Das war mehr, als sie in ihren kühnsten Träumen erhofft hatte. Die Jahre schienen wie ausgelöscht, als könne man jetzt, nachdem so vieles geschehen war, den Faden einfach wiederaufnehmen und fortspinnen. Sie las den Brief immer wieder, wog jedes Wort ab, grübelte über jede Wendung nach, versuchte, diesen Menschen zu begreifen, für den Schönheit und Grauen, Leben und Tod so eng ineinander verflochten waren. War er ein Träumer? Ganz sicher. Doch er setzte seine Träume in Taten um. Wo sie nur schöne Bilder vor sich sah, da hatte er das Leben mit allen seinen Sinnen gespürt, auch die Qualen, die Todesangst, den Schrecken. Jetzt begriff sie die Unrast in seinen Augen – er war hungrig nach diesem Leben, forderte es heraus, rang mit ihm, wagte sich bis an seine Grenzen. George Johanssen war einer, der ohne Bedenken nach dem Kelch der Götter griff, um ihn bis zur Neige auszukosten.

Wie sie ihn um diesen Mut beneidete! Sie, die im goldenen Käfig eingesperrt saß, der man die Flügel beschnitten hatte, die ihre Sehnsucht nach Weite nur mit Büchern und Musik betäuben konnte. Nicht einmal die Entschuldigung, dass sie eine Frau war, durfte sie geltend machen. Es hatte eine Amelia Edwards gegeben, eine Alexandrine Tinné …

Charlotte zeigte diesen Brief niemandem, nicht einmal Klara, die auch nicht danach fragte. Noch bevor Christian zurückkehrte, hatte sie eine Antwort verfasst und zur Post gebracht. Sie hatte die Worte sorgfältig gewählt, denn sie wollte auf keinen Fall, dass George spürte, wie einsam und unglücklich sie sich in ihrer Ehe fühlte. Stattdessen nannte sie einige der Bücher, die sie gelesen hatte, und gab ihr Urteil darüber ab. Gerhardt Rohlfs’ Quer durch Afrika war ihr an manchen Stellen zu oberflächlich erschienen, sie warf ihm vor, sich allzu wenig um das Verständnis fremder Kulturen zu bemühen. Heinrich Barth war sehr umständlich und genau, auch seine Neugier und sein Lerneifer beeindruckten sie, doch seine Schriften waren schwer zu lesen. Henry Morton Stanley empfand sie als unangenehm, marktschreierisch und selbstverliebt. Sie hatte eine Weile gegrübelt, ob Marie vielleicht gar an Georges Reisen teilgenommen hatte, doch wenn es so gewesen wäre, dann hätte Marie der Familie ganz sicher darüber berichtet – George hatte seine Unternehmungen vermutlich in Gesellschaft von Freunden und Einheimischen durchgeführt. Sie schloss damit, dass sie große Freude an seinem Bericht gehabt habe und ungeduldig auf weitere Schilderungen warte.

Der Form halber fügte sie ein Schreiben an Marie bei und auch eine von Klaras Zeichnungen. Natürlich keines der Portraits, sondern ein Bild, das den Blick aus ihrem Fenster zeigte: spitze Dächer, Schornsteine, darüber der grau schraffierte Himmel; die Stellen, die weiß geblieben waren, stellten Wolken dar.

Das wochenlange Warten war zermürbend. Sie stellte sich vor, wie ihr Brief mit der Bahn nach Hamburg gelangte, dann auf einen der Reichspostdampfer verladen wurde und mit anderen Schreiben zusammengeschnürt in einem Postsack irgendwo im Bauch des Schiffes lag. Schwere See hatte das Schiff zu überstehen, besonders im Ärmelkanal, dann im Atlantik entlang der französischen und spanischen Küste, bis es bei Gibraltar das Mittelmeer erreichte. Doch es war Sommer, das Meer würde gnädig sein und den Dampfer mit ihrem Brief nicht etwa in Seenot geraten lassen, er würde in Marseille anlegen, in Neapel und sicher in Port Said an der afrikanischen Küste anlanden. Von dort aus war es nicht mehr weit bis Kairo. Zwei Wochen würde die Fahrt gewiss dauern, wenn George sofort zurückschrieb, konnte sie schon Ende Juli auf seine Antwort hoffen …

Sie blühte auf, bat Christian, ihr Bücher über Ägypten zu kaufen, vertiefte sich in die Geheimnisse der Pharaonen, las über Jean-François Champollion und den Stein von Rosetta, der die Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen ermöglicht hatte. Zu ihrer Überraschung schien auch ihr Mann an ihren Studien Gefallen zu finden, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit saß er an den Abenden oft bei ihr, um zu lesen. Wollte er ihr damit einen Gefallen tun? Sie fand es rührend, doch im Grunde auch anstrengend, denn sie verspürte wenig Lust, mit ihm über all diese Dinge zu sprechen. Das Licht, das sie beseelte, hatte nichts mit Christian Ohlsen zu tun.

