Bitter dachte Charlotte daran, dass sie sich noch vor nicht allzu langer Zeit in das Haus der Großeltern zurückgewünscht hatte. Jetzt war sie wieder hier angekommen, aber das Haus hatte nichts Heimeliges, es war eine Zuflucht, und in seinen Mauern herrschte Niedergeschlagenheit. Tante Fanny, die die Schlafkammer für sich allein in Besitz genommen hatte, musste mit der altgewohnten Enge vorliebnehmen, und auch Paul wohnte wieder bei den Großeltern, da das winzige Gehalt, das er bei Gericht bezog, nicht zum Leben reichte. Er musste sich ganz von unten hochdienen, das nicht abgeschlossene Studium war nichts als verlorene Zeit gewesen.

»Natürlich habe ich von dem Konkursverfahren gewusst«, gab er zu. »Aber Christian behauptete immer, alles sei nur ein Missverständnis, die Sache werde bald niedergeschlagen und ich solle euch auf keinen Fall damit beunruhigen.«

»Was wird mit ihm geschehen, wenn er zurückkommt?«, forschte Charlotte mit bangem Herzen.

»Er wäre ein Idiot, wenn er zurück nach Leer käme. Sie können ihn ins Gefängnis stecken. Sogar ins Zuchthaus.«

»Ins … Zuchthaus?«

Paul setzte eine wissende Miene auf – bei seinen Vorgesetzten war er nur ein kleines Licht, hier, zu Hause, konnte er mit seinem Wissen prahlen.

»Klar. Betrügerische Absicht. Unordentlich geführte Bücher. An seiner Stelle würde ich mich entweder aufhängen oder für immer verschwinden. Hat er denn keinen Abschiedsbrief hinterlassen? Selbstmörder tun so was häufig.«

»Mir blieb ja gar keine Zeit, nachzusehen«, murmelte Charlotte beklommen.

Ausgerechnet Ettje, mit der Charlotte früher so manchen Krieg ausgefochten hatte, war der Mensch, der ihr jetzt Trost und Hilfe gab.

»Das hast du nicht verdient, Lotte«, sagte sie und nahm sie in die Arme. »Und auch Klara nicht. Aber wir sind für euch da, das hat Peter auch gesagt. Es wird schon werden.«

Ihre kurzen Besuche, bei denen sie ihre drei Buben mitbrachte, trugen Leben und Fröhlichkeit in das triste Haus. Die beiden Älteren tobten durch Küche und Wohnstube, der Jüngste krabbelte schon, mit verkniffenem Gesichtchen und glänzenden, hellblauen Augen. Ettje war glücklich in ihrer Mutterschaft, und sie gab ihr Glück weiter an alle, die es benötigten. Sie versorgte Charlotte und Klara mit allerlei Kleinigkeiten, die die beiden in ihrer Eile im Ohlsen’schen Haus vergessen hatten – Haarnadeln, Schleifen, Handschuhe und Strumpfbänder –, sie setzte ihrer Mutter den jüngsten Enkel auf den Schoß, tröstete die Großmutter und saß mit ihr bei dem Kranken. Sobald sie mit Charlotte allein war, schmiedete sie Pläne für die Zukunft, so wie sie es auf ihre praktische Art verstand.

»Wenn der Großvater nicht mehr ist, wird es knapp werden mit dem Geld. Peter hat gesagt, dass wir die Mutter zu uns nehmen. Du und Klara – ihr könnt euch dann um die Großmutter kümmern.«

Ettje hatte sich alles schon überlegt. Charlotte konnte Klavierunterricht geben, Klara würde wieder nähen – auf diese Weise konnten sie ihren Lebensunterhalt bestreiten. Und wenn es nicht reichen sollte – Peter verdiente nicht schlecht, und die Schwiegereltern halfen auch mit. Man würde sie nicht verhungern lassen.

»Lass ein wenig Gras über die Sache wachsen, dann wirst du vielleicht wieder heiraten, Charlotte. Du bist hübsch. Auch ohne Mitgift wirst du einen neuen Ehemann finden.«

»Aber ich bin mit Christian verheiratet!«

Ettje seufzte tief und sah sie kopfschüttelnd an.

