Wieso warf sie alle Bedenken über den Haufen? Sie war eine Händlerin – was wollte sie auf einer Plantage? Sie hatte sich über die moralischen Grundsätze der Gouverneursgattin geärgert – nun tat sie genau das, was Frau von Liebert ihr angeraten hatte. Sie hatte den mächtigen Berg mit dem schneeglänzenden Gipfel niemals wiedersehen wollen – nun würde sie an seinem Fuß ihre neue Heimat finden. Es sprach so viel gegen diese Entscheidung, und doch war sie fest davon überzeugt, das Richtige zu tun.

»Ich weiß, dass du deinem Herzen folgst, Charlotte«, hatte Klara gesagt. »Und du tust recht daran. Gott wird euren Bund segnen.«

Charlotte war sich keineswegs sicher, ob es allein ihr Herz war, dem sie folgte. Gewiss, Max von Roden hatte ihr immer schon gefallen, mehr, als sie sich hatte eingestehen wollen. Seine ungenierte Selbstsicherheit und die Fähigkeit, das Leben entschlossen anzupacken. Seine Liebe zur Musik. Vor allem aber seine impulsive Art. Als sie ihm ihr Jawort gab, hatte er mit einem Jubelschrei den Hut in die Luft geworfen. Er hatte sie geküsst, mitten unter den vielen Leuten, die am Hafen herumliefen – eine unfassbar sittenlose Handlung, für die man in Deutschland ins Gefängnis gesperrt werden konnte. Aber gerade deshalb war es wundervoll gewesen, ihr Herz hatte einen Trommelwirbel geschlagen, und sie hatte seinen Kuss erwidert wie ein albernes, junges Ding.

Ja, er hatte ihr Herz gewonnen. Aber da war noch mehr, das sie zum ihm hinzog. Es hatte etwas mit Magie zu tun, glich der Anziehungskraft, die der Berg mit dem fernen Schneegipfel ausübte, eine verwirrende, beängstigende Mischung aus Furcht und Faszination. Max von Roden weckte in ihr die gleiche körperliche Sehnsucht, die auch George in ihr hervorgerufen hatte.

Innerhalb weniger Tage änderte sich ihr Leben von Grund auf. Es war nicht das erste Mal, dass ihr ein solcher Wechsel widerfuhr, dieses Mal aber geschah es atemlos und wie im Rausch. Er hatte es fertiggebracht, dass sie noch in der folgenden Woche heiraten konnten – in der Kolonie sah man leichter über Aufgebot und Fristen hinweg. Am gleichen Tag wurden auch Klara und Peter Siegel getraut – das war Charlottes Wunsch gewesen, dem sich die beiden gern fügten. Es stellte sich heraus, dass Klara ihr eigenes Brautkleid schon vor Monaten genäht und in einer Kiste aufbewahrt hatte, jetzt war sie untröstlich, kein Kleid für Charlotte angefertigt zu haben.

»Ach was – ich nehme dich auch ohne Kleid!«, hatte Max fröhlich ausgerufen, und sowohl Klara als auch Charlotte waren errötet. Die Hochzeitsfeier im Gebäude der evangelischen Mission am Immanuelskap rauschte an Charlotte vorüber wie die Szenen eines Theaterstückes. Der mit Akazienzweigen und Palmwedeln geschmückte Raum. Klara, die versuchte, ihr Humpeln zu verbergen, als sie neben Peter zum Altar schritt, und dabei noch ungeschickter wirkte als sonst. Max, der ihr einen dünnen Goldreif mit einem roten Stein als Ehering an den Finger steckte. Die salbungsvollen Worte des Missionars, der Jubel der schwarzen Eingeborenen, Schammi, der nicht wusste, ob er lachen oder in Tränen ausbrechen sollte und beides abwechselnd tat. Die schönen Stoffe, Stickereien und Haushaltsgegenstände – Geschenke ihrer deutschen Freundinnen. Sarah William, die überraschend auftauchte, grell geschminkt und mit einem ihrer grellen Hüte geschmückt, die innigsten Glückwünsche, die Frau von Liebert durch einen schwarzen boy überbringen ließ …

Als es Nacht wurde, zogen sich Klara und ihr Ehemann in ein kleines Zimmer zurück, das Peter Siegel bisher allein bewohnt hatte. Für Charlotte und Max war ein Gästeraum hergerichtet worden, das Haus in der Inderstraße hatte man inzwischen leer geräumt. Ihre kleine Wohnung, der geliebte Laden, um den sie so gekämpft hatte, gehörten endgültig der Vergangenheit an.

