Der Weg wand sich durch die Savanne, die Steigung war mäßig, und nur langsam gewannen sie an Höhe. Noch war es morgenkühl, doch die Nebel wurden durchsichtig und zerfaserten, gaben den Blick auf den unteren Teil des Bergmassivs frei, ohne dessen Gipfel zu enthüllen. Von Roden trieb die Maultiere mit Schnalzen und aufmunternden Rufen an, er selbst ging den staubigen Pfad mit leichtem Schritt, eilte mal voraus, blieb dann wieder zurück, um sich gleich wieder an die Spitze des kleinen Zugs zu setzen. Das Tempo war ungewohnt rasch, nur selten vernahmen sie die Trommeln und Hörner der Karawane, die sich hinter ihnen bewegte.

Charlotte hatte das Reiten zuerst genossen, zumal sich wieder einmal erwies, wie praktisch es für eine Frau war, eine Hose zu tragen. Doch als von Roden sich schmunzelnd an Christian wandte und bemerkte, er könne ihm zu seiner Frau nur gratulieren, stieg ein leicht beklommenes Gefühl in ihr auf. »Sie ist nicht nur eine Schönheit«, hatte er gesagt, »sondern auch eine ausgesprochen vernünftige Person, lieber Ohlsen. Für eine solche Reise sollte eine Frau Männersachen anlegen. Bei anderen Anlässen – und ich denke, da sind wir einer Meinung – sehen wir eine schöne Frau lieber in weiblicher Bekleidung.«

Christian hatte diese Sätze nur mit einem kurz angebundenen »Gewiss!« kommentiert, während Charlotte diese Komplimente eher peinlich waren. Ein Blick in von Rodens lächelndes Gesicht zerstreute jedoch ihre Befangenheit, es lag nichts Doppelsinniges in seinen Worten, er hatte einfach gerade heraus gesagt, was er dachte.

Bald wurde es drückend heiß, und immer noch führte der Pfad durch die graue Savanne, nur ab und an entdeckten sie eine einsame Akazie, die Zweige von Hitze und Wind zerrissen, ein wenig Buschwerk und in der Ferne einen blassgrünen Streifen: Dort floss ein Rinnsal vom Berg hinab durch die Steppe, das irgendwo in dem trockenen Boden versickerte.

Immer noch schritt ihr Führer kräftig aus, auch die drei Schwarzen waren gut zu Fuß, und Charlotte staunte über ihre Ausdauer. Waren sie nicht in der Nacht aufgebrochen und erst am Morgen unten in Klein-Arusha angekommen? Sie mussten doch müde sein nach dem langen Weg und ganz ohne Schlaf. Sie selbst spürte jetzt schon ein Ziehen in den Oberschenkeln, denn sie war das Reiten nicht gewohnt. Neidisch sah sie zu, wie Dobner und Dr. Meyerwald sich angeregt miteinander unterhielten, wenn der Weg das Nebeneinanderreiten ermöglichte. Die beiden waren auf früheren Reisen oft zu Pferd unterwegs gewesen; problemlos kamen sie mit den störrischen Maultieren zurecht, und Dr. Meyerwald wurde nicht müde zu betonen, dass er diese Art der Fortbewegung, die in Schwarzafrika leider nur in den Höhenlagen möglich sei, dem Reisen per pedes bei Weitem vorziehe. Auch Christians Reittier fügte sich ohne nennbaren Widerstand seiner Führung, und Charlotte musste zugeben, dass er keine schlechte Figur im Sattel abgab. Ihr eigenes Maultier jedoch war von der widerspenstigen Sorte, immer wieder blieb es stehen, als warte es darauf, von der lästigen Reiterin befreit zu werden, und es dachte gar nicht daran, auf ihre zornigen Rufe oder Fersentritte zu reagieren. Schließlich, als sie immer weiter zurückblieb, nahm sich Max von Roden ihrer an und führte das Maultier kurzerhand am Halfter.

»Man muss ein wenig energisch mit ihm sein«, erklärte er grinsend. »Es hat seinen eigenen Kopf, aber wenn es seinen Herrn einmal akzeptiert hat, dann ist es ein ausdauerndes und ungewöhnlich schlaues Bürschchen.«

»Schlau ist es sicher. Es will mich überreden abzusteigen, weil es sich ohne Reiterin leichter läuft.«

Von Roden lachte und zog das Tier voran, um den Abstand zu den anderen zu verringern; das Maultier trabte brav an seiner Hand und machte keinerlei Mätzchen mehr. Nach einer Weile ließ von Roden das Halfter los, ging aber weiter neben Maultier und Reiterin her, um notfalls wieder eingreifen zu können. Er schien Spaß daran zu haben, Charlotte beim Reiten zuzusehen, gab ihr Ratschläge, wie sie die Zügel halten und dem Tier mit den Beinen ihren Willen deutlich machen konnte, erklärte dann aber, sie mache das alles schon recht gut, das Reiten liege ihr offenbar im Blut. Charlotte, die inzwischen vor Anstrengung schwitzte, empfand sein Lob als reichlich übertrieben, dennoch ließ sie sich nicht verdrießen.