»Du glaubst doch nicht, dass du ihn je wiedersiehst, oder? Hast du nicht gehört, was Paul gesagt hat? Nach einigen Jahren kannst du ihn für tot erklären lassen …«

»So etwas tut man nicht, Ettje!«

»Großer Gott! Willst du bis an dein Lebensende Klavierstunden geben? Wenn du wieder heiratest, bist du versorgt, und um Klara werden wir uns schon kümmern!«

Insgeheim war Charlotte fest entschlossen, sich niemals wieder einem Ehemann anzuvertrauen. Sie hatte den Strumpf mit ihrem Schmuck und den anderen Wertsachen ganz unten in ihre Schatulle gelegt, sollte der schwarze Götze aus Afrika darüber wachen. Wenn die Zeit gekommen war, würde sie die Sachen zu Geld machen und mit Klara fortgehen, nach Emden oder Aurich, vielleicht auch nach Jever. Sie würde ein Geschäft mieten und einen Handel beginnen, warum nicht? Sie würde es schon schaffen. Hier in Leer wollte sie auf keinen Fall bleiben.

Eine Woche später stand ein Fremder vor der Tür. Ein magerer, bärtiger Mann ohne Mantel und Rock, die Weste zerrissen und voller dunkler Flecken. Charlotte brauchte eine Weile, um ihren Ehemann wiederzuerkennen, dann zog sie die Tür auf und ließ ihn eintreten.

Sie setzte ihn an den Küchentisch, wo er Brot und Wurst hinunterschlang, warme Milch trank und wirres Zeug redete. Er habe alles noch abwenden wollen, in Bremen sei man ihm Geld schuldig gewesen, damit hätte er sein Geschäft retten können. Doch der Gläubiger sei nicht anzutreffen gewesen, alles habe sich verzögert, und dann habe ihm das Geld für die Rückfahrt nach Leer gefehlt. Charlotte solle nicht verzagen, er wolle ganz neu anfangen, das habe er sich geschworen. Er liebe sie, sie sei alles, was ihm geblieben sei, er würde für sie arbeiten, ganz gleich, was, er würde für sie Kisten schleppen oder Mist fahren, wenn es ihr nur gut ginge …

Charlotte und Tante Fanny hatten Mühe, ihn auf das Sofa in der Wohnstube zu schaffen, dort deckten sie eine Kolter über ihn und ließen ihn schlafen.

»Das hat uns noch gefehlt!«, jammerte Tante Fanny. »Was denkt er sich dabei? Nach allem, was er uns angetan hat, glaubt er wohl noch, wir würden ihn durchfüttern!«

»Wäre es dir lieber gewesen, er hätte sich das Leben genommen?«, fragte Klara empört.

»Ach was! Es ist rücksichtslos, so einfach hier hereinzuschneien!«

Charlotte war hin- und hergerissen. Sie war unendlich erleichtert, dass Christian lebte, zugleich aber war ihr bewusst, dass dieser zu Tode erschöpfte und verwirrte Mensch nicht der Ehemann war, dem sie sich vor zwei Jahren anvertraut hatte. Sie hatte nur einen Teil von ihm gekannt, den großzügigen, zärtlichen, hin und wieder auch starrsinnigen Mann, der sich so gern mit schönen Dingen umgab und seine Frau in einen goldenen Käfig sperrte. Jetzt kannte sie auch Christian Ohlsens andere Seite: Er war ein Verschwender und ein Betrüger, ein Feigling und ein untauglicher Geschäftsmann.

Christian schlief wie ein Stein bis zum folgenden Morgen, dann erschien er bei Tante Fanny in der Küche und begehrte warmes Wasser, um sich zu rasieren. Tante Fanny flüchtete entsetzt zu Charlotte, die mit Klara oben bei der Großmutter war, um das Bettzeug des Kranken zu wechseln.

»Das kann kein Mensch von mir verlangen! Kümmere dich um deinen Mann, Charlotte. Du hast ihn schließlich geheiratet!«

Charlotte trug frische Wäsche und Kleidung nach unten, besorgte ihm das Rasierzeug des Großvaters und sah zu, wie er sich wusch. Er war verprügelt worden, hatte blaue Flecke am ganzen Körper, und nachdem er sich rasiert hatte, sah sie, dass über seine rechte Wange eine tiefe Schramme lief. Sollte sie Mitleid mit ihm haben?

»Wie ist das passiert?«

Er war verlegen, schämte sich, ihren Blicken ganz und gar ausgeliefert zu sein, doch sie nahm keinerlei Rücksicht darauf.

