»Kann ich Ihnen weiterhelfen?«

Es klang nicht eben freundlich, der Ton war eher dienstlich und ein wenig ungehalten. Ein weiß gekleideter Mann war aus einem der Boote gestiegen und kam auf sie zu. Ein Offizier? Bunte Achselstücke mit dem Reichsadler schmückten seine Schultern, und er trug eine weiße Mütze mit schwarzem Schirm. Ein Beamter? Egal – es war ein weißer Einwohner dieser Stadt, und er sprach deutsch.

»Das wäre wirklich sehr freundlich von Ihnen«, gab Christian zurück. »Wir sind gerade angekommen und kennen uns nicht aus.«

Der andere maß sie mit abschätzendem Blick, der auf Charlotte ein wenig länger ruhte. Sein Gesicht war sonnengebräunt, die Wangen voll, der Mund unter dem dunkelblonden Schnurrbart schmal zusammengezogen.

»Sie sind Deutsche?«

»Allerdings. Aus Hamburg. Mein Name ist Ohlsen, das sind meine Frau und meine Schwägerin …«

»Willkommen. Ich bin Erwin Kunert, Bezirksamtmann der Kaiserlich Deutschen Post. Wenn Sie eine Bleibe suchen, kann ich Ihnen das Afrika-Hotel empfehlen. Ich besorge Ihnen eine Rikscha, das ist das einfachste Transportmittel hierzulande …«

»Das wäre ganz reizend …«, begann Christian mit großer Erleichterung, doch Charlotte unterbrach ihn.

»Verzeihung, aber wir suchen kein Hotel, sondern eine einfache Unterkunft. Unsere Mittel sind leider begrenzt.«

Der Postbeamte wandte sich rasch zur Seite, um einem schwarzen Träger ein paar Worte in einer unverständlichen Sprache zuzurufen, dann nahm er für einen Moment die Mütze ab. Darunter war er fast kahlköpfig, nur ein dünner, kurz geschnittener Haarkranz umgab seinen Schädel.

»Ich verstehe«, sagte er leise. »Das wird nicht einfach werden. Auch hierzulande kostet das Leben Geld, Frau Ohlsen. Geschenkt bekommt man nur selten etwas.«

»Wir werden schon zurechtkommen«, meinte Charlotte zuversichtlich. »Nur für den Anfang müssen wir nicht gleich in einem Hotel wohnen. Gibt es keine andere Möglichkeit?«

Erwin Kunert stieß heftig den Atem aus und verharrte einen Augenblick unschlüssig. Dann entschied der Himmel über ihr Schicksal, der ihnen zwischen Blitz und Donner einen gewaltigen Sturzregen sandte.

»Kommen Sie mit. Ich bringe Sie vorerst im Postgebäude unter. Das geht aber höchstens für ein, zwei Tage. Ich kann Sie ja schließlich nicht im Regen herumirren lassen …«

Nass waren sie sowieso, und als sie jetzt die Treppe zum Hafengebäude hinaufstiegen, um Schutz vor den Wassermassen zu suchen, wurden sie zum zweiten Mal durchweicht. Beklommen standen sie im Flur herum, drückten sich gegen die Wände, um schwarzen Angestellten auszuweichen, die zwischen den Büros und der großen Lagerhalle hin- und herliefen. Der Dampfer hatte Waren aus Deutschland an Bord gehabt, deren Vollständigkeit und Unversehrtheit anscheinend genau überprüft werden musste. Durch das Rauschen und Trommeln des Regens hindurch vernahmen sie die knappen Befehlsrufe der weißen Beamten, Türen klappten auf und zu, und für einen kleinen Moment sahen sie einen der Schiffsoffiziere, der in einem Büroraum saß und seelenruhig die Beine ausstreckte.

Charlotte wandte den Blick wieder der offen stehenden Eingangspforte zu. Der Regen fiel so dicht, dass Himmel, Wasser und Küstenlinie in einem feinen Dunst lagen und kaum voneinander zu unterscheiden waren. Charlotte atmete tief ein und spürte, wie diese feuchte Wärme sie belebte, als sei sie etwas lang Vertrautes, das sie nun wiedergefunden hatte. Der Duft der Erde lag darin, fahl, süß und voll fremder Würze, ein erregender Geruch nach sprießenden Pflanzen und sich entfaltenden Blüten.