Max legte den Arm um ihre Schultern und zog sie hinaus unter das Vordach des Missionsgebäudes. Dort standen sie eine Weile schweigend und lauschten auf die Geräusche der Nacht. Es hatte geregnet, Wasser tropfte von Dach und Blattwerk und versickerte im Erdboden. Ein Nachtvogel rief mit melodischer Stimme und fand Antwort irgendwo draußen in den Kokosplantagen, ein kleines Wesen bewegte sich knisternd im Gras, vielleicht eine Schlange, die der Regen aus ihrem Versteck vertrieben hatte. In der Ferne hörte man das Schlagen und Zischen der Wellen, den immerwährenden Rhythmus des Ozeans, der sich der Anziehung des Mondes ergab.

Max strich ihr über die Wange, und ihre Anspannung war so groß, dass die leise Berührung sie erzittern ließ.

»Hör zu, mein Liebes«, sagte er zärtlich. »Ich weiß, wie schwer es für dich war, so rasch wieder zu heiraten. Ich habe dich mit meiner Ungeduld überrumpelt, weil ich es nicht abwarten konnte, dich zu meiner Frau zu machen. Jetzt aber will ich dich nicht bedrängen. Du sollst alle Zeit der Welt haben, dich an die neue Situation zu gewöhnen. Und an mich.«

Sie schwieg verblüfft, eine solche Rücksichtnahme hatte sie nicht erwartet. Sollte sie ihm sagen, dass das unnötig war? Was würde er dann von ihr denken? Dass sie eine schlechte Ehefrau gewesen war, die ihren Mann schon wenige Monate nach seinem Tod vergessen hatte?

»Aber ich …«

Jetzt wagte er, den Arm um ihre Schultern zu legen, eine sanfte, freundschaftliche Berührung, der Arm eines Beschützers.

»Sag nichts, Charlotte«, unterbrach er sie. »In gut drei Wochen sind wir auf meiner Plantage, und wenn du dann für mich bereit bist, werde ich sehr glücklich sein.«

Wie großherzig er war. Sie brachte es nicht fertig, ihm zu widersprechen.

»Ich danke dir.«

»Ich übernachte im Vorraum«, verkündete er. »Schlaf gut, mein Engel …«

Er zog sie in seine Arme und drückte ihr einen zarten Kuss auf die Stirn. Nicht mehr. Dann ging er eilig zurück ins Haus, um sich im Vorraum auf zwei Stühlen ein notdürftiges Lager zu errichten.

Der Abschied von Klara war das Schwerste, denn es war so gut wie sicher, dass sie sich lange Zeit nicht wiedersehen würden. Peter Siegel wollte vorerst in Daressalam bleiben, es war jedoch auch möglich, dass die Berliner Mission ihn an einen anderen Ort berief, und da er ein gehorsamer und eifriger Gesandter des evangelischen Glaubens war, würde er sich einer solchen Order gewiss nicht widersetzen.

»Vielleicht schicken sie Peter ja nach Moshi oder nach Arusha – das wäre wundervoll, Charlotte«, seufzte Klara.

Ihre Cousine war sehr blass, und Charlotte fragte sich mit leiser Sorge, wie sie diese Hochzeitsnacht erlebt haben mochte, doch in der Hektik des Aufbruchs war es unmöglich, sie danach zu fragen.

»Ja, gewiss. Warten wir ab, was geschieht.«

Sie verschwieg Klara das Schicksal der beiden unglücklichen Geistlichen, die von den Dschagga getötet worden waren. Peter Siegel hatte sicher davon gehört, einen Ruf nach Moshi würde er vermutlich nicht gerade als Glücksfall ansehen, obgleich er ihm die Chance bot, zum Märtyrer des evangelischen Glaubens zu werden. Vorerst focht er einen harten Kampf um Schammi aus, den er in seiner Obhut am Immanuelskap behalten wollte. Noch am Morgen der Abreise machte er mit dem Jungen einen Spaziergang durch die Kokospflanzungen, erinnerte ihn daran, dass er ein Christ hatte werden wollen, dass er lesen und schreiben lernen musste und dass er seine bibi Klara nicht verlassen durfte. Schammi hörte ihn schweigend an, dann lief er ins Missionsgebäude zu Klara und verabschiedete sich weinend von ihr. Er liebte bibi Klara über alles, vielleicht sogar ein klein wenig mehr als bibi Charlotte, die einmal fortgegangen, aber dennoch wiedergekommen war. Doch sein Herz gehörte bwana Roden, der war ein großer bwana, ein guter bwana, ihm wollte er folgen.