»Haben Sie sich heute früh sehr erschreckt?«, wollte er von ihr wissen.

»Nun ja – es war das erste Mal, dass ich einem Löwen so nah war. Er stand nur wenige Zentimeter von mir entfernt, nur die Zeltplane war zwischen uns. Und dann sah ich seine Pranke, die er unter der Plane hindurchstreckte …«

Ziemlich ungehalten stellte sie fest, dass er bei dieser Schilderung zu lachen begann. Als er ihren Unmut bemerkte, nahm er den Hut ab, fuhr sich mit der Hand durch das verwilderte, blonde Haar und stülpte ihn sich wieder auf den Kopf.

»Ich glaube nicht, dass Sie wirklich in Gefahr waren, Frau Ohlsen. Die Raubtiere machen momentan reiche Beute, erst gegen Ende der Trockenzeit, wenn alle Herden weggezogen sind, schaut das anders aus. Vermutlich war es ein junges Tier, das einfach nur die Neugier ins Lager getrieben hat?«

»Die … Neugier?«

Er schnalzte mit der Zunge, weil das Maultier die Gelegenheit wahrgenommen hatte, in eine langsamere Gangart zu verfallen.

»Ja, genau. Das Ganze hätte nur gefährlich werden können, wenn jemand aus dem Zelt getreten wäre, ohne von dem ungebetenen Besuch zu wissen. Dann hätte das Kätzchen möglicherweise geglaubt, sich verteidigen zu müssen …«

Es war seltsam, wie rasch seine sorglose Art auf sie übersprang. Belustigt sah sie auf ihn herunter, wie er seinen verdellten, braunen Hut immer wieder in den Nacken schob, um Reiter und Weg nicht aus den Augen zu verlieren.

»Sie meinen – als diese Raubkatze ihre Pranke in mein Zelt steckte, wollte sie nur … spielen?«

»Möglich.«

»Ach!«, sagte sie mit gespielter Enttäuschung. »Und ich habe schon geglaubt, Sie hätten mir das Leben gerettet!«

»Nun, den Glauben will ich Ihnen nicht nehmen. Der Gedanke gefällt mir!«

Wieder lachten sie. Dann schritt er schweigend neben ihr her, lächelte vor sich hin und schien in Gedanken versunken. Erst jetzt fiel ihr auf, wie groß er war. Ein wenig grobknochig, aber unter seiner Kleidung verbargen sich ganz sicher ansehnliche Muskeln. Einer dieser Männer, die immer auf ihre Körperkraft vertrauten – rührte daher seine Selbstsicherheit? Gleich darauf fiel ihr ein, dass ein Familienstreit ihn hierher verschlagen hatte, offenbar verfügte er auch über eine große Portion Sturheit.

»Reiten Sie jedes Mal gleich nach Klein-Arusha hinunter, wenn Sie hören, dass Europäer mit einer Karawane reisen? Ich meine, Sie hätten doch nur warten müssen, bis die Karawane Moshi erreicht hätte, das wäre um einiges näher für Sie gewesen …«

Er ließ sich Zeit mit der Antwort, spähte nach vorn, wo sich jetzt endlich ein wenig Grün zeigte, das um einen kleinen, von einem schmalen Bachlauf gespeisten Tümpel wuchs. Der Berg wollte sich immer noch nicht zur Gänze zeigen; weißer Dunst schwebte über der Hochfläche, nur undeutlich konnte man ein paar Bäume erkennen. Die schlanken Stämme waren dunkel, ihre Kronen verschwammen im Nebel.

»Es ziehen nicht alle Karawanen hinauf nach Moshi«, erwiderte er nach einer Weile. »Aber das war nicht der Grund. Ich renne keinesfalls jedem Europäer nach, der sich hier in der Gegend sehen lässt. Doch ich hörte, diesmal sei eine weiße Frau dabei … Ich hatte die verrückte Hoffnung, es könne Johanna sein …«

»Johanna ist Ihre Frau?«

Für einen Moment kniff er die Augen zusammen, und ein Schatten zog über sein Gesicht. Er schüttelte den Kopf.