»Was für ein Wetter!«, stöhnte Christian und schüttelte seinen Hut aus.

»Sie sollten sich rasch daran gewöhnen, sonst ist dies kein Ort für Sie«, bemerkte Kunert. »Meine Frau und ich werden Daressalam in wenigen Tagen verlassen und mit der Bundesrath nach Deutschland zurückfahren.«

»Ach ja?«, fragte Christian betreten.

Sie schwiegen eine kleine Weile. In einem der Büros erhob sich ein Wortgefecht, und sie konnten den rauen Ton eines deutschen Beamten und die sanfte, beredte Sprechweise eines Orientalen unterscheiden, der ganz offensichtlich als Bittsteller auftrat. Verstehen konnten sie kein einziges Wort.

»Wir haben unser erstes Kind hier begraben müssen«, sagte Kunert unvermittelt, als müsse er ihnen seine Abreise erklären. »Ein Fieber. Viele Säuglinge sterben hier am Fieber.«

Betroffen sah Charlotte die Trauer in seinen Augen, und zugleich stieg die Erinnerung an jene schreckliche Sturmnacht in Leer wieder in ihr auf, als das kleine Wesen, das in ihr gelebt hatte, sie so plötzlich verließ. Großes Mitgefühl erfasste sie.

»Das tut mir unendlich leid«, sagte sie leise.

Seine Züge wurden verkniffen, ganz offensichtlich wollte er nicht bemitleidet werden, vermutlich bereute er seine Eröffnung schon.

»Ich sagte das nicht, um Sie zu erschrecken. Es ist nur einfach eine Tatsache, über die man nicht hinwegsehen sollte.«

»Natürlich. Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit, Herr Kunert.«

Der Regen hatte nachgelassen. Die vier verließen das schützende Hafengebäude und gingen stadteinwärts. Die Straßen waren breit, rechts und links floss das Regenwasser in gelblichen, brodelnden Rinnsalen zum Hafen hinunter, der Boden war aufgeweicht, und Klara musste sich vorsehen, nicht auszugleiten. Hier und da sah man fertige, neue Gebäude, klobig, mit säulengestützten Vordächern und überdachten Balkonen, die mit orientalisch anmutendem Schnitzwerk verziert waren. An anderen Stellen lagen Steine und Baumaterialien herum, schwarze Arbeiter, nur mit kurzen Hosen bekleidet, krochen unter aufgespannten Planen hervor, unter denen sie den Regenguss abgewartet hatten.

Das Postamt von Daressalam erschien ihnen einschüchternd groß. Klappläden mit Lamellen verschlossen die Fenster im Erdgeschoss, rings um den ersten Stock zog sich ein hölzerner Balkon, das flache Dach wurde von einer weißen, sonderbar gezackten Holzschnitzerei getragen, die das Gebäude aus der Entfernung wie eine viereckige Sahnetorte wirken ließ. Über der Eingangstür prangte das Emblem der Kaiserlich Deutschen Post.

Kühle empfing sie, als sie eintraten, ein schwarzer Angestellter in einer hellen, halblangen Hose und weißem Hemd wischte den Flur, es roch nach Holz, Stein und deutscher Sauberkeit. Kunert führte sie in einen hohen, nicht allzu großen Raum, den er als sein Büro bezeichnete, das er jedoch nur tagsüber nutzte, denn die Post stellte ihren Beamten eigene Wohnungen zur Verfügung.

