sich hier bei uns. Nun, ich kann es Ihnen nicht verdenken. Nur Neger, Inder und Baumwolle, die in Bündeln auf die Schiffe verladen wird. Mit aufregenden Ereignissen und großen Heldentaten können wir nicht dienen, da müssen Sie sich an den Herrn Bischof halten …«

»Aber nein, ich fühle mich bei Ihnen herzlich aufgenommen. Aber ich habe meine Cousine sieben Jahre lang nicht gesehen und kann es kaum erwarten, sie wieder in die Arme zu schließen.«

Endlich hörte er auf, sie zu bedrängen, und bedauerte nur, sie nicht begleiten zu können. Er gab Charlotte vier Maultiere und zwei schwarze Begleiter mit auf den Weg. Beim Abschied hielt er seinen Tropenhelm mit dem Arm gegen die Brust gepresst und drückte ihr lange die Hand.

»In diesem Land kann ein Mann auf drei verschiedene Arten vor die Hunde gehen«, sagte er verdrießlich. »Die einen rafft das Fieber dahin, die anderen der Alkohol. Aber die übelste Art zu krepieren ist die Langeweile.«

Er lachte laut über seinen Witz, doch Charlotte sah ihm an, dass ihm im Grunde nicht zum Scherzen zumute war.

Je weiter sie ins Landesinnere ritten, desto drückender wurde die Hitze, denn es fehlte der kühle Küstenwind. Der Weg führte sacht bergan durch lichte Wälder und Steppengebiete, die wenigen Flussläufe, die ihnen zu Gesicht kamen, waren nahezu ausgetrocknet, nur in der Mitte des leeren Flussbettes suchte sich ein schlammiges Rinnsal seinen Weg zum Meer. Häufig begegneten ihnen kleine Gruppen von Trägern, die unter der Führung eines weißen Vorarbeiters schwere Warenballen auf ihren Schultern zur Küste schleppten. Baumwollpflanzungen dehnten sich zu beiden Seiten des Weges aus, darauf wuchsen halbhohe, dürre Büsche von grauer Farbe, auf denen die geöffneten Samenkapseln wie weiße Flöckchen hafteten. Zwischen dem Gestrüpp sah sie die Pflücker mit ihren Körben voller flauschiger, weißer Fasern. An einigen Stellen hatte man die Baumwolle auf großen Tüchern zum Trocknen ausgebreitet, viereckigen Schneefeldern gleich, in denen schwarze Frauen umherliefen, um die zarte wolkige Pracht zu wenden.

Charlotte verspürte eine seltsame Spannung, ein tiefes Unbehagen, dessen Grund sie erst begriff, als Juma ihn aussprach.

»Nichts reden, bibi Roden. Auch kein Gesang. Nicht wie bei uns, wenn Kaffee pflücken.«

»Du hast recht, Juma. Das ist seltsam.«

Verhielten sich die Baumwollpflücker so still, weil überall Aufseher mit Stöcken und Nilpferdpeitschen herumstanden? Sie waren ebenfalls Schwarze, aber ähnlich wie die Askari stammten sie vermutlich nicht aus der Gegend und wurden für ihre Arbeit gut bezahlt. Was hätte Max wohl dazu gesagt? Er war immer der festen Meinung gewesen, dass ein Pflanzer seine Angestellten zwar mit fester Hand regieren sollte, doch sie mit der Peitsche zur Arbeit zu zwingen, wäre für ihn ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Schließlich war man aufeinander angewiesen.

In den Nächten, die sie auf einem Lagerplatz unter freiem Himmel verbrachten, gewann sie den Eindruck, als sei das Schweigen auch auf ihre schwarzen Begleiter übergegangen. Sie hatten ein notdürftiges Zelt für die weiße bibi aus Stöcken und Tüchern errichtet, die drei Schwarzen schliefen auf ihren Bastmatten, doch die sonst üblichen, leisen Gespräche vor dem Einschlafen blieben aus. Juma lagerte vor dem Zelt seiner Herrin, die beiden anderen schliefen ein Stück davon entfernt, auf der gegenüberliegenden Seite der Feuerstelle.