»Johanna von Klitzing – meine Verlobte. Ich hatte Nachricht von ihr und bin zur Küste geritten, um sie in Daressalam abzuholen. Aber sie war nicht auf dem Postdampfer, und ich habe bis jetzt nicht erfahren, was geschehen ist.«

»Das tut mir sehr leid für Sie.«

»Die Sache wird sich gewiss bald aufklären und muss Sie nicht bekümmern«, sagte er und lächelte zu ihr hinauf. »Ich freue mich jedenfalls sehr, Sie wiederzusehen. Sie und ihren Mann. Gerade jetzt bin ich sehr glücklich, Sie bei mir zu Gast zu haben.«

Ihr Gefühl hatte sie also doch nicht getrogen. Trotz seiner Versicherung, wie sehr er sich über das Wiedersehen freue, hatte sie ihm nicht recht glauben können. Im Grunde musste er zutiefst enttäuscht gewesen sein, dass er in Klein-Arusha sie, Charlotte, angetroffen hatte, hatte er doch auf eine ganz andere weiße Frau gehofft. Ein Wunder, dass er noch so heiter sein konnte. Charlotte ärgerte sich, nicht auf ihre innere Stimme gehört zu haben, die ihr geraten hatte, die Einladung abzulehnen, die doch nur aus Verlegenheit ausgesprochen worden war. Was für ein verrückter Kauz, dieser von Roden! Weshalb sollte seine Verlobte mit einer Karawane zu ihm reisen? Sie konnte sich doch von der deutschen Schutztruppe nach Moshi begleiten lassen. Es gab immer wieder Offiziere oder Ärzte, die durch andere abgelöst wurden, einer solchen Gruppe hätte sie sich anschließen können. Doch im Grunde ging sie das nichts an. Die Dame musste selbst wissen, was sie tat.

Max von Roden hatte Charlotte und ihr Maultier inzwischen ihrem Schicksal überlassen und sich wieder an die Spitze der Gruppe gesetzt. Das war schon ein anderes Vorankommen als das gemächliche Reisen mit der Karawane, die sich oft weit auseinanderzog und immer wieder stockte, weil Störungen oder Hindernisse sie aufhielten. Von Roden gönnte ihnen nur wenige Pausen, suchte dafür Wasserlöcher aus, wo die Maultiere saufen und ein wenig grasen konnten, und trieb die Reisegruppe schon bald zum Weiterreiten an.

»Wenn wir das Tempo halten, sind wir am Abend auf der Plantage.«

Gegen Nachmittag glaubte Charlotte, ihre Beine kaum noch zu spüren, und sie konnte Christian ansehen, dass es ihm ähnlich ging. Unangenehmer war noch, dass der Maler Dobner und sein Freund Dr. Meyerwald inzwischen in einen heftigen Streit geraten waren. Es waren harte Worte und scheußliche Beleidigungen ausgeteilt worden, Dobner hatte Meyerwald einen »Ignoranten und drittklassigen Wissenschaftler« genannt, während Dr. Meyerwald seinem Freund die Bezeichnungen »Dilettant und Farbkleckser« entgegenschleuderte. Als sie sich Moshi näherten und zwischen dem Buschwerk das ausgedehnte, festungsartige Gebäude der deutschen Schutztruppe sichtbar wurde, ritt Dr. Meyerwald schweigend und mit finsterer Miene vorneweg, während Dobner, in dumpfe Niedergeschlagenheit gehüllt, das Schlusslicht der Gruppe bildete.

Nahe der deutschen Station war eine bunte Siedlung entstanden: Neben den strohgedeckten Lehmhütten der Eingeborenen standen die typischen, rasch errichteten Flachbauten, in denen Griechen und Inder ihre Waren anboten. Von Roden suchte einen Lagerplatz unter einer weit ausladenden Schirmakazie und schickte seine beiden Angestellten hinüber zu den Läden, um Tee und Früchte einzukaufen. Auch ihm war die Auseinandersetzung der beiden Männer unangenehm, und er unternahm einen gut gemeinten Versuch, die Streithähne zu versöhnen, der jedoch nicht von Erfolg gekrönt war.