»Das wäre für die Damen. Für Sie, Herr Ohlsen, werde ich ein Feldbett in einem Nebenraum aufschlagen lassen. Nur provisorisch, versteht sich. Gewiss werden Sie bald eine andere Unterkunft finden …«

»Wir sind Ihnen wirklich sehr dankbar …«

Das Erste, worauf Charlottes Blick fiel, war eine Wanduhr aus braunem Holz, ein vertrauter Anblick – im Arbeitszimmer des Großvaters hatte genau die gleiche gehangen. Ein länglicher Kasten, mit geschnitztem Eichenlaub und kleinen Giebelchen verziert, durch den Glaseinsatz sah man das helle, runde Zifferblatt und das goldene Uhrpendel, das gemächlich hin- und herschwang. Über dem braunen Holzregal, das viele kleine Fächer zur Ablage von Dokumenten aufwies, hing ein gerahmtes Bild von Kaiser Wilhelm II. Herr Kunerts Schreibtisch war mit Papieren, Federhalter, Tintenfass, Löschroller und allerlei anderem Bürokram bedeckt, davor stand ein kleines Schreibpult, das völlig leer war, dazu mehrere Stühle. Hinter einem Wandschirm war das Bett verborgen, darüber befand sich eine Konstruktion aus Metallstangen, die ein feines Netz trugen.

»Gegen die verdammten Mücken«, erklärte Kunert. »Sorgen Sie am Abend dafür, dass keines dieser Biester darunter ist, und heben Sie das Netz in der Nacht auf keinen Fall an.«

»Gibt es viele Mücken hier in der Gegend?«, erkundigte sich Christian beklommen und ließ suchend den Blick über die hell getünchten Wände des Raumes gleiten.

»Nördlich und westlich der Stadt befinden sich Sumpfgebiete, eine großartige Brutstätte für diese Blutsauger. Haben Sie sich Chinin besorgt? Es ist das einzige Mittel gegen das Fieber, aber man wird davon schwindelig und fühlt sich wie zerschlagen.«

Charlotte hatte langsam genug. Sosehr sie seinen Schmerz um das gestorbene Kind nachempfinden konnte – es war deprimierend, diese beständigen Warnungen anzuhören. Es musste doch auch Europäer geben, die sich in diesem Land eingelebt hatten und die sich hier wohlfühlten!

»Sie sollten außerdem so schnell wie möglich bei der Gouvernementsverwaltung vorstellig werden«, fuhr Kunert fort, während er einige Papiere auf seinem Schreibtisch zusammenschob und in einer Schublade unterbrachte. »Gehen Sie zum Stadthaus, dort wird man Ihnen weiterhelfen. Und falls Sie tatsächlich beabsichtigen, eine Plantage anzulegen, dann empfehle ich Ihnen die Ostafrikanische Gesellschaft. Sie hat hier eine Niederlassung und unterstützt Pflanzer, die sich ansiedeln wollen.«

»Und was muss man tun, wenn man einen Laden eröffnen will?«, erkundigte sich Charlotte.

Der Postbeamte schüttelte den Kopf und seufzte über so viel Ahnungslosigkeit.

»Dieses Vorhaben sollten Sie so schnell wie möglich vergessen, Frau Ohlsen. Der Handel in Daressalam ist fest in den Händen der Inder und Araber. Sie bekommen ihre Waren über verschlungene Wege aus Sansibar und Indien oder schleppen das Zeug über Karawanenwege aus dem Landesinneren an die Küste – kein Deutscher hat es bisher geschafft, auf diesem Gebiet Fuß zu fassen.«

Damit verabschiedete er sich, erklärte, drüben in der telegraphischen Betriebsstelle zu tun zu haben, und ging hinaus auf den Flur, wo sie ihn Anweisungen erteilen hörten. Dabei benutzte er deutsche Worte, aber auch andere, die fremd klangen und die Charlotte schon auf dem Schiff gehört hatte.

»Suaheli«, sagte sie. »Wir müssen es lernen, damit wir uns verständigen können.«

»Ach was«, knurrte Christian missgelaunt. »Wir befinden uns in einer deutschen Kolonie, die Neger auf unser Plantage werden Deutsch reden, dafür sorge ich schon.«

»Du glaubst tatsächlich, man wird uns das Geld leihen, um eine Plantage anzulegen?«

»Natürlich. Mit dem Handel wird es sowieso nichts, Charlotte. Das hast du ja eben gehört.«

»Ich mag nicht alles glauben, was dieser Mann uns weismachen will!«

Christian stieß einen tiefen, ärgerlichen Seufzer aus und wollte etwas entgegnen, doch Klara verhinderte den aufkommenden Streit, indem sie ihn sanft am Arm fasste.