Max wählte die Strecke mit Bedacht, denn es war keine gute Zeit zum Reisen. Die Regenzeit an der Küste näherte sich ihrem Ende, im Inland hatten die Niederschläge schon früher aufgehört, doch es waren Sümpfe und reißende Gewässer entstanden, die an vielen Stellen Umwege erforderlich machten. Er hatte auf dem Hinweg einige Maultiere mit nach Daressalam gebracht, die die Mückenplage bisher erstaunlich gut überstanden hatten, eines davon stand Charlotte als Reittier zur Verfügung, die übrigen wurden als Lasttiere für Zelte und Lebensmittel genutzt. Etwa dreißig schwarze Träger beförderten den Pulper für die Kaffeefrüchte und zwei weitere Geräte, die der Herstellung von Sisalfasern dienen sollten und die Max »Raspador-Maschinen« nannte – Schabmesser-Maschinen. Alles war in kleine und kleinste Einzelteile zerlegt. In zwei oder drei Jahren schon würde man endlich die ersten Sisalblätter ernten und die Faser daraus gewinnen. Dazu wurden die mehr als hüfthohen, fleischigen Blätter abgeschnitten und durch die Maschinen gejagt, die die Faser vom eigentlichen Blattgewebe trennten. Danach bündelte man die Fasern und weichte sie in klarem Wasser ein, so dass sie weiß wurden; anschließend ließ man sie in der Sonne trocknen und kämmte sie.

»Dann werden die Einnahmen in die Höhe gehen, und ich kann weiteres Land bepflanzen«, erklärte er fröhlich. »Nur allzu viel Regen kann ich dann nicht gebrauchen, die Sisalpflanze muss guten Boden haben und viel Sonne.«

Charlotte ritt schweigend neben ihm her, hörte sich an, was er voller Begeisterung erzählte, und ihr fiel auf, dass er stets »meine Pflanzen«, »meine Arbeiter«, »meine Plantage« sagte.

»Ich könnte dir helfen, die Preise auszuhandeln«, bemerkte sie. »Darin bin ich gut.«

Er blinzelte sie belustigt an und wollte schon eine Bemerkung machen; als er jedoch erkannte, dass es ihr Ernst damit war, schluckte er den Satz hinunter.

»Das weiß ich inzwischen, mein Schatz.«

Er hatte in Daressalam neben ihr gesessen, als sie die Waren und die Einrichtung des Ladens verkaufte, und keine Miene gemacht, sich in ihre Verhandlungen einzumischen. Später hatte er grinsend behauptet, sie habe die armen Leute allesamt übers Ohr gehauen, und das auf so bezaubernde Weise, dass keiner außer ihm etwas davon bemerkt habe. Nach wirklicher Anerkennung klang dieses Lob in ihren Ohren nicht – offenbar hatte er sich über ihre Bemühungen amüsiert.

Er war der geborene Anführer. Max von Roden hatte jedes einzelne Mitglied der kleinen Karawane im Auge, trieb die Leute an, wenn sie langsamer zu werden drohten, konnte zornig aus der Haut fahren, sobald ihm jemand nicht zu Willen war. Versperrte ein reißender Bach, ein umgestürzter Baum oder ein Steinschlag den Weg, ließ sich bwana Roden zu gotteslästerlichen Flüchen hinreißen, doch er war klug genug, den Rat der Eingeborenen einzuholen, bevor er entschied, wie sie das Hindernis überwinden würden. Als sie auf das erste Dorf trafen und der jumbe die üblichen Geschenke verlangte, stellte sie fest, dass der Herr von Roden geizig sein konnte und lange um den Durchgangszoll stritt. Dafür zeigte er sich beim Kauf und Tausch der Lebensmittel umso großzügiger und gab den Schwarzen dafür mehr, als die Sachen an der Küste kosteten. Vermutlich hatte er feste Grundsätze, er hasste Zölle, fand aber, dass es anständig war, frische Eier, Kochbananen oder zarte Maiskolben gut zu bezahlen. Am Lagerplatz ließ er stets zwei getrennte Zelte für sie aufbauen und erzählte seinen Angestellten und den Trägern scherzhaft, seine bibi brauche ihr eigenes Zelt, in das er nur mit ihrer Erlaubnis hineingehen dürfe. Das sei in uleia so üblich. Das Abendessen nahmen sie auf dem Boden sitzend ein, hielten die Schüsseln in der Hand und unterhielten sich, während sie Reis, Bohnen, Eier und gewürzte Soße verzehrten, die der indische Koch zubereitet hatte. Max achtete streng darauf, einen kleinen Abstand zwischen sich und Charlotte zu lassen, doch es geschah immer häufiger, dass ihr Gespräch versiegte und beide schweigend vor sich hin sahen. Fast alle Träger hatten eine Frau mit auf die Reise genommen, einige sogar zwei, die sie abwechselnd aufsuchten, und weder die leisen Gesänge der Diener noch das Schnarchen einiger Schläfer konnten gewisse zufriedene Laute übertönen. Seltsam, dachte Charlotte errötend, sonst ist mir das nie aufgefallen, jetzt aber höre ich nichts anderes …