»Kümmern Sie sich nicht darum«, knurrte Meyerwald, der es sich unter der Akazie bequem gemacht hatte. »Er hat ab und zu seine Anwandlungen – spätestens morgen ist er wieder normal.«

Dobner hatte sich abseits der Gruppe bei den Maultieren niedergelassen, hockte dort wie ein Häufchen Unglück, die Arme um die Knie geschlungen, und kaute an einem dürren Halm. Er tat Charlotte leid; sie spürte, wie sehr Meyerwald den sensiblen Maler immer wieder verletzte. Dennoch schienen die beiden aneinander zu hängen, sonst hätten sie wohl kaum so viele Reisen gemeinsam unternommen.

Christian lehnte mit dem Rücken gegen den Akazienstamm und hatte die Augen geschlossen. Er sah erschöpft aus. Als sie jedoch seine Hände fasste, waren sie kühl, er schien kein Fieber zu haben.

»Wie geht es dir?«, fragte sie ihn leise. »Ich übe mich im Träumen«, antwortete er und blinzelte sie an. »Leider will sich der Kilimandscharo heute nicht zeigen, aber ich versuche es mit den Wolken.«

Sie musste lachen und rieb seine Hände zwischen den ihren, ohne sie wärmen zu können, doch sie spürte, dass die Berührung ihm guttat. Inzwischen hatte sich Dr. Meyerwald wieder gefasst und berichtete von den »afrikanischen Negern«, die man seinerzeit nach Europa brachte und dem deutschen Kaiser vorstellte. Es sei doch hochinteressant, wie wenig diese ungebildeten Wilden von der Größe und Macht des deutschen Reiches zu begreifen imstande gewesen waren, was ganz offensichtlich daran lag, dass sie das Gesehene weder deuten noch in Worte fassen konnten – die Sprache der Neger sei wohlgemerkt recht arm an Ausdrücken.

Von Roden hörte sich den Vortrag schweigend an, wobei sein Blick immer wieder zu Charlotte hinüberwanderte. Ein heiteres Funkeln lag in seinen Augen, das sie nach einiger Zeit mit einem kleinen, verständnisinnigen Lächeln beantwortete. Sie war froh, dass es ihm gelang, ihren Verdruss über diesen lästigen Schwätzer in Heiterkeit zu verwandeln. Der Aufbruch zur letzten Etappe fiel allen schwer. Sogar von Roden behauptete, müde Beine zu haben, doch jetzt sei es nur noch ein Katzensprung, und auf der Plantage erwarte sie ein köstliches Mahl und ein weiches Lager. Auch der Maler Dobner, der sich ernsthaft mit dem Gedanken trug, in Moshi zu bleiben, ließ sich schließlich überreden mitzukommen. Er stellte jedoch die Bedingung, auf keinen Fall mit Herrn Dr. Meyerwald im gleichen Raum nächtigen zu müssen.

Eine knappe Stunde vor Sonnenuntergang, nach einem anstrengenden Ritt, der über schmale Pfade bergauf führte, erreichten sie das hohe, weiß gestrichene Tor, das von Roden am Eingang seines Besitzes hatte errichten lassen. Darauf prangte das bunt gemalte Wappen der Familie von Roden: drei rote Eichenblätter auf grünweißem Grund.

Charlotte war so erschöpft, dass sie nur noch schlafen wollte, nicht einmal der Anblick der üppigen Vegetation, der sanft gewellten Felder und der parkartigen Grünanlage mit einem Teich in der Mitte konnte sie noch begeistern. Nur das Wohnhaus, zu dem ein breiter, von Akazien gesäumter Weg hinführte, zog sie wie magisch an – ein schmuckloses, kastenförmiges Gebäude, hinter dessen Mauern ein hoffentlich weiches Lager auf sie wartete.

Schwarze Angestellte liefen ihnen schon auf dem Weg entgegen, begrüßten ihren bwana Roden und seine Gäste mit ganz offensichtlicher Freude und begleiteten sie bis zum Wohnhaus. Charlotte musste die Zähne zusammenbeißen, als sie von ihrem Maultier stieg. Ihre Oberschenkel schmerzten höllisch, vermutlich würde sie morgen früh kaum einen Schritt tun können. Sie war froh, dass von Roden ihr seinen Arm bot, um sie über die Schwelle zu führen.

»Sie haben doch nichts dagegen, Ohlsen?«, fragte er Christian lächelnd. »Es ist das erste Mal, dass eine weiße Frau mein Haus betritt, und ich muss unbedingt wissen, ob diese Hütte Gnade vor ihren Augen findet.«

Christian war viel zu müde, um etwas einzuwenden. Langsam und steif schleppte er sich hinter Dr. Meyerwald her; Dobner trat als Letzter ins Haus, so geistesabwesend, dass er sich den Kopf an der Türeinfassung stieß.