An einem Abend Anfang August, als sie schon vor Ungeduld verging und überlegte, rasch noch einmal in die Ulrichstraße zu den Großeltern zu laufen, warf Christian nachlässig ein Schreiben auf den Tisch. George hatte den Brief an ihre Adresse in der Pfefferstraße geschickt, das Schreiben hatte zwischen den Briefen gelegen, die der Postbote jeden Morgen in den Laden brachte.

»Marie hat dir wohl geschrieben«, bemerkte Christian.

»Ach ja«, sagte sie rasch und versuchte, ihre Aufregung zu verbergen. »Die Großmutter hatte mich gebeten, den Briefwechsel weiterzuführen …«

Sie legte den Brief scheinbar achtlos zur Seite und begann, von einem seltsamen Besucher zu erzählen, der am Morgen versucht hatte, sich zur Wohnung Zutritt zu verschaffen. Er hatte nach Christian gefragt, und als sie ihm versicherte, ihr Mann sei unten im Geschäft, wollte er ihr nicht glauben.

»Was war das für ein Mann? Wie sah er aus?«

»Er trug eine grüne Weste und hatte einen mächtigen Schnauzbart. Ich glaube, es war ein Händler aus Bremen, doch ich habe leider seinen Namen vergessen …«

Die Ablenkung gelang hervorragend, denn Christian geriet ganz außer sich, schalt über die Frechheit dieses Menschen, der in eine fremde Wohnung eindrang, noch dazu in Abwesenheit des Hausherrn.

»War er denn nicht unten bei dir im Geschäft?«

»Gewiss nicht!«

»Hätte ich besser das Mädchen zur Polizeistation geschickt?«

»Aber nein … das nicht … Es ist einfach nur ungehörig, und ich ärgere mich darüber.«

Sie bemühte sich, ihn zu beruhigen, und schob den Brief unauffällig unter eines der Sofakissen, um ihn später ungestört zu lesen. Musste sie ein schlechtes Gewissen deshalb haben? Gewiss war es nicht in Ordnung, Heimlichkeiten vor dem eigenen Ehemann zu haben – doch was tat sie Schlimmes? Es war schließlich kein Liebesbrief, sondern nur ein freundschaftlicher Austausch, und schließlich gehörte George zur Familie. Zudem kam ihre frohe Stimmung auch Christian zugute, sie bemühte sich um ihn, kleidete sich so, wie er es immer gewünscht hatte, steckte ihr Haar auf neue Art auf und zeigte sich zärtlich, wenn er sie begehrte. Was in letzter Zeit jedoch recht selten geschah.

Erst am folgenden Morgen fand sie Gelegenheit, Georges Schreiben zu öffnen. Es war umfangreich, neben einem ausführlichen Brief fand sie zwei eng beschriebene Bögen, auf die Rückseiten hatte er mit Bleistift Skizzen gezeichnet, Pflanzen, verfallene Mauern einer Oasensiedlung, ein Boot mit schmalem Segel und Ruderern auf einem ruhig dahinströmenden Fluss.

Meine liebe Freundin,

mit welcher Begeisterung habe ich dein Schreiben gelesen! Ich ahnte, dass auch du deinen Träumen treu geblieben bist, es konnte nicht anders sein, sind sie doch ein Teil deiner selbst. Ein kluges Mädchen bist du geworden, liebe Charlotte. Dein Urteil über die verschiedenen Reiseberichte deckt sich ganz und gar mit meinem Empfinden, auch ich mag Stanleys Art nicht, obgleich er ein blendender Schreiber ist. Wenn es dir möglich ist, dann besorge dir Quer durch Afrika von Verney Lovett Cameron, ich denke, es wird dir viel Freude bereiten

Himmel über dem Kilimandscharo
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