Die Nacht über wurde sie von Übelkeit und Kopfschmerzen geplagt, erst als gegen Morgen ein Gewitter losbrach und der ersehnte Regen endlich herabströmte, fühlte sie sich besser. Christians Bett neben ihr war leer geblieben, was sie als Erleichterung empfand. Sie wollte ihn nicht sehen, sollte er bleiben, wo er mochte. Er war nicht mehr der Mann, den sie damals geheiratet hatte, er hatte sie bedroht, Hand an sie gelegt und war dann feige davongelaufen, anstatt ihr zu helfen.

Schammi hockte zusammengekauert wie ein kleiner Schatten in der Küche und blickte sie mit großen, besorgten Augen an. Sie lächelte ihm zu und beeilte sich, ein Feuer anzuzünden.

»Lauter Donner, bibi Charlotte. Böser Donner. Jetzt ist vorbei. Schammi bringt bibi Klara den Tee. Bibi Klara wird bald gesund.«

Er hatte den Streit in der Nacht gehört, aber nicht gewagt, in die Wohnstube zu gehen. Jetzt schien er heilfroh, dass die immer zuverlässige bibi Charlotte die Dinge wieder in die Hand nahm.

»Natürlich, Schammi. Alles wird gut. Pass aber auf, dass du nicht schon wieder eine Tasse zerbrichst, ja?«

Zu ihrer Erleichterung fühlte sich Klara besser, das Fieber war gesunken, aber Charlotte hielt nichts davon, dass sie sich gleich wieder an ihre Näharbeiten setzen wollte.

»Es regnet, Klara. Da ist das Licht schlecht, und du kannst sowieso nicht nähen. Bleib besser hier oben in der Wohnung, und ruh dich aus. Ich komme schon allein zurecht.«

»Wo ist Christian? Hat es wieder Streit gegeben? Du bist schrecklich blass, Lotte.«

»Es geht mir gut.«

Das war gelogen, und Klara wusste es, doch Charlotte war nicht gewillt, sich ihr anzuvertrauen. Was gestern Abend in der Wohnstube geschehen war, konnte sie selbst kaum begreifen, und noch weniger würde Klara es verstehen können. Sie würde sie bemitleiden und trösten und im gleichen Atemzug erklären, dass sie Geduld haben müsse, dass Christian Schlimmes durchgemacht habe und Zeit brauche, um wieder zu sich zu finden. Auf solchen Trost konnte Charlotte verzichten.

Schlecht gelaunt und mit immer noch schmerzendem Schädel saß sie unten im Laden und war ausnahmsweise froh darüber, dass wegen des Regens nur wenig zu tun war. Gegen Mittag war Christian immer noch nicht aufgetaucht, und sie musste gegen die aufkommende Sorge ankämpfen. Doch sie hatte ihn schließlich nicht fortgeschickt, er war aus eigenem Antrieb davongelaufen, war ein erwachsener Mann und musste wissen, was er tat. Doch es half wenig, denn ihr war nur allzu klar, dass Christian hilflos wie ein Kind war.

Am frühen Nachmittag erschien Kamal Singh, gefolgt von einer Reihe schwarzer Träger, die eine Menge Kisten und Warenballen schleppten. Eine Weile herrschte reges Treiben im Laden, Waren wurden aus dem hinteren Bereich hinausgetragen, die neuen Waren eingelagert. Kamal Singhs kurze, energische Anweisungen, der derlei Arbeiten stets in eigener Person überwachte, waren zu vernehmen. Als alles geregelt war, ließ er für sich und Charlotte Tee bringen und erkundigte sich nach Klaras Gesundheit. Christians Abwesenheit schien er gar nicht zu bemerken, er hatte einen sechsten Sinn für Dinge, die seinem Gegenüber peinlich sein könnten, und schwieg sich darüber aus.

»Ich werde mich an der Karawane beteiligen«, erklärte ihm Charlotte mit Entschlossenheit. »Aber nur zu dem Teil, den ich auch aufbringen kann.«

Sein Blick streifte nachdenklich den leeren Sessel, dann reichte er ihr die Hand, um das Geschäft abzuschließen.