»Nun – was sagen Sie?«, rief von Roden erwartungsvoll.

Das Erste, das Charlotte ins Auge fiel, war ein Klavier. Ein kleines Instrument aus poliertem, braunem Holz, die Tastatur von runden Säulchen gestützt, auf den ausgeklappten Metallhaltern steckten weiße Kerzen. Dann erblickte sie ein Löwenfell an der Wand, eine prächtige Trophäe mit Kopf und Krallen, auf die jeder Jäger stolz sein konnte.

»Das schaut ja recht gemütlich aus!«, ließ sich Dr. Meyerwald vernehmen. »Gratuliere, von Roden. Ganz wie daheim.«

Die sonstige Einrichtung erinnerte an die, die Charlotte bei den weißen Offiziersfrauen in Daressalam gesehen hatte und die diese offenbar so liebten: Es gab wallende, von der Zimmerdecke bis zum Boden reichende Vorhänge, gerahmte Fotografien aus der Heimat, einen gemauerten Ofen, Regale mit Büchern und allerlei afrikanischen Schnitzereien, dazu einen runden Esstisch mit sechs Stühlen, auf dem eine Vase mit einer großen, weiß leuchtenden Blüte stand. Charlotte hatte diese Blume schon auf dem Markt in Daressalam gesehen, es handelte sich um eine einheimische Amaryllis-Art.

Kaffee und süße Limonade wurden gereicht, dazu klares, kühles Wasser, das die durstigen Reisenden gierig hinunterstürzten.

»Sadalla zeigt Ihnen jetzt, wo Sie untergebracht sind – danach werden wir gemeinsam essen, der Koch ist schon an der Arbeit. Mich entschuldigen Sie jetzt bitte – wir sind dabei, Pflanzlöcher für die Sisalsetzlinge auszuheben. Ich muss nachschauen, ob meine Angestellten ihre Aufgaben anständig erledigt haben.«

Aha – sie waren beim Pflanzen, und er traute seinen Arbeitern nicht über den Weg. Das erklärte wohl, weshalb er es so eilig gehabt hatte, wieder zurück auf die Plantage zu kommen. Charlotte verspürte zwar keinen Appetit – viel lieber hätte sie gleich geschlafen –, aber man durfte die Einladung selbstverständlich nicht ausschlagen. Der schwarze Angestellte, den von Roden »Sadalla« genannt hatte, verbeugte sich tief vor ihr. Als er ihr die Tür zu einem schmalen Nebenzimmer öffnete, sah er sie mit großer Erwartung an.

»Schönes Zimmer. Bwana Roden hat alle Dinge selbst gemacht. Viel Mühe, damit die bibi zufrieden ist.«

Sie begriff den Irrtum und beschloss, die Sache aufzuklären, bevor es zu weiteren Missverständnissen kam.

»Ich bin nicht bibi von Klitzing, Sadalla. Ich bin bibi Ohlsen. Der bwana mit dem hellen Tropenhelm und dem kleinen Gewehr – das ist bwana Ohlsen. Mein Ehemann. Verstehst du?«

Unsägliche Enttäuschung malte sich auf seinem Gesicht – er hatte ganz offensichtlich angenommen, die neue Hausherrin sei endlich angekommen.

»Bibi Ohlsen«, murmelte er und verbeugte sich wieder, dieses Mal jedoch weniger tief. »Karibu. Willkommen.«

Er zog sich zurück, bemüht, die knarrende Tür möglichst leise zu schließen. Drüben im Wohnraum wurde geflüstert, und da sie recht gut Suaheli verstand, begriff sie, dass Sadalla die Neuigkeit sogleich an seine Kollegen weitergab. Seufzend blickte sie sich um, und das unangenehme Empfinden, nicht die so sehnlich Erwartete, sondern die falsche zu sein, verstärkte sich. Von Roden hatte diesen kleinen Raum für seine Zukünftige mit großer Sorgfalt eingerichtet, vermutlich hatte er Monate gebraucht, um die Spiegelkommode, den Schrank und die hübschen Sitzmöbel anzufertigen. Eine Couch stand im Zimmer, dick gepolstert, vermutlich mit Hühnerfedern, dachte Charlotte. Decken waren darauf ausgebreitet, und sie ließ sich ächzend wegen ihrer schmerzenden Beine darauf nieder. Eine Weile lag sie auf dem Rücken, genoss das angenehme Gefühl, sich auf diesem komfortablen Lager ausstrecken zu können, und schloss die Augen. Nur nicht einschlafen – gleich würde es Abendessen geben. Bevor sie sich an den Tisch setzte, musste sie zumindest Hände und Gesicht waschen und ihr Haar in Ordnung bringen. Zu diesem Zweck stand drüben auf der Kommode eine Blechschüssel mit Wasser, daneben lag ein Handtuch, und es gab sogar Kamm und Bürste aus braunem Schildpatt.