»Hatte ich erwähnt, dass ich eine Forderung eintreiben wollte? Ein dreckiger Inder in Bremen, der nicht zahlen will …«

Er stockte und senkte den Blick.

»Verzeih mir. Es gibt überall gute und schlechte Menschen.«

»Gewiss!«

Es gab schon lange keine Verbindung mehr zu den Großeltern in Indien. Sie wusste nicht einmal, ob sie noch lebten.

Er zog sich Wäsche und Strümpfe an, stülpte das Hemd über den Kopf, stieg in die Hose, die ihm jetzt am Bund zu weit war. Auch Weste und Jacke passten nicht mehr richtig, doch als er fertig angekleidet war und das Haar gekämmt hatte, lächelte er sie schüchtern an.

»Komm zu mir, mein Schatz. Ich bin so glücklich, dass du in dieser Stunde der Not zu mir stehst. Ich liebe dich, Charlotte.«

Sie machte keine Anstalten, von ihrem Stuhl aufzustehen. Seine Mundwinkel sanken herab, das Lächeln erstarb.

»Ich will eine Erklärung von dir, Christian!«

»Natürlich, mein Schatz. Du hast ein Anrecht darauf. Niemand hat mehr Anrecht darauf als du. Ich sagte ja, dass ich alles noch hätte abwenden können …«

Zornig schlug sie mit der Faust auf den Küchentisch. Geschirr klirrte, ein Kaffeelöffel fiel auf den Steinboden. Ihr Mann zuckte erschrocken zusammen.

»Die Wahrheit will ich wissen, Christian!«, fuhr sie ihn an. »Keine Ausreden und keine Lügen. Wie konnte es so weit kommen? Weshalb hast du mir unsere Lage verschwiegen? Wo bist du die ganze Zeit über gewesen?«

Er hatte sie noch nie zuvor so wütend gesehen. Sein Gesicht wurde aschfahl. Ein paarmal öffnete er den Mund, um zu einer Erklärung anzusetzen, hielt jedoch gleich wieder inne und schwieg verwirrt.

»Ist es so schwer? Dann will ich dir helfen. Kann es sein, dass das Geschäft schon in den roten Zahlen war, als du um meine Hand anhieltest?«

»Nein, Charlotte«, rief er erschrocken. »Das ist es nicht. Ich habe dich nicht um deiner Mitgift willen geheiratet. Glaub das bitte nicht. Ich liebe dich. Ich liebe dich mehr als mein Leben. Nur um deinetwillen bin ich jetzt zurückgekommen, und ich schwöre dir: Ich wäre lieber davongelaufen …«

»Das glaube ich dir gern!«

Die Sätze stürzten aus ihm heraus, als sei ein Damm gebrochen, Wahres und Erdichtetes, Geständnisse und Schönrednerei, verzweifelte Reue, Schwüre, Glaubhaftes und ganz offensichtliche Lügen. Sie unterbrach ihn mehrere Male, was nicht einfach war, denn es schien ihn unendlich zu erleichtern, sein Herz vor ihr auszuschütten. Dennoch wurde sie nicht schlau aus diesem verworrenen Wust von Worten, nur eines war ihr bald klar: Christian war kein abgefeimter Betrüger, er war ein Phantast, ein Mensch, der stets einige Meter über dem Erdboden schwebte und einen tödlichen Abgrund für ein liebliches Tal hielt. Er hatte Wechsel ausgestellt und sie mit neuen Wechseln bezahlt, hatte hier ein Loch aufgerissen, um ein anderes zu stopfen, hatte Gläubiger hingehalten, während er anderenorts schon wieder neue Schulden machte. Und wenn der Umsatz einmal gut gewesen war, hatte er das Geld für hübsche Dinge hinausgeworfen, hatte sich Anzüge machen lassen und seine Frau großzügig beschenkt.

»Wir fangen ganz neu an, Charlotte«, redete er, und seine Augen glänzten fiebrig. »Dies alles ist mir eine Lehre gewesen, ich werde von nun an ein anderer sein. Ein kleines Geschäft in einer Nebengasse, nur Tabak und Kaffee. Und du wirst an meiner Seite sein, im Laden stehen, die Kunden bedienen. Das hast du doch immer gewollt, Liebes …«

Sie ließ ihn reden und trug währenddessen die schmutzigen Kleider in die Waschküche, goss das Waschwasser in den Ausguss, schürte das Feuer im Herd und setzte einen Topf mit Milch auf. Er dachte tatsächlich daran, hier in Leer ein Geschäft zu eröffnen! Großer Gott, war er wirklich so naiv, oder hatte ihm die Verzweiflung den Verstand geraubt?