»Wir werden morgen zu den Pare-Bergen kommen«, bemerkte Max und räusperte sich. »Dort biegen wir nach Norden ab, dann brauchen wir den Mkomasi nicht zu überqueren und vermeiden außerdem das Zusammentreffen mit einigen Massai-Stämmen.«

Sie löste ihr Haar, um den Zopf neu zu flechten, und spürte, wie er jede ihrer Bewegungen mit den Augen verschlang. Eine Fledermaus glitt lautlos an ihnen vorüber, segelte auf ihren zarten Hautflügeln zielsicher durch die Dunkelheit. Ab und zu glomm ein winziges Lichtlein auf, taumelte hierhin und dorthin, bis es wieder erlosch. Ein Glühwürmchen.

»Das ist sicher besser so.«

Sie hatte bisher noch nie den Versuch gemacht, einen Mann zu verführen. Es schickte sich nicht für eine Frau, es war peinlich und ungehörig. Eine Frau durfte sich hübsch machen, lächeln, unverfänglich plaudern, und falls der Gesprächspartner ihr Komplimente machte, musste sie sittsam den Blick senken. Auf keinen Fall aber das Haar lösen und zwischen den offenen Locken mit dunklen, goldglänzenden Augen zu ihm hinübersehen. Aber weshalb sollte sie das nicht tun? Schließlich war er seit einigen Tagen ihr Ehemann.

Er fuhr sich mit der Hand über das unrasierte Gesicht und zog den Hut ein wenig tiefer in die Stirn. Dennoch gelang es ihm nicht, in eine andere Richtung zu schauen. Er verfolgte weiterhin ihr Tun, beugte sich sogar vor, um ihr eine verirrte Haarnadel zu reichen, und seine Miene dabei war mehr als angespannt. Als ihre Finger sich für einen kleinen Augenblick berührten, zuckten beide zusammen.

»Wenn wir in die Berge kommen, werde ich dir die Thornton-Fälle bei Gonja zeigen«, murmelte er. »Das wird dir gefallen. Du … liebst Wasserfälle, nicht wahr?«

Im Usambara-Gebirge hatte sie ihn gebeten, doch näher zu einem der prächtigen Katarakte zu reiten, aber er hatte gemeint, es bringe sie zu sehr von der Strecke ab.

»Ich finde sie wunderschön«, gestand sie. »Dieses wilde Tosen, die Gewalt des herabstürzenden Wassers. Und wenn die Sonne daraufscheint, sieht man einen Regenbogen.«

Sie flocht das Haar in aller Ruhe zu einem lockeren Zopf, wickelte ein Band um das Zopfende und steckte die Haarnadeln in ihre Rocktasche.

»Lass uns schlafen gehen«, entschied sie und reckte sich.

Auch diese Bewegung entging ihm nicht, und im schwachen Feuerschein konnte sie erkennen, dass er schmerzlich die Augen zusammenkniff.

»Glaubst du, dass wir hier sicher sind? Kann ich mich auskleiden und ein Nachthemd …«

»Gute Nacht!«, sagte er heiser und stürzte so eilig in sein Zelt, dass er fast den Stützpfosten umgerissen hätte.

Enttäuscht streckte sie sich auf ihrem einsamen Lager aus. Er war einer, der zu seinem Wort stand. Weshalb sollte sie ihm das übel nehmen, wo es ihr im Grunde sogar gefiel? Überhaupt war es angenehm, mit ihm zu reisen; sie fühlte sich sicher in seiner Gegenwart, konnte darauf vertrauen, dass er das Richtige tat. In den Nächten wurde das Lager stets von zwei Eingeborenen bewacht, vor allem wegen der Löwen und Geparden, die es auf die Maultiere abgesehen hatten. Die Wächter wechselten nach einigen Stunden, und da sie nur schlecht schlafen konnte, hatte sie festgestellt, dass Max hin und wieder aufstand, um die Wachen zu kontrollieren. Vermutlich erging es ihm ebenso wie ihr.