Ihre Gedanken schwebten von dannen, wurden zu farbigen Seidentüchern, die im Lufthauch flatterten. Bilder schoben sich darüber und verschwanden wieder: der zierliche Schattenriss einer Giraffe, die graue, hitzeflirrende Steppe, die dreieckigen Formen der Zelte, vom flackernden Schein des Feuers unruhig beleuchtet. Sie sah einen kiesbestreuten Weg, von rosig blühenden Akazien gesäumt, an dessen Ende ein helles Gebäude mit einem säulengestützten Vordach leuchtete. Eine Frau lief in verzweifelter Hast durch die Allee auf sie zu, barfuß, das Haar aufgelöst, das weite Gewand gebauscht, als sei es ein Schleier oder ein Nebel …

»Chakula! Essen ist fertig, bibi Ohlsen. Bitte schnell kommen, der Koch hat große Mühe gemacht …«

Sie fuhr aus dem Schlaf und brauchte einen Augenblick, um das Traumbild abzuschütteln. Mühsam erhob sie sich, das verdammte Maultier innerlich verfluchend, und setzte sich vor die Spiegelkommode, um sich ein wenig zurechtzumachen. Sie hatte Schatten unter den Augen, was ihr überhaupt nicht gefiel, außerdem fühlte sie sich ein wenig fiebrig, was ganz sicher von der Anstrengung des langen Weges herrührte.

Der Geruch nach gebackenem Hühnerfleisch und gerösteten Erdnüssen zog in ihr Zimmer, und sie hörte, wie von Roden und Dr. Meyerwald über die Usambara-Bahn sprachen, die von Tanga aus bis zum Viktoria-See führen sollte, einstweilen jedoch recht langsame Fortschritte machte.

»Die Gesellschaft scheint finanziell am Ende zu sein«, meinte von Roden. »Da muss das Reich eingreifen. Ich bin sicher, dass ich in einigen Jahren meine Ernte per Eisenbahn an die Küste schaffen werde.«

»Sie scheinen mir ein unverbesserlicher Optimist zu sein, mein lieber von Roden …«

Sie hörte sein unbekümmertes Lachen. Als sie ins Wohnzimmer trat, sprang er auf, um ihr den Stuhl zurechtzurücken, dann erhob er sein Glas und erklärte, wie außerordentlich stolz er sei, solch angenehme Gäste aus der Heimat bei sich begrüßen zu dürfen. Seine Worte klangen ehrlich und fanden höfliche Erwiderung, dennoch war die Stimmung bei Tisch eher zurückhaltend, und von Roden hatte Mühe, seine Gäste bei Laune zu halten. Dobner war gar nicht erschienen, er sei unpässlich und wolle den Herrschaften nicht zur Last fallen, Meyerwald schien darüber erbost, verbarg seinen Ärger jedoch hinter langen Traktaten, die niemanden interessierten. Christian hatte Charlotte mit einem schwachen Lächeln begrüßt und besorgt gefragt, ob sie den Ritt gut überstanden habe.

»Ich bin ein bisschen müde und habe ziemlichen Muskelkater …«

»Das vergeht wieder …«, tröstete er sie.

Er war zusammen mit Meyerwald in einem Nebengebäude aus Lehmziegeln mit Wellblechdach untergebracht, das von Roden noch Ende letzten Jahres hatte errichten lassen, Dobner übernachtete im Schlafzimmer des Hausherrn, vermutlich im Bett der zukünftigen Ehefrau. Zäh zog sich der Abend dahin. Obgleich das Essen hervorragend war und sogar frischer Salat, Möhren und Kohl aus dem Garten aufgetischt wurden, blieb es bei Dr. Meyerwalds Monologen, die von Roden nur hin und wieder unterbrach, um eigene Erlebnisse hinzuzufügen. Charlotte erfuhr, dass er passionierter Jäger war – ein Erbteil der Familie – und den Löwen selbstverständlich selbst erlegt hatte, außerdem eine Menge anderer Tiere, deren Trophäen man an den Wänden bewundern konnte. Seine Jagdleidenschaft weckte nicht gerade ihre Sympathie, zweifelnd blickte sie zu Christian hinüber und entdeckte in seinem Gesicht die gleiche Abneigung. Es war ärgerlich, dass sie nicht im gleichen Raum übernachteten, sie hätte ihm gern unter vier Augen mitgeteilt, dass sie lieber schon morgen zurück nach Moshi reiten wollte.