»Weshalb redet ihr nicht miteinander, Juma?«

»Wollen nicht reden mit Juma. Nur schnell mit Maultieren wieder zurückreiten. Zur Küste. Viel Angst.«

»Angst? Wovor?«

»Nicht wissen. Nicht sagen.«

Es hob ihre gedrückte Stimmung keineswegs, auch wenn sie sich sagte, dass gewiss irgendein afrikanischer Geisterglaube hinter solchen Ängsten stehen musste. Einen wirklichen Grund dafür konnte sie nicht herausfinden. Die Nächte waren ruhig, und in den größeren Dörfern gab es deutsche Polizeistationen.

Am Nachmittag des dritten Reisetages erreichten sie endlich das Missionshaus, das Peter Siegel einige Kilometer von dem Ort Saliene entfernt im Busch errichtet hatte. Charlotte kannte es schon aus Klaras Zeichnungen, es war nicht viel mehr als ein lang gezogener Bau aus Zweigen und Lehm, mit Stroh gedeckt und von ein paar kleinen Nebengebäuden umgeben. Und doch erschien ihr die Missionsanlage wie eine grüne Oase der Hoffnung. Ein Garten mit allerlei Gemüsesorten und Kräutern, Mais, Ananas und kleinen Obstbäumen war neben den Hütten angelegt worden; Ziegen und Hühner liefen vor dem Missionshaus herum, und über allem breitete ein gewaltiger Maulbeerfeigenbaum seine Zweige aus. Er musste uralt sein; sein Stamm war dreigeteilt, die Äste wanden sich knorrig nach allen Seiten, voll besetzt mit süßen Früchten.

Braune Affen, die im Baum herumsprangen, kündigten die Gäste mit lautem Kreischen an. Eine junge Eingeborene erschien am Eingang des Hauses und starrte ihnen mit erschrockenen Augen entgegen, dann verschwand sie. Gleich darauf hörten sie den Aufschrei.

»Charlotte!«

Da war Klara! Himmel, sie mochte es kaum glauben, sie war es wirklich. Kleiner, als sie sie in Erinnerung hatte, das Gesicht rot vor Aufregung, der Leib unter dem weißen Kleid rund wie eine Tonne.

»Du hast tatsächlich zu uns gefunden. Mein Gott – wie weit du gereist bist! Ich komme fast um vor Freude. Lass dich umarmen! Stör dich nicht daran, dass ich dick wie ein Fässchen bin. Ach, Charlotte, meine geliebte große Cousine. Wie … habe … ich dich … vermisst …«

Trotz ihres unförmigen Körpers und des steifen Beins war sie Charlotte entgegengelaufen und hatte sich in die ausgebreiteten Arme der Cousine geworfen. Sie zitterte vor Glück, redete wie ein Wasserfall und begann dabei immer heftiger zu schluchzen. Auch Charlotte weinte, während sie Klara umfangen hielt. Wie zierlich sie war, sie spürte fast nur den unförmigen Bauch, Klaras Körper war mager, ihre Arme waren dünn. Weshalb hatte sie diese Reise erst jetzt angetreten? Sie hätte Klara doch in Daressalam besuchen können. Ach, sie hatte sich selbstsüchtig in ihren Kummer vergraben, sich auf der Plantage eingeigelt und Briefe geschrieben. Als ob Geschriebenes die Gegenwart eines geliebten Menschen ersetzen könnte!

»Gott segne dich, Charlotte!«, hörte sie Peter Siegels Stimme. »Sei uns willkommen. Gerade jetzt hat Gott dich zu uns geführt, wo wir dich so dringend brauchen.«

Auch er hatte sich verändert, schien offener, weniger ehrgeizig und dafür herzlicher geworden zu sein. Sein Haar war noch spärlicher und an den Schläfen schon grau, doch sein Schritt war nicht mehr zögerlich wie früher, sondern fest. Er hatte eine Menge erreicht, und als Charlotte ihm sagte, seine Missionsstation käme ihr vor wie ein Garten Eden, lächelte er voller Stolz.