Die Natur war überwältigend schön. Nichts erinnerte mehr an die trostlose, graue Steppe der Trockenperiode, als die Hitze über der ausgedörrten Landschaft flimmerte und die Augen der Reisenden vom rötlichen Staub entzündet waren. Die Steppe jenseits des Pangani-Flusses hatte sich in ein gelbes Blütenmeer verwandelt, in dem Inseln aus dichtem Buschwerk schwammen, die Zweige der Akazien – einst filigrane Scherenschnitte vor dem taubenblauen Himmel – waren jetzt mit grünem Laub und weißen Blüten bedeckt. An vielen Stellen waren flache Seen entstanden, Tümpel, in denen graue Reiher, Marabus und Störche nach Beute stocherten. Einmal erblickten sie eine Schar Flamingos. Aus der Ferne sahen die Vögel aus wie eine zartrosa Wolke, die sich im Gras ausgebreitet hatte.

»Da gibt es jetzt Jagdwild in Massen«, stellte Max mit leichtem Bedauern fest. »Ein Fest für die Raubtiere, aber auch die müssen ihre Jungen füttern und überleben.«

»Du würdest wohl gern auf die Jagd gehen?«

Er musterte eine Herde schlanker, hellbrauner Impalas, die unweit eines kleinen Wäldchens grasten. Hyänen hielten sich in der Nähe auf, und sie vernahmen ihre seltsamen Rufe, die wie menschliches Gelächter klangen. Als die Impalas endlich unruhig wurden und in hohen, fliegenden Sprüngen die Flucht ergriffen, durchquerten sie einen der flachen Tümpel, und das Wasser spritzte unter ihren Hufen in feinen Gischtfontänen auf.

»Ich gebe zu – es juckt mich in den Fingern«, räumte er grinsend ein.

Der Aufstieg im Pare-Gebirge erwies sich als mühsam. Dichtes Gestrüpp und tief eingegrabene Bachläufe mussten überwunden werden, und Charlotte wurde auf ihrem bockigen Maultier heftig durchgeschüttelt. Nach einer Weile stieg sie ab und ging zu Fuß weiter, das war angenehmer, als jeden Augenblick fürchten zu müssen, aus dem Sattel zu rutschen. Sie bereute es nicht, denn nun hatte sie die Muße, sich umzuschauen, und sie entdeckte unzählige Dinge, die sie entzückten. Weiße Blüten wie große Sterne leuchteten zwischen dem dunkelgrünen Bewuchs der Felsen, zarte, blaue Glockenblumen verbargen sich im Gras, violette Distelgewächse reckten ihre Köpfe in die Höhe. Scharen bunter Schmetterlinge taumelten zwischen den Blumen umher, es roch nach dem harzigen Duft der Bäume und der Süße blühender Pflanzen. Manchmal erkannte sie die Fußabdrücke großer Tiere im feuchten Erdreich, ganz sicher gab es hier Büffel, vielleicht auch Leoparden, doch die lärmende Karawane verscheuchte jedes wilde Tier schon aus weiter Ferne. Nur die kleinen, grauen Affen keckerten und schimpften, und gelegentlich flatterte ein Vogel auf, um sich einen höheren Platz im Geäst zu suchen.

An diesem Abend schlugen sie das Lager nahe einem Gebirgsbach auf, dessen Wasser eiskalt und reißend talwärts strömte. Steiler, hellgrauer Fels erhob sich zu beiden Seiten des Bachlaufs, nur an manchen Stellen von Grün überwuchert. Ein Rauschen war aus der Ferne zu hören, das weder vom Wind noch von dem rasch fließenden Gewässer stammen konnte.

Max überwachte sorgfältig, dass seine Maschinen sicher und trocken verwahrt wurden, dann wandte er sich Charlotte zu, die gemeinsam mit Schammi Feldbett und Koffer in das gerade aufgebaute Zelt trug.

»Lass das die Schwarzen tun«, sagte er unzufrieden. »Es ist nicht gut, wenn die weiße bibi Roden selber die Koffer schleppt.«

Sie begriff das nicht. Bisher hatte sie sich nie gescheut, selbst Hand anzulegen – er tat das schließlich auch.

