Sie musste den kurzen Text zweimal lesen, um den Sinn zu begreifen. Kamal Singh – sie hatte geglaubt, nie wieder etwas von ihm zu hören. War das der Ausweg? Nach Sansibar zu reisen und dort ein Geschäft unter seinem Schutz zu eröffnen? Auf jener immergrünen Insel, diesem Eiland aus Palmen, Licht und Düften, das in ihrer Erinnerung zugleich mit der unheilvollen Sehnsucht nach George verbunden war?

Sie spürte, wie sich etwas in ihr gegen diese verführerische Aussicht widersetzte. Nein, es war nicht der Gedanke, dass ihr der palmengesäumte, weiße Strand ohne George leer und einsam erscheinen würde. Dass ein anderer jetzt in jenem Haus wohnte, in dem seine Bücher gestanden hatten, an jenem Schreibtisch saß, an dem er seine Manuskripte schrieb. George Johanssen gebührte in ihrem Leben nur noch ein winziger Platz, ganz am Rande des Geschehens, er war der Ehemann ihrer Cousine Marie. So war es, und so blieb es.

Viel wichtiger war die Frage, ob dieser dubiose Zettel tatsächlich von Kamal Singh stammte und nicht etwa eine hinterhältige Finte der neuen Machthaber in der Inderstraße war, um sie endgültig loszuwerden. Was wäre, wenn sie tatsächlich alles verkaufte und mit dem wenigen Geld, das sie dafür erhalten würde, nach Sansibar reiste, um dort festzustellen, dass sie völlig allein und ohne Hilfe dastand?

Die Sonne lag wärmend auf dem regenfeuchten Land, feine Nebeldünste stiegen auf, umhüllten Häuser und Buschwerk, umspielten die tiefgrünen Palmwipfel. Seevögel schwärmten über die Bucht, tauchten pfeilschnell ins Wasser ein, kreischten, zankten sich um die Beute. Sie las die Nachricht ein drittes Mal und steckte das zusammengefaltete Blatt in den Ärmel. Wenn es tatsächlich Kamal Singh war, der diese Zeilen geschrieben hatte – konnte sie ihm überhaupt trauen? Hatte er sie nicht schon einmal belogen? Auf der anderen Seite war er immer sehr großzügig gewesen, und sie hatte den Eindruck gehabt, dass er sie gern mochte, doch sie konnte sich auch täuschen. Und dennoch. Was hielt sie hier in Daressalam? Nicht einmal Klara, die würde Peter Siegel heiraten, und Schammi könnte sie mit nach Sansibar nehmen. Vielleicht wäre es klug, erst einmal mit dem Küstendampfer hinüberzufahren, um die Wahrheit herauszufinden, bevor sie all ihre Habe verkaufte. Die Überfahrt war nicht allzu teuer, das konnte sie sich noch leisten.

Ja, so würde sie es machen. Plötzlich verspürte sie neue Kraft, sah Hoffnung, ein Licht in all der Düsternis – vielleicht ein Irrlicht, aber immerhin. Sie blickte über die bläulich glitzernde Bucht, überlegte kurz, ob sie den Weg zurück zur Inderstraße durch den Ort abkürzen sollte, doch dann gefiel es ihr besser, am Strand entlang bis zum Hafen zu laufen, barfuß, Schuhe und Strümpfe in der Hand. Es machte ihr Spaß, durch die flache Brandung zu rennen, dass das Wasser hoch aufspritzte, mit der Flut um die Wette zu laufen, die sich immer dichter zur Bruchkante hinaufzog. Zweimal verlor sie ihren Strohhut, musste umkehren und das gute Stück aus dem Wasser fischen, schließlich hielt sie ihn mit einer Hand fest und erreichte den Landungssteg gerade in dem Augenblick, als die Flut den letzten Rand des weißen Strandes überspülte. Keuchend, aber hochzufrieden stieg sie die Stufen zum Kai hinauf und wollte sich gerade auf die niedrige Mauer setzen, um wenigstens die Schuhe wieder anzuziehen, als sie eine wütende Stimme vernahm.

»Zoll soll ich bezahlen? Wie komme ich dazu? Ich bin Deutscher, und diese Maschinen gehören mir!«

Sie hielt inne. Diese zornige Stimme war ihr wohlbekannt. Er war hier in Daressalam. Vermutlich um irgendwelche Gerätschaften abzuholen, die mit dem Dampfer aus Deutschland gekommen waren.

»Das ist ein britisches Fabrikat – na und? Das wurde bereits in Hamburg verzollt. Vielleicht schauen Sie mal in die Papiere, die Sie in der Hand halten.«

Sie schmunzelte, ließ sich auf die Mauer fallen und mühte sich, die nassen Schuhe überzustreifen, während sie auf weitere Zornesausbrüche lauschte. Wie energisch er auftrat – ganz der adelige Gutsherr.