»Sie sind eine kluge Frau, Charlotte. Ich bin sicher, dass wir noch sehr oft miteinander Geschäfte machen werden. Gute Geschäfte.«

Er hatte einen erstaunlich festen Händedruck, der wenig zu der sanften Art passte, in der er mit ihr sprach. Auch nicht zu seinen dunkelbraunen Augen, in denen jetzt, da der Regen den Laden verdunkelte, nur selten ein goldener Schein aufblitzte. Zum Abschied neigte er sich ein wenig nach vorn, als wolle er eine kleine Verbeugung andeuten, dann stellte er die Teegläser zurück auf das bunte gelackte Holztablett und trug alles hinüber in seinen Laden. Ein Windstoß zerrte an seinem weiten, safrangelben Mantel, und Charlotte, die immer noch von Kopfschmerzen geplagt wurde, glaubte, einen Dschinn mit wild flatternden Schwingen davonfliegen zu sehen.

Von Christian gab es noch immer keine Spur. Als der Regen nachließ und die Wolken aufrissen, wurde es lebhafter auf der Inderstraße. Schwarze Kinder plantschten in den Pfützen herum, eine Gruppe Sudanesinnen, Frauen der Askari, lief mit bloßen Füßen durch den gelblichen Schlamm, nur zwei Inderinnen in bunten Seidensaris umgingen die Wasserlachen mit großer Vorsicht, um sich nicht Sandalen und Gewänder zu beschmutzen. Schammi kam herunter und verkündete, bibi Klara habe gegessen und getrunken und schlafe jetzt ein wenig, dann hockte er sich neben den Eingang und starrte auf die Vorübergehenden. Er schwieg, aber Charlotte wusste, auf wen er wartete.

Es war nicht mehr möglich, sich gegen die Sorge zu verschließen. Nein, er war ganz sicher nicht von einem Löwen angegriffen worden – solche Vorfälle sprachen sich blitzschnell herum, sie hätte es längst erfahren. Wo aber konnte er sein? Er hatte die Einnahmen eines ganzen Tages eingestrichen, und das war nicht wenig gewesen. Ob er am Ende den Küstendampfer genommen hatte? Aber wohin? Zurück in Richtung Europa? Weit würde er nicht kommen, dazu reichte sein Geld nicht.

Ein junger Mann trat in ihren Laden und grüßte sie freundlich in deutscher Sprache. Fast hätte sie ihn nicht erkannt, denn Missionar Peter Siegel trug nicht die helle Leinenjacke, die er in der Missionsstation meist anhatte, sondern einen dunklen Anzug und einen schwarzen Hut.

»Wie schön, dass Sie uns einen Besuch abstatten!«, sagte sie höflich.

Sie ließ Schammi Kaffee kochen und bot Pfarrer Siegel den Sessel an, den er gern akzeptierte. Er sei unterwegs, um einige seiner Gemeindeglieder aufzusuchen, und habe schon so viel Gutes über ihre Tatkraft und den schönen Laden gehört …

Es musste an ihren Kopfschmerzen liegen, dass dieser eigentlich doch liebenswerte Mensch ihr fürchterlich auf die Nerven ging. Siegel war schmal gebaut, hatte trotz seiner Jugend schütteres Haar und trug ein dünnes, braunes Kinnbärtchen. Sein Gesicht zeigte meist ein Lächeln, das Schüchternheit und freundliche Gesinnung signalisierte, doch sie hatte bereits gemerkt, dass er trotz seiner scheinbaren Unsicherheit sehr hartnäckig und zielstrebig war.

Charlotte setzte ihn über Klaras Krankheit ins Bild und entschuldigte ihre Cousine, die nicht in der Lage sei, sich zu ihnen zu gesellen.