»Es ist eine Frage des Ansehens. Die Schwarzen leiten den Rang einer Person gern von solchen Kleinigkeiten ab. Wenn du das Spiel nicht mitmachst, werden sie zuerst verunsichert sein und dann frech werden.«

»Ich verstehe«, erwiderte sie schmunzelnd. »Du stehst übrigens in meinem Zelt, bwana Roden, dabei hast du gar nicht meine Erlaubnis dazu eingeholt. Das ist in uleia nicht üblich, nicht wahr?«

Seine hellen Augen blitzten, doch er blieb ernst. »Nein, das ist in Europa nicht üblich«, bestätigte er dann.

»Du wolltest mir den Wasserfall zeigen«, fuhr sie fort. »Er kann nicht weit sein, man hört ihn schon rauschen.«

»Wollte ich das?«

»Vorgestern Abend schon …«

Sie gingen allein, stapften durch hohe Gräser und sprangen über loses Felsgestein. Einen Pfad gab es nicht, sie mussten sich den Weg selbst bahnen, wozu Max sein langes, geschwungenes Buschmesser zu Hilfe nahm. Wenn es allzu schwierig wurde, blieb er stehen, um ihr zu helfen, dann fühlte sie den festen Druck seiner Hand. Auf ihre Bemerkung, dass es lästig sei, mit einem langen Kleid durch die Wildnis zu laufen, erwiderte er nichts.

Das Geräusch des herabstürzenden Wassers wurde stärker, bis nach einer Talbiegung endlich der Blick auf das wunderbare Naturschauspiel frei wurde. Aus großer Höhe schoss das Wasser den Berg hinab, traf schäumend auf Felsgestein, zerteilte sich in schmale und breite Bänder, bildete immer neue Kaskaden und verschwand dann hinter Bäumen und Buschwerk.

»Willst du näher heran?«

»Natürlich! O mein Gott – es ist traumhaft schön!«

Sie lief jetzt so rasch voran, die Röcke gerafft, dass er Mühe hatte, ihr zu folgen. »Sei vorsichtig! So warte doch! Charlotte!«

Er musste schreien, um das Tosen des Wassers zu übertönen. Endlich hatte er sie eingeholt und hielt sie atemlos fest, dann schlug er mit dem Buschmesser das dichte Gebüsch zur Seite. Von Gischtnebeln umwölkt, stürzte hier der Wasserfall in ein felsiges Becken, das Licht der Abendsonne brach sich auf Milliarden winziger Tröpfchen zu einem zitternden, vielfarbigen Regenbogen.

Sie waren beide völlig außer Atem, und Charlotte meinte, seinen raschen Herzschlag zu spüren. Oder war es ihr eigener?

»Gott strafe mich!«, rief er ihr ins Ohr. »Aber ich kann nicht länger warten.«

Er riss sie an sich, überfiel sie mit einer Flut verzweifelter Liebkosungen, wusste kaum, wo er seine Hände lassen sollte, und war drauf und dran, ihr das Kleid vom Leib zu reißen. Zuletzt hob er sie auf die Arme und trug sie ein gutes Stück durch hohes Gras und Gebüsch; erst als sie kurz vor dem Lagerplatz waren, stellte er sie wieder auf die Füße.

»Es ist in uleia üblich, um Erlaubnis zu fragen«, raunte er ihr zu. »Wirst du mir dein Zelt öffnen, wenn ich dich darum bitte?«

»Versuche es, bwana Roden.«

Er kam nach Eintritt der Dunkelheit, noch bevor es im Lager still geworden war, brennend vor Ungeduld. Der flackernde Schein der Lagerfeuer leuchtete durch die Zeltwand hindurch, als er ihr die Kleider abstreifte. Er ließ ihr nicht einmal das Hemd, war begierig, ihren bloßen Körper ganz und gar zu besitzen, fand jede noch so verborgene Stelle, um sie mit Händen und Lippen zu berühren. Irgendwo stritten zwei Frauen miteinander, ein Saiteninstrument erklang, und eine raue, kehlige Stimme sang dazu eine eintönige Melodie. In der Ferne rauschte der Wasserfall.

In dieser Nacht widerfuhr Charlotte etwas Erstaunliches, von dem sie bisher keine Ahnung gehabt hatte. Sie spürte zum ersten Mal, dass eine Frau die gleiche Lust wie ein Mann empfinden konnte, und es verwirrte sie sehr, da sie bislang angenommen hatte, derlei Gefühle stellten sich höchstens bei einer Dirne, niemals aber bei einer Ehefrau ein.

Himmel über dem Kilimandscharo
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