»Weshalb ich kein deutsches Fabrikat gekauft habe? Das will ich Ihnen sagen: weil die britischen Pulper besser und preiswerter sind. Deshalb bin ich aber nicht bereit, doppelten Zoll zu zahlen, verdammt!«

Wie schön zu hören, dass sogar ein Max von Roden Ärger mit deutscher Bürokratie haben konnte. Sie rollte die feuchten Strümpfe zusammen und stopfte sie in ihre Rocktasche, dann versuchte sie, ein paar lose Haarsträhnen in den aufgesteckten Zopf zurückzuschieben – wie dumm, dass sie wieder einmal völlig derangiert aussah.

Jetzt tauchte seine Gestalt am Eingang der Zollstelle auf, der wohlbekannte braune Hut, die Reithose, eine helle Leinenjacke. Er blinzelte in die Sonne und wandte sich noch einmal um, kündigte grollend an, dass er in einer Stunde zurück sei, um seine Kisten abzuholen. Als er unter das Vordach trat, erblickte er Charlotte.

Sie sah, dass er für einen Moment erstarrte, aus Verblüffung oder Freude, war nicht auszumachen. Nun sprang er eilig die Stufen hinunter, als habe er Sorge, sie könne davonlaufen.

»Charlotte … Frau Ohlsen. Ich war in der Inderstraße und habe nach Ihnen gesucht. Wollte jetzt gleich wieder dorthin zurückgehen …«

Sein Händedruck war ungemein fest, auch das kannte sie schon, und sie lächelte.

»Ich war unterwegs, das tut mir leid. Umso schöner, dass wir uns hier zufällig begegnen. Hat Ihnen Klara wenigstens einen Kaffee angeboten?«

»Wir haben uns eine Weile unterhalten.«

Er führte sie mit einer sanften Armbewegung beiseite, denn aus dem Zollgebäude quoll soeben eine Gruppe schwarzer Träger. Vermutlich hatten die Männer ihren Lohn erhalten und wollten das Geld nun eilig auf den Markt tragen.

»Ihre Cousine hat mir erzählt, dass Sie Ärger haben«, fuhr er fort. »Haben Sie im Gouvernementspalast etwas erreichen können?«

Max von Roden zählte zu denen, die gern mit der Tür ins Haus fielen. Charlotte überlegte kurz, ob sie Ausflüchte suchen sollte, aber da sein Blick mit ehrlicher Anteilnahme auf sie gerichtet war, beschloss sie, ebenso ehrlich zu antworten.

»Leider nicht. Aber das ist halb so schlimm, dann werde ich eben neu anfangen. In Tanga oder Bagamoyo. Vielleicht auch auf Sansibar – es wird sich schon etwas finden.«

»So ist das also …«

Er schwieg einen kurzen Augenblick, ohne den Blick von ihr zu wenden, so dass es ihr fast peinlich war. Gerade wollte sie zu einem anderen Thema wechseln, als er fragte: »Und was ist mit dem Kilimandscharo? Hätten Sie nicht Lust, dorthin zu gehen?«

Was für eine Idee! Nach allem, was sie erlebt hatte, zog es sie keineswegs in diese Gegend zurück. Weder den magischen Berg noch Christians Grab wollte sie in naher Zukunft wiedersehen. Max von Roden schien es jedoch ernst mit diesem Vorschlag zu sein, denn er sah sie erwartungsvoll an.

»Einen Laden in Moshi eröffnen? Nein, auf keinen Fall.«

»Nicht um einen Laden zu eröffnen, Charlotte. Um auf meiner Plantage zu leben. Ich wollte … ich bin gekommen, weil ich …«

Er hob hilflos die Arme, machte eine Bewegung, als müsse er ersticken, und während sie noch verwirrt zu ihm aufsah, brach es aus ihm heraus.

»Wollen Sie meine Frau werden, Charlotte?«

Sie war so verblüfft, dass ihr die Worte fehlten. Hatte sie recht gehört? Drüben schwatzten die schwarzen Frauen miteinander, aus dem Zollamt drang Getöse, man schien eine hölzerne Kiste aufzubrechen. Es war gut möglich, dass sie ihn bei dem Lärm falsch verstanden hatte. »Können Sie den Satz bitte wiederholen?«

Ein Schwall von Erklärungen, Versicherungen, Bitten und Selbstvorwürfen ergoss sich über sie. Wochenlang habe er gegrübelt, wie er ihr diese Frage stellen solle; er sei eben kein Romantiker und schon gar kein Diplomat; natürlich habe er wieder einmal alles falsch angefangen, und es sei auch sicher noch viel zur früh, ihr Mann sei ja gerade einmal ein Vierteljahr unter der Erde. Doch dann habe seine Sorge überhandgenommen, es könne ihm ein anderer zuvorkommen, und wenn das geschehen wäre, hätte er sich für immer und ewig einen gottverdammten Idioten heißen müssen.

Himmel über dem Kilimandscharo
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