Christian erhob sich als Erster und bat darum, zur Ruhe gehen zu dürfen, auch Dr. Meyerwald erklärte, eine gute Portion Schlaf nötig zu haben, und Charlotte beeilte sich, den allgemeinen Aufbruch zu nutzen, um gleichfalls gute Nacht zu wünschen. Es kam fast einer Flucht gleich – fast tat ihr von Roden leid, der soeben eine Flasche Rotwein geöffnet hatte, um seinen Gästen einzuschenken.

»Nun, dann also bis morgen«, sagte er und verkorkte die Flasche wieder. »Bis dahin hält sich der Wein ganz sicher.«

Er schlug noch einmal mit der flachen Hand auf den Korken und reichte die Flasche seinem schwarzen boy.

»Ich hoffe, Sie sind zufrieden mit Ihrer Unterbringung, Frau Ohlsen.«

»Es ist ein sehr schönes Zimmer, Herr von Roden. Ihre Verlobte ist zu beneiden.«

Sie stand schon auf der Schwelle, um sich zu verabschieden, doch sein Lächeln hielt sie zurück. Ganz offensichtlich freute er sich sehr über dieses Lob.

»Ja, ich habe eine Menge angestellt, damit Johanna sich bei mir wohlfühlt. Schauen Sie sich das Klavier an – der Transport hat mich ein Vermögen gekostet. Es stammt aus meinem Elternhaus, meine Mutter hat darauf gespielt. Ich habe es per Postdampfer nach Tanga schaffen lassen, dort wurde es zerlegt und in mehreren Paketen von schwarzen Trägern hierhergeschleppt.«

»Und wer hat es wieder zusammengesetzt?«

»Ich«, erklärte er mit unverhohlenem Stolz. »Hat mich ein paar Wochen lang beschäftigt. Ich habe es gestimmt, damit man auch wirklich darauf spielen kann.«

O weh, dachte sie. Falls die Dame musikalisch ist, wird sie vermutlich Ohrenschmerzen bekommen.

Er musste ihr die Skepsis angesehen haben, denn er sprang auf und klappte den Deckel der Tastatur auf. Leise schlug er einige Akkorde an, und zu ihrer größten Überraschung klangen sie rein.

»Spielen Sie Klavier?«, wollte er wissen. »Ich habe es früher mit großer Leidenschaft betrieben, aber jetzt sind meine Finger steif. Kommt von der Arbeit, vielleicht auch vom Alter …«

Er lachte, und sie überlegte, wie alt er wohl sein mochte. Dreißig, vierzig? Um seine Augen zeigten sich etliche Fältchen, aber die konnten auch durch Wind, Wetter und Sonne entstanden sein. Er hatte etwas an sich, das sie anzog. Mehr als ihr lieb war.

»Mir geht es ähnlich«, gestand sie zögernd. »Ich spiele nur noch hin und wieder …«

Sie biss sich auf die Lippen. Hätte sie bloß geschwiegen, denn jetzt lief er zum Regal und zog ein gewaltiges Notenbuch heraus, goldene Lettern und eine aufgedruckte Harfe schmückten den schwarzen Leineneinband.

»Vierhändig?«, fragte er voll Begeisterung. »Wollen wir das wagen? Nur ein paar Minuten, solange die anderen noch nicht eingeschlafen sind. Kommen Sie, machen Sie mir die Freude! Ich spiele unten, da habe ich es mit meinen Pranken leichter …«

Er hatte schon zwei Stühle zurechtgestellt und beeilte sich jetzt, die Kerzenhalter auszuklappen und die Kerzen anzuzünden. Langsam trat sie näher, setzte sich auf den ihr zugewiesenen Platz und begann in den Noten zu blättern, während die beiden boys hinter ihnen den Tisch abräumten. Es war eine vollkommen verrückte Idee, zu dieser späten Stunde Klavier zu spielen, aber immerhin, ein paar Takte konnten ja nicht schaden.