»Das tut mir unendlich leid«, sagte Peter Siegel bekümmert. »Ich hätte Ihrer Cousine sehr gern meine Aufwartung gemacht. Muss man sich Sorgen um sie machen? Können wir irgendetwas für sie tun?«

»Vorerst wohl nicht – es scheint ihr heute schon besser zu gehen.«

Der Missionar blickte sinnend auf die blechernen Petroleumlampen, die im Regal aufgereiht standen, und sprach von Gottes Gnade, die gerade in diesem Land so sehr vonnöten sei. Immer noch treibe sich der Aufrührer Mkwawa im Osten herum; zwar habe er seine einstige Macht verloren, denn die Wahehe wagten keinen offenen Widerstand mehr, doch Mkwawa sei ein gefährlicher Mörder, der mit seinen Anhängern aus dem Hinterhalt Überfälle auf deutsche Askari-Truppen unternahm. Charlotte hörte ihm zu und pflichtete ihm höflich bei, insgeheim glaubte sie jedoch nicht, dass dieser Mkwawa so schrecklich gefährlich war. Die Schwarzen, die sie bisher gesehen hatte, waren zwar leider oft betrunken und veranstalteten wüste Prügeleien, doch im Grunde waren sie fröhliche, gutmütige Menschen. Endlich reichte der Missionar Schammi seine leere Kaffeetasse, und Charlotte hoffte, er würde sich verabschieden, doch er zögerte und fragte: »Glauben Sie, es wäre möglich, Ihre Cousine für einen kurzen Augenblick zu sprechen? Ich will auf keinen Fall aufdringlich erscheinen, aber vielleicht könnten Sie sie fragen, ob sie mich empfangen möchte …«

»Aber natürlich …«

Schammi balancierte das Tablett mit dem Kaffeegeschirr nach oben, sie hörten, wie eine Tasse auf der Treppe zerschellte, dann erschien er mit unschuldigem Lächeln wieder im Laden und verkündete, dass bibi Klara sich über einen Besuch sehr freuen würde. Missionar Siegel stülpte sich den schwarzen Hut auf, den er aus Höflichkeit abgenommen hatte, bewegte sich geschickt an den dicht gefüllten Regalen vorbei und folgte Schammi die Stiegen hinauf.

Ein merkwürdiger Mensch, dachte Charlotte. Aber Klara wird es gefallen, dass der Pfarrer so besorgt um sie ist. Der andere, der vor Weihnachten zurück nach Deutschland gereist ist, hat uns nie einen Besuch abgestattet. Sie überlegte kurz, ob sie mit hinaufgehen sollte, da es nach Klaras Vorstellung nicht schicklich war, sich allein mit einem Mann in der Wohnung aufzuhalten, aber erstens war Peter Siegel ein Geistlicher, und zweitens trieb sich auch Schammi dort oben herum.

Es mochten kaum zwanzig Minuten vergangen sein, da tauchte der Missionar wieder auf, dieses Mal erschien er ihr nachdenklich, fast ein wenig bekümmert. Er verabschiedete sich mit einem langen Händedruck und wünschte ihr von ganzem Herzen Gottes Segen, vor allem für ihre Cousine Klara, die eine so vortreffliche junge Frau sei und nur rasch gesunden möge. Dann trat er hinaus in den wieder einsetzenden Regen und lief mit nach vorne gezogenen Schultern davon.

»Bwana Christian hat uns vergessen«, stellte Schammi unvermittelt fest. »Ist fortgelaufen und kommt nicht wieder. Wir ohne ihn leben.«

»Schwatz keinen solchen Blödsinn!«, fuhr Charlotte ihn an. »Geh zu Schmidts Brauerei und frag nach ihm. Hör dich ein wenig um. Hast du mich verstanden?«

»Ja, bibi Charlotte.«

Schon nach kurzer Zeit kam er zurück und breitete hilflos die Arme aus.

»Bwana Christian nicht da. Trinkt nicht pombe. Heute nicht. Gestern nicht.«

Es war schon nach fünf. Gegen sechs Uhr wurde es dunkel, die wenige Kundschaft, die jetzt noch zu erwarten war, würde sie auch nicht reich machen. Charlotte trug Schammi auf, den Laden zu schließen und das Schloss vorzuhängen, dann brachte sie die Tageseinnahmen in die Wohnung hinauf, um das Geld in ihrem Versteck aufzubewahren. Es gab nicht nur Löwen nachts in den Straßen, man hörte auch immer wieder von Überfällen und Einbrüchen. Bisher war sie zum Glück davon verschont geblieben, doch man musste vorsichtig sein.