»Der Anfang ist gemacht. Aber es muss weitergehen. Eine Kirche wollen wir bauen. Mit einem Turm und einer Glocke, die die Gläubigen zur Andacht ruft.«

Als sie im Missionshaus auf selbst gebauten Hockern um einen wackeligen Tisch saßen, wollte er nicht aufhören, von seiner Arbeit zu berichten. Von seiner Schule, von den bekehrten Heiden, von der Kirche, die im kommenden Jahr schon errichtet werden sollte, zwar nicht aus Stein, aber aus Holz und Lehm. Gott der Herr brauche keine gewaltigen Bauten, sein Geist wehe überall, auch in einer kleinen Hütte. Klara hielt Charlottes Hand und warf nur ab und an einen Satz ein, der Peters Berichte bestätigte und ihn in ein glänzendes Licht rückte. Charlotte hörte geduldig zu, ließ sich mit frischer Ziegenmilch und Maisgebäck bewirten und wechselte immer wieder Blicke mit Klara. Es war wie früher, wenn sie bei Tisch den Erwachsenen zuhören mussten und sich dabei mit den Augen verständigten. Ja, sie begriff, dass Klara ihren Mann liebte und bewunderte, es war schön zu spüren, dass die beiden glücklich miteinander waren. Aber Klaras Blicke sagten ihr auch, dass nicht alles so großartig war, wie Peter es darstellte. Sie sagten es nicht auf spöttische Weise, sondern eher mit leisem Bedauern und der unausgesprochenen Bitte um Verständnis.

»Die Eingeborenen sind wohl in ihren Dörfern?«, fragte Charlotte schließlich zögerlich. »Ich meine nur, weil in Daressalam auch viele von ihnen bei der Missionsstation wohnen …«

»Oh, wir leben hier mit fünf Wangoni-Familien, die sich unter dem Schutz der Missionsstation sehr wohl fühlen.«

Charlotte spürte Klaras bekümmerten Blick und begriff, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Außer der jungen Eingeborenen, die sie bei Tisch bediente, hatte sie keinen einzigen Schwarzen zu sehen bekommen. Nur Juma und die beiden Männer aus Kilwa hockten draußen unter dem Feigenbaum und schienen jetzt endlich miteinander zu reden.

»Sie sind gestern Abend alle fortgegangen«, sagte Klara. »Zu einer ngoma, einer magischen Zeremonie. Wir haben die ganze Nacht über ihre Trommeln gehört. Sie werden wohl eine Menge pombe getrunken haben, denn sie sind bis jetzt nicht wiedergekommen …«

Peter Siegel beeilte sich zu versichern, dass er solche Feiern zwar wenig leiden könne, da sie regelmäßig in Alkoholgenuss und Haschischrauchen endeten, doch es sei leider nicht möglich, sie den Eingeborenen seiner Mission zu verbieten. Nur Matumbe nehme niemals daran teil, sie sei von ihrem Stamm vor Jahren verstoßen worden, weil sie mit sechs Fingern an jeder Hand geboren wurde. Tatsächlich entdeckte Charlotte jetzt bei näherem Hinsehen, dass die schwarze Frau an jeder Hand zwei kleine Finger statt nur einem besaß, eine seltsame Missbildung, die sie bisher geschickt verborgen hatte. Abgesehen von diesem Mangel war sie jedoch eine hübsche Person mit ausdrucksvollen Augen und sorgfältig in kleine Zöpfchen geflochtenem, langem Haar.

Als die Dunkelheit hereinbrach, trieb Matumbe die Ziegen und Hühner in den Stall, band die Maultiere an und sorgte dafür, dass Juma und die beiden Begleiter ihr Nachtlager in einem der kleinen Gebäude beziehen konnten. Peter Siegel hatte ein Einsehen und bot Charlotte sein eigenes Bett an, er selbst würde nebenan im Wohnraum schlafen. Er blickte Klara lächelnd an – hatte sie ihm von Leer erzählt? Von den Zeiten, als sie noch mit Cousine Charlotte im selben Bett schlief und die beiden Schwatzliesen Tante Fannys Unwillen erregten?

Was kümmerte sie die kärgliche Einrichtung des kleinen Schlafraums? Die kahlen Wände, von denen der Lehm bröckelte, die einfachen Kisten, in denen man Kleidung und anderes aufbewahrte? War es daheim bei der Großmutter viel komfortabler gewesen? Ein wenig, denn es gab zumindest Tapeten an den Wänden und eine wackelige Kommode. Sonst aber war alles wie damals: Es war dunkel im Zimmer, sie lagen dicht beieinander und flüsterten.