Orchesterstücke verschiedener Komponisten, vierhändig gesetzt, Händels »Halleluja«, ein Satz aus der Pastorale von Beethoven, die Ouvertüre zu Mozarts Zauberflöte

»Das ist hübsch«, entschied er. »Mögen Sie es auch?«

Sie bejahte. Im Grund war es ihr gleich, was sie spielten, die Hauptsache war, dass er seinen Spaß hatte. Mit welchem Feuereifer er sich auf dem Stuhl zurechtrückte, die Noten noch ein wenig zu sich herüberzog und seine Partnerin dann erwartungsvoll von der Seite ansah! Sie nickte ihm den Einsatz zu. Beim ersten Akkord waren sie noch nicht ganz zusammen, und sie runzelte die Stirn, weil er zu laut war, dann passte er sich an, überließ sich ihrer Führung, und es klappte erstaunlich gut. Seltsam mahnend erklangen die drei einleitenden Akkorde der Ouvertüre, dann lösten sie sich in einer absteigenden Melodie auf, fanden zu einer anderen Tonart, ohne ihren düsteren Ernst einzubüßen … Es war nicht der heitere Mozart, das von den Göttern geliebte Wunderkind. Diese Musik war voller dunkler Spannung, und die schönen Melodien, die immer wieder aufleuchteten, konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in dieser Musik eine andere, viel tiefere Dimension gab.

»Es ist, als stünde man auf einer schwankenden Brücke«, sagte Max von Roden leise, als der letzte Ton verklungen war. »Rings umher sieht man unfassbare Schönheit, gezackte Felsen, Wasserfälle, blühendes Gezweig. Doch tief unter der Brücke tobt der Strom mit tödlicher Gewalt.«

Sie schwieg. Wie oberflächlich hatte sie ihn doch beurteilt. Der fröhliche, zupackende Bursche, dem alles zu gelingen schien, was er anfasste, er hatte eine zweite, sehr nachdenkliche Natur.

»Es ist spät geworden«, meinte sie verlegen.

»Schlafen Sie gut, Frau Ohlsen.«

Himmel über dem Kilimandscharo
titlepage.xhtml
cover.html
978-3-641-06904-9.html
978-3-641-06904-9-1.html
978-3-641-06904-9-2.html
978-3-641-06904-9-3.html
978-3-641-06904-9-4.html
978-3-641-06904-9-5.html
978-3-641-06904-9-6.html
978-3-641-06904-9-7.html
978-3-641-06904-9-8.html
978-3-641-06904-9-9.html
978-3-641-06904-9-10.html
978-3-641-06904-9-11.html
978-3-641-06904-9-12.html
978-3-641-06904-9-13.html
978-3-641-06904-9-14.html
978-3-641-06904-9-15.html
978-3-641-06904-9-16.html
978-3-641-06904-9-17.html
978-3-641-06904-9-18.html
978-3-641-06904-9-19.html
978-3-641-06904-9-20.html
978-3-641-06904-9-21.html
978-3-641-06904-9-22.html
978-3-641-06904-9-23.html
978-3-641-06904-9-24.html
978-3-641-06904-9-25.html
978-3-641-06904-9-26.html
978-3-641-06904-9-27.html
978-3-641-06904-9-28.html
978-3-641-06904-9-29.html
978-3-641-06904-9-30.html
978-3-641-06904-9-31.html
978-3-641-06904-9-32.html
978-3-641-06904-9-33.html
978-3-641-06904-9-34.html
978-3-641-06904-9-35.html
978-3-641-06904-9-36.html
978-3-641-06904-9-37.html
978-3-641-06904-9-38.html
978-3-641-06904-9-39.html
978-3-641-06904-9-40.html
978-3-641-06904-9-41.html
978-3-641-06904-9-42.html
978-3-641-06904-9-43.html
978-3-641-06904-9-44.html
978-3-641-06904-9-45.html
978-3-641-06904-9-46.html
978-3-641-06904-9-47.html
978-3-641-06904-9-48.html
978-3-641-06904-9-49.html
978-3-641-06904-9-50.html
978-3-641-06904-9-51.html
978-3-641-06904-9-52.html
978-3-641-06904-9-53.html
978-3-641-06904-9-54.html
978-3-641-06904-9-55.html
978-3-641-06904-9-56.html
978-3-641-06904-9-57.html
978-3-641-06904-9-58.html
978-3-641-06904-9-59.html
978-3-641-06904-9-60.html
978-3-641-06904-9-61.html
978-3-641-06904-9-62.html
978-3-641-06904-9-63.html
978-3-641-06904-9-64.html
978-3-641-06904-9-65.html
978-3-641-06904-9-66.html
978-3-641-06904-9-67.html
978-3-641-06904-9-68.html
978-3-641-06904-9-69.html
978-3-641-06904-9-70.html
978-3-641-06904-9-71.html