Klaras Gesicht glühte, ihre Temperatur war wieder gestiegen, aber sie behauptete steif und fest, sich gut zu fühlen; sie habe kräftig gegessen und auch viel getrunken. Charlotte zweifelte daran, Klaras Augen waren gerötet und hatten einen seltsamen Glanz, der nur vom Fieber herrühren konnte.

»Ist Christian gekommen?«

Charlotte schüttelte den Kopf. Sie war jetzt machtlos gegenüber all den Schreckensbildern, die an ihr vorüberzogen. War er in die Sümpfe gelaufen? Hatte er sich ins Meer gestürzt? Möglicherweise hatte er Streit gesucht und lag jetzt verletzt in irgendeinem dunklen Winkel. Hilflos, mit blutenden Wunden …

»Wir müssen etwas unternehmen, Charlotte …«

Der Entschluss kostete sie unendlich viel Überwindung. Man würde sie vermutlich belächeln, vielleicht auch abschätzig beäugen. Schau an, der Mann ist ihr davongelaufen. Nun ja, er wird Grund gehabt haben …

»Ich gehe zum Stadthaus. Vielleicht kann die Polizei oder die Schutztruppe uns helfen.«

Sie ließ Schammi bei Klara zurück und hastete durch die aufgeweichten Straßen, machte sich Vorwürfe, so lange gezögert zu haben, womöglich tat im Stadthaus zu dieser Stunde keiner mehr Dienst. Vom Minarett der Moschee waren die lang gezogenen Rufe des Muezzin zu vernehmen, Araber, Inder und schwarze Afrikaner liefen an ihr vorbei, um ihr Abendgebet zu verrichten, und sie wurde eine Weile mit dem Menschenstrom mitgerissen. Als sie die Moschee südlich der Inderstraße hinter sich gelassen hatte, hörte sie, wie jemand laut ihren Namen rief. Es war Sarah William. Ihre Reisebekanntschaft, die trotz Klaras Weigerung, für sie zu nähen, immer wieder in Charlottes Laden einkaufte.

»Ich bin in Eile …«

Sarah stand mitten auf dem Weg zwischen zwei breiten Wasserlachen und hatte zur Begrüßung den zusammengefalteten, grasgrünen Schirm gehoben.

»Falls du deinen Mann suchst, meine Liebe, könnte ich dir einen Wink geben.«

Charlotte erstarrte. Immer noch war die Straße voller Menschen, doch Sarah hatte deutsch gesprochen, eine Sprache, die nur wenige Eingeborene verstanden.

»Schau mich nicht so an, Mädchen. Er ist nicht etwa bei mir. Aber heute Nachmittag besuchte mich ein Bekannter und erzählte mir, dass es Ärger gegeben habe.«

»Ich verstehe nicht, wovon du redest.«

Sarah bohrte die Spitze ihres Schirms in den Matsch und seufzte. Offensichtlich tat sie sich schwer, einem begriffsstutzigen Wesen wie Charlotte solch einfache Dinge zu erklären.

»Hör zu, meine Liebe«, sagte sie schließlich. »Wir sind schließlich Reisegefährtinnen und müssen uns beide allein durchschlagen. Ich werde dir also das Haus zeigen. Aber hineingehen will ich auf keinen Fall, das würde meinem Ruf schaden, verstehst du?«

Charlotte nickte, obgleich sie gar nichts verstand. Doch eine böse Ahnung sagte ihr, dass sie Dinge sehen und erfahren würde, die besser vor ihr verborgen geblieben wären. Dennoch schloss sie sich Sarah an, die mit wiegendem Schritt vorausging, geschickt die schlimmsten Schlammlöcher umschiffte und dabei noch die Stirn hatte, einem vorübereilenden Postbeamten mit strahlendem Lächeln einen guten Abend zu wünschen. Der Weg führte zurück, sie überquerten die Inderstraße, liefen an den verlassenen Markthallen vorbei in westlicher Richtung. Dort begann sich der Himmel im Abendrot zu färben, kleine Wölkchen schwammen darin, die ehemals grau gewesen waren, jetzt aber gelblich und orangerot leuchteten. Die verfallenen Häuser, an denen sie vorübergingen, erhielten in diesem Licht ein seltsam unwirkliches Aussehen, so als stünden die Trümmer und losen Steine in Flammen.