Noch bevor das Frühstück fertig war, erschienen zwei Polizisten vor dem Haus, um Christian in Arrest zu nehmen. Paul hatte gleich am frühen Morgen, noch bevor er seinen Dienst angetreten hatte, bei der Polizei Meldung erstattet, dass Christian Ohlsen nach Leer zurückgekehrt war. Dabei hatte er lediglich seine Pflicht erfüllt; alles andere hätte sich negativ auf seine Karriere auswirken können.

Christian schien wie betäubt, antwortete auf alle Fragen, ließ sich widerstandlos die Handfesseln anlegen. Als sie ihn abführten, ging er wie ein Traumwandler zwischen den beiden Polizisten, erst draußen vor der Kutsche wandte er sich nach Charlotte um, suchte mit hilflosen Augen ihren Blick. Dann stieß man ihn in den Wagen, und der Kutschenschlag klappte zu.

»Das musste ja so kommen«, sagte Tante Fanny. »Dieser Mensch ist ein Verbrecher. Aber du wolltest ihn ja unbedingt heiraten. Ich habe damals gleich gewusst, dass er ein Verbrecher ist …«

»Halt den Mund!«, fauchte Charlotte sie an.

Tante Fanny wich erschrocken vor ihrer Nichte zurück und verzog sich scheltend in die Küche. Nur Unglück und Schande hatte dieses Mädchen ins Haus gebracht, aber das war kein Wunder, alles Unheil hatte damals begonnen, als der arme Ernst sich mit einer Indianerin einließ. Das ungute Blut …

»Christian tut mir trotz allem leid«, sagte Klara. »Aber wir können ihm nicht helfen.«

»Das werden wir ja sehen!«

Was auch immer er getan hatte – Christian war kein Verbrecher. Er war leichtfertig, unbedacht, gewiss auch feige, aber er hatte niemanden erschlagen. Nein, sie würde nicht zulassen, dass man ihn ins Zuchthaus sperrte. Er war ihr Ehemann, sie hatte gelobt, zu ihm zu halten, in guten und in schlechten Zeiten. Sie würde für ihn kämpfen.

Die Großmutter war der gleichen Meinung. Christian Ohlsen hatte schwere Sünde auf sich geladen, aber er gehörte immer noch zu ihrer Familie. Ein Zuchthäusler hätte das Ansehen von Pastor Henrich Dirksen und seiner Familie endgültig ruiniert.

»Seht nach dem Kranken – ich gehe zu Dekan Claasen. Die Lutheraner müssen sich für uns einsetzen, das ist ihre Christenpflicht!«

Als sie durchgefroren und mit triefendem Regenschirm von ihrer Mission zurückkehrte, war sie aufgebracht.

»Dein Mann hat anschreiben lassen und das Geld nie eingefordert, dieser Dummkopf. Das heißt wirklich, die Gutmütigkeit zu weit treiben! Jeder arme Schlucker hatte bei ihm Kredit, konnte sich mit Reis, Kaffee und Schuhwichse versorgen, ohne jemals bezahlen zu müssen.«

Immerhin war Dekan Claasen der Meinung, dass Christian Ohlsen kein schlechter Mensch sein könne, habe er doch ein Herz für die Armen gehabt. Wenn auch eher aus Schlamperei denn aus christlicher Nächstenliebe.

Charlotte rang mit sich, dann überwand sie ihren Widerwillen und stattete Frau Sundermann in der Königstraße einen Vormittagsbesuch ab. Sie hatte immer eine Vorliebe für Charlotte gehabt, vielleicht konnte sie Einfluss auf ihren Mann nehmen.

Das Dienstmädchen starrte sie durch den Türschlitz an, auf ihre Frage, ob Frau Sundermann Zeit habe, sie zu empfangen, wisperte sie: »Ich weiß nicht …«

Noch vor einigen Wochen wäre Frau Sundermann ihr mit überschwänglicher Begeisterung entgegengelaufen, hätte Tee und Kuchen aufgefahren und Charlotte bestürmt, ihr einige Stücke auf dem Klavier vorzuspielen. Jetzt ließ sie sich Zeit, die Besucherin stand im Regen vor der Haustür und wartete mit bangem Herzen. Schließlich verkündete das Mädchen, Frau Sundermann erwarte sie, könne jedoch nur wenige Augenblicke erübrigen. Sie nahm Charlotte den Regenschirm ab – nicht jedoch den nassen Mantel – und ging voraus in den ersten Stock, wo sich die Wohnräume befanden.

