Drei Wochen später wurde Christian Ohlsen aus dem Arrest entlassen. Man hatte Milde vor Recht ergehen lassen, eine Anzeige war auf Fürsprache der lutherischen Gemeinde zurückgezogen worden. Andere Geschädigte dachten praktisch: Aus einem Zuchthäusler war unter keinen Umständen mehr Geld herauszuholen.

Christians Zustand war besorgniserregend. Er sprach nicht, aß kaum, saß stundenlang zusammengesunken in der Küche auf einem Stuhl und starrte auf den gefliesten Boden. Wenn man ihm Fragen stellte, hob er den Kopf, als erwache er aus einer tiefen Trance, und auf eine Antwort musste man lange warten.

»Er hat das alles wohl erst jetzt begriffen«, sagte Klara leise zu Charlotte, als sie am Abend in den Betten lagen. »Wir können nur hoffen, dass er nicht ernstlich krank wird.«

Die Versteigerung hatte nur einen Teil der Schulden gedeckt, den Rest würde Christian abbezahlen müssen. Was immer er tat, wo immer er Geld verdiente, es würde ihm nur ein kleiner Teil davon bleiben, alles andere wanderte zu seinen Gläubigern. Und da die Summe erheblich war, konnte er darauf rechnen, bis zu seinem Lebensende auf keinen grünen Zweig mehr zu kommen.

Der Tod des Großvaters kurz vor Weihnachten kam nicht unerwartet und war trotz allen Kummers doch eine Erlösung, nicht nur für ihn selbst, sondern auch für die Großmutter, die seit Wochen kaum von seinem Krankenlager gewichen war. Noch einmal erlebte Charlotte das Zusammentreffen der umfangreichen Familie, dieses Mal zu einem traurigen Anlass, der dennoch gebührend mit Kaffeetrinken und Kuchenessen im Haus der Großmutter begangen werden musste. George und Marie waren nicht angereist, worüber Charlotte recht erleichtert war. Menna war inzwischen verheiratet und hochschwanger, ihr Bruder Henrich hoffnungsvoller und braver Student der Theologie, Pastor Harm Kramer hatte die Stellung des Superintendenten eingenommen, und seine Tischpredigt fiel daher noch ein wenig länger und frömmer aus. Es war das letzte Familientreffen, bei dem sie zugegen sein würde, das hatte Charlotte längst bei sich beschlossen, und sie nahm alle Eindrücke tief in sich auf, um sie für sich zu bewahren: die Grablegung auf dem eisigen Friedhof unter dem bleigrauen Himmel, das muntere Geschwätz in der geheizten Stube, Tante Fannys Gejammer, die unbeschwerte Fröhlichkeit von Ettjes kleinen Söhnen, der tiefe, schweigsame Kummer der Großmutter.

Zum ersten Mal in ihrem Leben würde sie ihre Zukunft in die eigenen Hände nehmen. Und nicht nur ihre eigene, auch das Glück zweier weiterer Menschen hing von dem Gelingen ihrer Pläne ab. Sie zitterte vor diesem Unternehmen, und zugleich berauschte sie sich daran. Der Weg in jene Traumlandschaften, die ihr immer vor Augen geschwebt hatten, lag offen vor ihr. George hatte recht, man konnte Träume leben. Doch es gehörte eine Menge Geschick und Klugheit dazu, das Tor zur Freiheit unbeschadet zu durchschreiten.

Spät am Abend, als die Gäste das Haus verlassen hatten und die Küchenarbeit erledigt war, ging sie hinüber in die Stube, wo Christian auf dem Sofa schlief. Er hatte sich den Tag über verborgen gehalten, war nicht mit zum Friedhof gegangen; während des Kaffeetrinkens hatte er sich in der Schlafkammer versteckt. Sie hatte ihn in Ruhe gelassen, ihr war klar, dass er sich vor der Familie schämte.

»Christian?«

Er lag zusammengekauert mit dem Gesicht zur Rücklehne; als sie ihn sanft an der Schulter rüttelte, machte er keine Bewegung. Doch sie wusste, dass er nicht schlief.

»Wir müssen reden, Christian.«

Sie spürte, wie sein Körper sich versteifte. Vermutlich dachte er an die zornige Auseinandersetzung vor vier Wochen, kurz bevor man ihn abgeführt hatte. O ja, er war ein Feigling. Er fürchtete nichts mehr, als ihr sein Versagen und seine Hoffnungslosigkeit eingestehen zu müssen.

»Wir werden auswandern«, sagte sie kurz und knapp. »Du, ich und Klara.«

Er tat einen langen Atemzug, ob aus Erleichterung oder aus Widerwillen war nicht auszumachen. Weiter gab er kein Lebenszeichen von sich.

»Hast du gehört, Christian? In zwei Monaten reisen wir ab, ich habe alles genau geplant.«

Jetzt endlich rang er sich dazu durch, ihr eine Antwort zu geben. Seine Stimme war heiser und sehr leise.