»Du willst doch nicht etwa ins Negerviertel?«

Das Viertel der Schwarzen lag am westlichen Rand von Daressalam; Charlotte hatte es nur von Weitem gesehen, man hatte ihr geraten, diese Gegend zu meiden. Dort standen niedrige Lehmhütten mit Strohdächern in ordentlichen Reihen, dazwischen wimmelten Kinder und Frauen, Hühner, Ziegen und Esel. Vor den Hütten wurde gekocht, getrunken, gefeiert, manchmal – so hatte man ihr erzählt – kam es auch zu üblen Schlägereien. Die Deutschen kontrollierten das Viertel häufig, denn es war ein unermüdlicher Quell von Ärgernissen.

»Nur an den Rand. Komm zu mir herüber. Von hier aus kannst du es sehen.«

Sarah war auf einen der Schutthügel gestiegen und deutete mit dem Arm auf ein lang gezogenes, flaches Gebäude, das mit Wellblechplatten gedeckt war. Eine niedrige Mauer umgab das Anwesen, in einer Ecke der Einfriedung lag allerlei Gerümpel, darunter Holzkisten, leere Blechdosen und Flaschen. Von der Rückseite des Gebäudes stieg eine feine Rauchsäule auf, dort wurde vermutlich auf offenem Feuer gekocht.

»Was ist das?«

Wieder tat Sarah einen Seufzer, dann überwand sie sich zu einer Erklärung.

»Also hör zu. Du musst es ja nicht an die große Glocke hängen und vor allem nicht die arme, kleine Klara damit behelligen. Versprich mir das. Mädchen wie Klara sollten von diesen Dingen besser nichts wissen.«

»Nun rede schon!«

»Dort halten sie sich ihre Negerinnen«, sagte Sarah in verächtlichem Ton. »Sie mögen nicht ins Negerviertel gehen, das wäre ihnen zu dreckig und zu gefährlich. Also haben sie sie hier eingepfercht, versorgen sie mit allem, was sie brauchen, und geben ihnen auch ein wenig Geld. Die Mädchen müssen sich vorher gründlich waschen, darauf legen sie Wert, und wenn eine krank wird, dann schicken sie sie zu ihrer Familie zurück.«

Charlotte starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Konnte das sein? Sie hatte von solchen Häusern gehört, dort verkehrten heruntergekommene Gestalten, schmutzige Ganoven, der Abschaum der Menschheit.

»Ich kann sie ja verstehen«, schwatzte Sarah weiter. »Es sind lauter junge Kerle, die hierher nach Deutsch-Ost kommen, die meisten bleiben nicht allzu lang, und verheiratet sind die wenigsten. Tagsüber laufen sie in ihren schönen, weißen Uniformen herum, polieren ihre Orden und Silberknöpfe, aber in den Nächten überfällt sie die Einsamkeit. Es sind eben Männer, die halten es nicht lange aus, wenn sie nicht hin und wieder mal … na, du weißt schon. Und mit einer Schwarzen ist das für manche ganz besonders aufregend, das haben sie zu Hause in Deutschland nicht …«

»Hör auf!«, rief Charlotte entsetzt und hielt sich die Ohren zu.

Sarah betrachtete sie stirnrunzelnd, dann stieg sie von dem Schutthaufen hinunter und machte Anstalten, in die Stadt zurückzukehren.