»Meine Liebe! Wie freue ich mich, Sie zu sehen. Ach, das Schicksal meint es oft nicht gut mit uns. Treten Sie doch näher, ich bin leider sehr in Eile, aber für ein paar Worte ist immer Zeit …«

»Wie schade, dass ich ungelegen komme. Ich möchte Sie nicht aufhalten …«

Charlotte lächelte unbefangen, sie kam nicht als untertänige Bittstellerin, würde nicht darauf beharren, angehört zu werden. Ihr Gegenüber zögerte, dann siegte Frau Sundermanns empfindsame Seele über alle Vorbehalte.

»Setzen Sie sich doch, liebe Freundin. Geben Sie mir Ihren Mantel. Um Himmels willen – er ist ja völlig durchnässt. Grete! Weshalb hast du Frau Ohlsen nicht den Mantel abgenommen …«

Sie nahmen Platz, Frau Sundermann ließ Tee und Gebäck bringen, und es war keine Rede mehr von einer dringenden Verpflichtung. Stattdessen ließ Frau Sundermann ihrem Herzen freien Lauf.

»Dass dies gerade Ihnen geschehen musste! Einer solch wundervollen Künstlerin. Was für schöne Feste haben wir miteinander gefeiert! Wie einfühlsam haben Sie stets begleitet! Und Ihre Soloeinlagen … Ich war zu Tränen gerührt …«

Charlotte schwieg und hörte zu. War sie wegen ihres Klavierspiels gerührt oder wegen des geschäftlichen Desasters? Es war nicht leicht herauszubringen, denn Frau Sundermanns Gefühle flossen leicht ineinander. Sie bedauerte, dass es den schönen Laden nicht mehr gab, sie habe so gern bei Herrn Ohlsen gekauft. Was für ein höflicher, reizender Mensch. Wer hätte das von ihm gedacht?

»Auch ich hatte das nicht erwartet …«, warf Charlotte vorsichtig ein und nippte an ihrer Teetasse.

»Es wird Sie sicher freuen, dass der Laden bald neu eröffnet wird …«

Moritz Schmidt, ein Vetter von Sundermann, hatte Haus und Ladeneinrichtung ersteigert. Er würde sein kleines Geschäft in der Osterstraße schließen und in der Pfefferstraße einen Kolonialwarenladen einrichten. Zwar ein wenig bescheidener als Ohlsen, aber er würde selbstverständlich alles anbieten, was Frau Sundermann so gern bei Ohlsen gekauft hatte.

Wie schön, dachte Charlotte bitter. Sundermann hatte seinem Vetter Haus und Laden günstig verschafft, und seine Frau kann wieder die Schnurrbartwichse für ihren Ehemann einkaufen. Wie rasch sich doch die Lücken schließen und die Welt wieder in Ordnung kommt.

»Ich brauche Ihre Hilfe, liebe Frau Sundermann«, sagte sie. »Sie wissen vielleicht, wie es um meinen Mann steht.«

Sie war im Bilde, vermutlich hatte sie genau aus diesem Grund gezögert, Charlotte ins Haus zu bitten.

»Ich komme zu Ihnen, weil ich weiß, dass Sie mich verstehen werden. Ich kann meinen Mann in seiner Not nicht verlassen …«

»Das verstehe ich. Sie haben ein großes Herz, meine liebe Freundin. Oh, wie gut ich Sie verstehe – auch ich würde so handeln …«

Sie versprach, sich für Christian einzusetzen. Wem konnte es nutzen, wenn er verurteilt wurde? Niemandem, denn die Schulden würden sich dadurch nicht verringern. Ihr Mann sei ein vernünftig denkender, ein kluger Mensch, er würde das gewiss einsehen.

Charlotte musste fünf Tassen Tee trinken, zahllose Kekse herunterwürgen und anschließend noch versprechen, den beiden Töchtern Sundermann Klavierstunden zu geben. Frau Sundermann hielt das für eine gute Tat; in ihrer jetzigen Lage könne Charlotte doch jeden Pfennig gebrauchen, und der Musiklehrer wäre in seinen Forderungen recht unverschämt.