»Weißt du noch, wie du mir damals immer diese aufregenden Liebesgeschichten erzählt hast? Du hast sie bei Kantor Pfeiffer heimlich gelesen …«

»Weißt du noch, wie wir auf den Dachboden gestiegen sind? Die kleine Truhe mit der Zeichnung darauf … Der Kilimandscharo …«

»Als wir vor Ohlsens Laden standen und den Löwen angestarrt haben …«

Wie seltsam. Sie redeten kaum über die vergangenen sieben Jahre, in denen sie voneinander getrennt gewesen waren. Stattdessen stieg die Kinderzeit wieder auf, der Frühling in der kleinen Stadt an der Leda, die ersten, lindgrünen Knospen, wenn der Himmel noch grau über der Stadt hing und das Wasser dunkel und schmutzig aussah. Die große Windmühle, die rauchigen Gaststätten, der Markt mit Butter und Käse und duftendem Roggenbrot. Und Paul, der mit Lehmklüten nach ihnen geworfen hatte.

»Erinnerst du dich noch, wie verzweifelt Ettje damals war, als sie den Pickel auf der Stirn hatte?«, fragte Klara kichernd. »Wie gut, dass George niemals in Erwägung gezogen hat, sie zu heiraten, sie ist so glücklich mit ihrem Mann.«

»Ja, George hatte nur Augen für Marie …«

Das Geräusch von Huftritten störte ihr Geflüster, ein Maultier schnaubte draußen vor dem Gebäude, jemand murmelte leise, beruhigende Worte.

»Sind das eure Missionskinder? Aber wieso kommen sie mitten in der Nacht zurück?«

»Aber nein. Sie haben keine Maultiere. Es muss jemand fortgeritten sein …«

Die schönen Erinnerungen, in die sie sich eingesponnen hatten, waren plötzlich zerrissen und davongeweht. Etwas stimmte nicht. Man hatte ihr etwas verheimlicht, um sie nicht zu beunruhigen.

»Bleib liegen. Ich schaue einmal nach.«

»Das ist doch nicht nötig, Charlotte. Peter wird sich darum kümmern.«

Sie stand auf und zog sich die Jacke über das Nachtgewand. Drüben im Wohnraum war es dunkel, das unverglaste Fenster mit einem hölzernen Laden verschlossen. Doch als sie die Tür öffnete, erblickte sie Peter Siegel, der im langen, weißen Nachthemd mit einer Petroleumlampe in der Hand vor dem Missionshaus stand. Der Lampenschein ließ im zerklüfteten Stamm des Feigenbaums verzerrte Gesichter erstehen, als lösten sich jene Geistwesen aus dem Holz, vor denen die Schwarzen solche Furcht hatten. Ein Affe, den das Licht geweckt hatte, zeterte verärgert.

»Deine Schwarzen sind fortgeritten«, sagte Peter mit großer Verwunderung. »Hast du eine Ahnung, was sie bei dunkler Nacht davongetrieben haben mag?«

»Sie wollten zurück zur Küste, weil sie vor irgendetwas Angst hatten. Zumindest hat Juma mir das erzählt.«

»Dann müssen sie ihn mit diesem Blödsinn angesteckt haben, denn er ist mit ihnen geritten.«

»Was?«

Sie war wie vor den Kopf geschlagen. Juma, der elende Hasenfuß. Wie konnte er ihr das antun? Hatte er nicht lange Jahre auf der Plantage gelebt und war immer gut behandelt worden? Ach, hätte sie doch nur den treuen Kapande mitgenommen! Oder am besten Sadalla, aber den hatte sie Elisabeth nicht fortnehmen können, das Kind hing an ihm fast so sehr wie an Hamuna.

Es war nicht zu ändern, in der Dunkelheit hätte man Juma sowieso nicht aufspüren und zur Umkehr überreden können. Sie kehrten ins Haus zurück, verriegelten vorsichtshalber die Tür und legten sich wieder schlafen.

»Alles in Ordnung, Klara. Es waren nur meine Begleiter, die nach Kilwa zurückgeritten sind. Was hast du denn?«

Charlotte spürte, dass sich Klaras Körper neben ihr versteifte.

»Es ist nichts«, flüsterte Klara, noch ein wenig außer Atem. »Du hast doch gesagt, der Arzt will in einigen Tagen kommen, nicht wahr?«

»Das hat Dr. Lott mir versprochen …«

»Nun, dann werde ich auf jeden Fall so lange damit warten.«

»Du … du hast … Wehen?«

Himmel über dem Kilimandscharo
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