»Sie sind ihren Liebhabern nicht besonders treu, die Negerweiber, wenn sie etwas nebenbei verdienen können, dann tun sie es, weil sie das Geld für ihre Familien brauchen. Wie ich hörte, hat dein Mann gestern Ärger mit einem der Offiziere gehabt, der ihn mit seinem Negerliebchen erwischte …«

Sarah war schon einige Schritte weit entfernt und fast hinter einer Mauer verschwunden, als Charlotte sich wieder gefasst hatte.

»Sarah! Lauf doch nicht fort. Bitte! Ich kann doch unmöglich ganz allein da hineingehen.«

Sie blieb nicht stehen, wendete nur ein wenig den Kopf zur Seite.

»Es ist jetzt keiner dort, Mädchen. Sie kommen erst, wenn es dunkel ist …«

Damit war sie fort, und Charlotte blieb in hilfloser Verzweiflung zurück. Vielleicht war das alles ja gar nicht wahr, diese boshafte Person hatte ihr ein Märchen erzählt. Deutsche Offiziere und Beamte der Gouvernementsregierung sollten sich nachts in dieses Haus schleichen, um mit schwarzen Mädchen Unzucht zu treiben? Das konnte doch nur eine Lüge sein. Und Christian – was immer man über ihn sagen mochte, er würde doch niemals …

Oder etwa doch? War die Welt anders bestellt, als sie es bisher geahnt hatte? War sie ein naives, blauäugiges Hühnchen, wie Christian so gerne behauptete?

Das Abendrot war nur noch ein schwacher, orangefarbiger Schein, der langsam erlosch; bleiernes Grau breitete sich am Himmel aus und ließ den dichten Wald aus Akazien und Mammutbäumen hinter dem Ort dunkel erscheinen. Es blieb nicht mehr viel Zeit.

Sie musste um die Mauer herumgehen, um zu dem hölzernen Gatter zu gelangen, das die Umfriedung verschloss. Jetzt waren mehrere kleine Feuer zu sehen – flackernde, gelbrote Lichter in der herabsinkenden Dämmerung. Junge Afrikanerinnen hockten am Boden und kochten Mais und Gemüse, sie waren fröhlich, lachten und redeten, die bunten Tücher um ihre Köpfe leuchteten im Feuerschein, Ohrringe und Halsketten blitzten. Als Charlotte das Gatter aufzog, verstummten sie und starrten sie mit ungläubigem Staunen an. Wenn Sarah die Wahrheit gesagt hatte, dann war sie vermutlich die erste weiße Frau, die diesen umfriedeten Raum betrat.

»Jambo«, grüßte sie und bemühte sich, so unbefangen wie möglich zu wirken, wenngleich ihre Hände vor Aufregung zitterten. »Jambo – kocht nur in Ruhe weiter.«

»Was willst du?«

Sie wusste nicht, wer die Frage gestellt hatte. Es war jetzt schon so dämmrig, dass sie die dunklen Gesichter der Frauen kaum unterscheiden konnte, nur das Weiße in ihren Augen leuchtete und die Zähne, wenn sie lachten oder sprachen.

»Ich suche einen weißen Mann. Christian Ohlsen.«

Eine der Frauen erhob sich, zog das Tuch fester, das sie um den Körper gewickelt hatte, und jetzt erst sah Charlotte, dass sie einen winzigen Säugling an der Brust hielt. Sie reichte das Kind einer anderen, klägliches Gewimmer ertönte, doch die Mutter zog unbekümmert einen brennenden Stock aus dem Feuer, um damit eine Petroleumlampe zu entzünden. Sie hielt das Licht in die Höhe und ging auf Charlotte zu.

»Dein Mann?«, fragte sie mit rauer Stimme.

Die Frau war ganz sicher noch keine zwanzig, vermutlich weitaus jünger, obgleich es Charlotte schwerfiel, das Alter der Eingeborenen zu schätzen. Ihre Haut glänzte wie matte Bronze, die breite Nase und die wulstigen Lippen ließen sie in Charlottes Augen nicht gerade schön erscheinen, aber in ihrem Blick lag ein Ausdruck von Verstehen.