»Das ist unmöglich, Charlotte.«

Er tat ihr leid in seiner Verzweiflung, doch sie brachte es nicht fertig, seine Schulter zu streicheln. Er war ihr Ehemann, sie hatte gelobt, an seiner Seite zu bleiben, und dieses Gelöbnis würde sie halten. Respekt oder Achtung empfand sie nicht mehr vor ihm – er war ein hilfloses Kind, für das sie sorgen musste, sie durfte ihn nicht untergehen lassen in seinem Unglück.

»Hör zu«, sagte sie und setzte sich auf die Sesselkante. »Ich habe mit Onkel Gerhard gesprochen, er wird mir schreiben, wann ein Reichspostdampfer Ende Februar oder Anfang März in Hamburg ablegt. Bis dahin werden wir unser Vorhaben keinem Menschen anvertrauen. Du weißt, aus welchem Grund.«

Er drehte sich auf den Rücken und starrte sie aus weit aufgerissenen Augen an, als wäre sie verrückt geworden. Wie fremd er ihr erschien mit dem zerrauften Haar und dem ungepflegten Vollbart, den er aus Nachlässigkeit hatte wachsen lassen.

»Was hast du dir da nur ausgedacht, Charlotte? Sie werden mich festnehmen, wenn ich versuche, das Land zu verlassen.«

»Es wird niemand bemerken. Wir steigen am frühen Morgen in den Zug nach Emden, von dort aus geht es per Schiff nach Hamburg. Natürlich können wir nur wenig Gepäck mitnehmen …«

Sie würde ihr Klavier zurücklassen müssen. Das Klavier ihrer Mutter, das sie all die Jahre begleitet hatte, das ihr so viele glückliche Augenblicke geschenkt hatte. Und doch war auch ihre geliebte Musik nur eine Betäubung gewesen, die sie daran gehindert hatte, das Leben, das wirkliche Leben mit beiden Händen anzupacken.

Der entschlossene Ausdruck in ihren Zügen tat seine Wirkung. Christian richtete sich zum Sitzen auf, sein Blick war jetzt unruhig, als schwanke er zwischen Hoffnung und Resignation.

»Mit dem Reichspostdampfer? Woher willst du das Geld für die Überfahrt nehmen? Wohin willst du überhaupt?«

»Nach Afrika.«

»Nach Afrika?«, wiederholte er ungläubig. »Doch nicht etwa nach Ägypten, wo deine Cousine lebt?«

»O nein!«

Sosehr sie sich danach gesehnt hatte, George nahe zu sein – dieser Traum war für immer ausgeträumt. Sie war mittellos, hatte für ihre behinderte Cousine Klara und den hilflosen Christian zu sorgen – in Ägypten würde sie auf Georges Hilfe angewiesen sein. Dazu war sie zu stolz.

»Ich will nach Sansibar. Vielleicht auch nach Daressalam.«

»In die neue Kolonie? Nach Deutsch-Ostafrika? Und was sollen wir dort tun? Ohne einen Pfennig Geld?«

»Das Gleiche, was wir hier im Reich tun würden. Nur wird es einfacher sein. Ich will einen Laden aufmachen und handeln.«

Er kicherte. Es sah merkwürdig aus, kein Laut kam dabei über seine Lippen, nur seine Brust und die Schultern zuckten.

»Du?«

Aus Mitleid verkniff sie sich die boshaften Worte, die ihr auf der Zunge lagen.

»Ja ich. Und ich bin mir sicher, dass es mir gelingen wird.«

Sie war sich keineswegs sicher, aber sie würde alles versuchen, um dieses Ziel zu erreichen. Immerhin machte die Festigkeit, mit der sie diesen Satz sprach, großen Eindruck auf Christian. Er fuhr sich mit beiden Händen durch das gesträubte Kopfhaar und schien sich nun langsam für ihren Plan zu erwärmen.

»Wenn, dann werden wir beide das tun, Charlotte. Ich kenne mich aus, und du weißt nicht einmal, wie man ein Handelsbuch führt …«

Sie schwieg auch jetzt. Wichtig war, dass er endlich wieder Mut fasste und zu Kräften kam. Was später würde, stand in den Sternen. In den hellen, glänzenden Gestirnen des afrikanischen Nachthimmels.

»Zu niemandem ein Wort, Christian«, ermahnte sie ihn. »Weder die Großmutter noch Tante Fanny, noch sonst irgendjemand aus der Verwandtschaft dürfen davon erfahren. Nur Klara weiß Bescheid und Onkel Gerhard, doch der hat versprochen zu schweigen.«