Als Charlotte endlich den Heimweg antreten konnte, musste sie tief Luft holen. Sie hatte das Gefühl gehabt, unter Frau Sundermanns Güte zu ersticken. Der Regen hatte aufgehört, nur der eisige Nordwind blies ihr unbarmherzig entgegen, und der Novemberhimmel lastete schwer und dunkel auf der Stadt. In den Pfützen trieben die letzten, braunen Herbstblätter, sogen sich voller Nässe und sanken dann langsam hinab, um sich mit dem Morast zu vereinigen. Pferdefuhrwerke überholten sie und bespritzten ihren Umhang, hin und wieder sah sie ein bekanntes Gesicht unter den entgegenkommenden Menschen, doch nur wenige grüßten sie. Die meisten wandten die Köpfe rasch zur Seite, betrachteten angestrengt die Auslagen eines Ladens, einen Hauseingang, den Grünkohl in einem Garten.

Fröstelnd zog Charlotte den Umhang zusammen und beeilte sich, die belebten Straßen so bald wie möglich hinter sich zu lassen. Wie sie diese Stadt hasste. Sie war grau und eng, voller selbstgerechter Menschen, ohne Sonne, ohne Wärme. Wie hatte sie es hier nur so lange ausgehalten?

Als sie im Haus der Großeltern eintraf, lag ein Brief für sie auf dem Küchentisch. George hatte ihr schon vor Wochen geschrieben, doch die Post hatte seit der Konkurseröffnung alle Schreiben einbehalten und an Sundermann ausgeliefert. Niemand hatte respektiert, dass Charlottes Name auf der Adresse stand, man hatte das Schreiben geöffnet und gelesen, schließlich hätte es sich um ein Geschäft handeln können, das Ohlsen listig über seine Frau abwickelte.

Ohne einen Blick hineinzuwerfen, legte Charlotte den Brief zur Seite. Sie wollte nicht wissen, was darin stand, die Zeit der schönen Träume war vorüber. Vielleicht würde sie George später schreiben, viel später, wenn sie entschieden hatte, wie sie weiterleben wollte. Jetzt konnte sie nur abwarten.

Am Abend kniete sie in der Schlafkammer und zog die kleine Kiste unter dem Bett hervor, die alle ihre Schätze barg. Wie viel mochte der Schmuck wohl wert sein? Sie hatte keine Ahnung. Christian hatte stets einen ausgefallenen Geschmack besessen, mit billigen Dingen hatte er sich nie abgegeben. Aber sie wusste auch, dass man für ein Schmuckstück nur einen kleinen Teil seines wirklichen Wertes erhielt, wenn man es weiterverkaufte. Sie würde feilschen und handeln – das fiel ihr nicht schwer, das lag ihr im Blut.

Der Lampenschein ließ das Glas auf dem Deckel spiegeln, so dass sie die Kiste anheben musste, um die bunte Zeichnung zu betrachten, die sie schon als Kind so fasziniert hatte. Einsam erhoben sich die Gipfel des Kilimandscharo in den Himmel, zogen den Betrachter zu sich heran, lockten ihn, sich mit ihrer Kraft und Ferne zu messen, das Unmögliche zu wagen, das Unbezwingbare herauszufordern. Sie erschauderte und glaubte, die Kühle der Gipfel zu spüren, den Wind zu atmen, der sie von dorther anwehte und der den Geruch der Freiheit in sich trug. Als sie den Deckel aufklappte, grinste ihr der schwarze Götze entgegen. Wie seltsam – ihr war niemals aufgefallen, dass er einen heiteren, fast verschmitzten Gesichtsausdruck hatte. Oder kam ihr das heute nur so vor? Sie strich mit dem Finger über sein krauses Haar, die stumpfe Nase, die breiten, wulstigen Lippen. Das schwarze Holz fühlte sich warm an, als sei all die Sonnenglut darin gespeichert, die es hatte wachsen lassen. Ihr Vater hatte ihn auf Sansibar erworben, jener geheimnisvollen Insel nahe der afrikanischen Küste, die man seit Jahrhunderten auch die Gewürzinsel nannte. Afrika, das Land der Wärme, der Düfte, des Lichts.

Himmel über dem Kilimandscharo
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