»Ja, er ist mein Mann«, gab Charlotte zu. »Ist er … ist er hier?«

Ohne eine Antwort machte die Schwarze kehrt, eilte mit dem Licht auf den Hauseingang zu und öffnete die Tür. Dann sah sie sich nach Charlotte um.

»Er ist hier. Aber du musst viel Kraft haben, bibi.«

Ein unangenehmer Geruch nach Essensresten, Urin und Alkohol schlug ihr entgegen, undeutlich erkannte sie die Umrisse von Holzkisten, einen kaputten Sessel, auf dem Boden lagen Strohmatten. Weiter hinten gab es einen schmalen Flur, von dem zu beiden Seiten mehrere Türen abgingen, einige standen offen, dahinter war es dunkel.

Die Frau ging bis zum Ende des Flures und zog dort eine grobe Brettertür auf. In dem winzigen Raum standen Bretterregale und Säcke, Mäuse huschten davon, als das Licht hineinfiel. Es roch so widerlich, dass sich Charlotte der Magen hob. Christian lag auf dem Rücken, die Arme über der Brust verschränkt. Man hatte seine Knie angewinkelt, um die Tür schließen zu können.

»Will nicht fort. Nur trinken. Wir den Brandy fortnehmen, er holt ihn zurück. Wird böse. Trinkt und trinkt.«

Charlotte starrte schaudernd auf das zusammengekauerte Bündel Mensch. War das wirklich Christian, ihr Ehemann? Sein Haar war zerzaust, die Oberlippe geschwollen, eine eingetrocknete Blutspur verlor sich in den zwei Tage alten Bartstoppeln. Jacke und Hose waren zerrissen und besudelt mit Erbrochenem.

»Nimm ihn mit. Wir dir helfen. Aber jetzt gleich. Schnell. Bevor andere Männer kommen …«

Er öffnete nicht einmal die Augen, als sie ihn aus dem Verschlag zerrten, willenlos ließ er geschehen, dass man ihn an den Füßen durch den Flur, in den Vorraum, über die Schwelle zog. Vor dem Gebäude kamen einige der Frauen herbei, um ihnen zu helfen, sie schafften den schlaffen Körper bis zum Gatter, danach kehrten sie zu ihren Feuern zurück und überließen Charlotte alles Weitere.

Voller Abscheu hockte sie sich neben ihren Mann, zog ihm die stinkende Jacke vom Körper und versuchte, ihn wieder zum Leben zu erwecken. Sie schüttelte ihn, rief seinen Namen, bat ihn, sich zusammenzunehmen, doch erst als sie ihm mehrere kräftige Ohrfeigen verpasste, regte er sich.

»Steh auf, verdammt. Willst du, dass uns die Löwen fressen?«

Tatsächlich rappelte er sich langsam auf alle viere, kroch durch den Schlamm und kam schließlich auf die Füße. Torkelnd schleppte er sich ein Stück voran, stolperte und sackte wieder in sich zusammen. Sie musste all ihre Kraft zusammennehmen, um ihn zu stützen.

Der Mond war aufgegangen und tauchte Trümmer, Buschwerk und Weg in bläuliches Licht, ließ zitternde Schatten wachsen und Palmen zu schwebenden, vielarmigen Geisterwesen werden. Christian lastete so schwer auf ihr, dass sie an den Marktunterständen eine Pause einlegen musste. Völlig erschöpft ließ sie ihn zu Boden gleiten und lehnte sich gegen einen der Pfosten, vernahm nichts als das gellende, lang gezogene Zirpen der Grillen und das hastige Pochen ihres Herzens. In ihrem Inneren herrschte eine eisige Leere, sogar die Angst vor den umherstreunenden Löwen war vergangen. Als sie zu Tode erschöpft in der Inderstraße ankamen, ließ sie Christian unten im Laden liegen, stolperte die Treppe hinauf und warf sich auf ihr Lager. Lange lag sie vollkommen reglos auf dem Bauch, wartete auf die Tränen, den Zorn, die Verzweiflung, doch sie blieben aus.

Himmel über dem Kilimandscharo
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