»Es ist eine verrückte Idee, Charlotte …«

»Es ist die einzige Möglichkeit!«

Er versprach ihr, Stillschweigen zu bewahren, zunächst noch ein wenig halbherzig, doch mehr und mehr für diesen Plan entflammt. Am folgenden Morgen fand er sich ordentlich gekleidet und rasiert in der Küche ein, um zu frühstücken, den Tag über lauerte er auf eine Gelegenheit, mit Charlotte allein zu bleiben, um ihr Fragen zu stellen. Weshalb gerade Ostafrika? Weshalb nicht Amerika? Dort sei das Klima angenehm, es würde Land an die Aussiedler verteilt, man könne sogar Gold finden … Ob sie nicht von dem Buschuri-Aufstand in der Zeitung gelesen habe? Die Araber hätten sich an der ostafrikanischen Küste gegen die Deutschen erhoben, es habe Kämpfe und Tote gegeben, Daressalam sei in Schutt und Asche gelegt worden. Nur mit Hilfe der deutschen Kriegsflotte habe man diese elenden Sklavenhändler in ihre Schranken weisen können …

»Das war vor sieben Jahren, Christian. Jetzt herrscht dort Frieden. Die Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft will Plantagen anlegen, das könnte sie nicht tun, wenn es dort Aufstände gäbe!«

Ihre Energie riss ihn mit. Nach dem Weihnachtsfest begann er, von Geldern zu reden, die er in Bremen noch eintreiben könnte, auch wollte er sich nach den Kosten für die Überfahrt erkundigen.

»Wenn du das tust, wird alles auffliegen! Bleib hier im Haus, und sprich mit niemandem. Das musst du mir schwören, Christian!«

Er fügte sich, wenn auch ungern. Eine große Rastlosigkeit hatte ihn erfasst. Charlotte gab Klavierunterricht bei verschiedenen Familien und war ganze Nachmittage unterwegs, Klara hatte Aufträge angenommen und nähte bis spät in die Nacht hinein. In den wenigen freien Momenten zeichnete sie Porträts von der Großmutter und Tante Fanny, von Ettje und Peter Hansen und von deren drei Söhnen. Sie zeichnete das Haus und den Garten, der jetzt von Schnee bedeckt war, den Eingang mit dem leeren Schwalbennest, die Straße, die Menschen, die vorübergingen.

»Übertreib es nicht, Klara!«, warnte Charlotte sie leise, wenn sie ihr über die Schulter sah.

»Ich will, dass wir das alles hier nicht vergessen. Die Bilder werden uns helfen, unsere Heimat auch in der Ferne vor Augen zu haben.«

Den Großteil des Geldes, das sie verdienten, gaben sie für Lebensmittel aus, da sie der Großmutter nicht zumuten konnten, sie durchzufüttern. Einen Teil jedoch behielten sie zurück; es war nicht viel, aber sie mussten die Reise bis Hamburg bezahlen. Charlotte hatte inzwischen ein Schreiben von Gerhard erhalten und die Preise für die Überfahrt erfahren. Es wurde ihr schwindelig, als sie die Zahlen las; selbst wenn sie in der dritten Klasse reisten, würden sie an die sechshundert Mark benötigen.

»Woher willst du dieses Geld nehmen?«, fragte Christian aufgeregt. »Willst du es stehlen?«

»Ich werde es bekommen!«

Sie traute ihm nicht und schwieg über den Schmuck in ihrem Holzkästchen. Ach, auch das geliebte Kästchen würde sie zurücklassen müssen. Es passte nicht in den Koffer, der zudem mit Kleidern und Wäsche gefüllt werden musste.

Zwei Tage später entschloss sich Christian, auf dem Markt Kisten zu schleppen, er kehrte vor den Läden, putzte Fenster und verkaufte seinen guten Anzug samt Hut bei einem Trödler.

»Ich will nicht faulenzen, wenn ihr beide arbeitet«, sagte er beschämt und gab Charlotte die Summe, die er verdient hatte.

»Ach, Christian!«

Was für eine Überwindung musste ihn das gekostet haben, hier in Leer, wo jeder ihn kannte! Wie viel Spott, wie viele hämische Blicke mussten ihn getroffen haben! Nein, er war doch kein Feigling. Plötzlich war die Rührung wieder da, sie legte die Arme um ihn und war froh, ihn nicht im Stich gelassen zu haben.

In der Nacht vor ihrer Abreise schrieb sie einen zärtlichen Brief an die Großmutter, dankte ihr für die Fürsorge, bat um Verzeihung und versprach, so bald wie möglich Post zu senden. All die kleinen Dinge, die von der Versteigerung übrig geblieben waren und die inzwischen zum Haushalt gehörten, schenkte sie Ettje, nur das Klavier sollte Gerhard gehören, so wie es der Großvater einst gewollt hatte.

Keiner von ihnen fand Schlaf in dieser Nacht; alle drei wälzten sie sich auf ihrem Lager herum und erhoben sich noch vor Morgengrauen, leise, vor Kälte und Aufregung zitternd. Die Gaslaternen halfen ihnen, den kurzen Weg zum Bahnhof zu finden, dort warteten nur wenige Menschen auf den Zug nach Emden, graue, verfrorene Gestalten, die von ihnen kaum Notiz nahmen.

Niemand hinderte sie daran, die Stadt zu verlassen, Leer glitt als schwarzer Schemen an den Zugfenstern vorbei, vor ihnen lag das Abenteuer eines neuen Anfangs.

Himmel über dem Kilimandscharo
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