»Schauen wir erst einmal, dass wir in trockene Kleider kommen«, meinte sie. »Es ist sehr unangenehm in den feuchten Sachen.«

Sie waren froh über den Wandschirm, denn so konnten sie Anstand wahren, und Klara musste sich nicht vor Christian umkleiden. Die Sachen aus dem Koffer waren jedoch ebenfalls klamm, vermutlich würden sie sich während der Regenzeit an diesen Zustand gewöhnen müssen. Sie besaßen nur wenige Kleidungsstücke, die auf der Reise ohnehin schon gelitten hatten; auf dem Schiff hatten sie nur die Leibwäsche waschen können, an Plätten oder gar Stärken war nicht zu denken gewesen. Christian störte sich sehr an diesem Zustand, vor allem hätte er gern einen hellen Tropenanzug besessen, dazu einen Strohhut, weiße Lederschuhe und einen hübschen Binder.

»Wenn wir erst unsere Plantage haben, werden wir uns auch passende Kleidung anfertigen lassen, Charlotte. Es ist schon wegen des Klimas unabdingbar. Außerdem sollten wir Deutschen den Negern ein Vorbild sein.«

Es klopfte an der Tür, und ein schwarzhäutiger, junger Mann trat ein. Er trug eine weiße Kappe auf dem krausen, kurz geschnittenen Haar, und sein helles, bodenlanges Gewand war so sauber, als käme es eben gerade aus der Wäsche. Mit ernster Miene stellte er ein Tablett auf dem Schreibtisch ab, dann verzog er das Gesicht zu einem Lächeln, das seine prachtvollen, schneeweißen Zähne enthüllte, und verbeugte sich.

»Jambo, bwana, jambo bibi …«, sagte er. »Willkommen.«

Obgleich er sich heftig bemühte, die steife Haltung eines Dieners beizubehalten, lag doch eine kindliche Unbefangenheit in seinem Wesen. Eine Wärme, die Charlotte unglaublich wohltat und die sie bei dem deutschen Beamten trotz all seiner Bemühungen so vermisst hatte.

»Danke«, sagte sie lächelnd. »Was bringst du uns da? Wie heißt das?«

Er verstand sie nicht und fürchtete offensichtlich, einen Fehler gemacht zu haben, doch als sie mit dem Finger auf eine der Schüsseln deutete, begriff er.

»Kuku«, erklärte er grinsend und bewegte die angewinkelten Ellenbogen wie flatternde Vogelschwingen. Dann zeigte er auf den Krug, sein Gesicht nahm einen verzückten Ausdruck an, und er rieb sich den Bauch.

»Scherbet.«

Kuku war ganz offensichtlich gekochtes Huhn. Scherbet erwies sich als eine aromatische Fruchtlimonade. Als er begriff, dass sie mit dem, was er gebracht hatte, zufrieden waren, verneigte er sich wieder und ging hinaus.

»Sehr anstellig«, meinte Christian kauend. »Nicht ganz so wie die Lehrjungen, die ich früher hatte, aber er scheint nicht dumm zu sein.«

»Er arbeitet wohl nur im Haus«, überlegte Klara. »Er benimmt sich fast wie ein Diener, der bei einer vornehmen Familie angestellt ist. So würdevoll. Ich glaube, er ist stolz auf sein schönes Gewand und die weiße Kappe.«

Es war ihre erste Mahlzeit auf afrikanischem Boden, und sie schmeckte ein wenig ungewohnt nach einem süßlich aromatischen Gewürz, das an Muskat erinnerte, aber nicht scharf war. Zu dem Huhn gab es Reis und gekochte, rote Bohnen.

»Köstlich!«

Christian betupfte sich die Lippen mit dem Taschentuch, und sein zufriedenes Lächeln sagte Charlotte, dass er nun wieder zuversichtlicher Stimmung war. Tatsächlich strotzte er vor Unternehmungslust, überzeugte Charlotte und Klara nach einer kurzen Ruhepause, sofort im Stadthaus vorzusprechen und danach gleich noch die Niederlassung der Ostafrikanischen Gesellschaft aufzusuchen. Klara hatte sich kaum fünf Minuten auf dem Bett ausgestreckt, da drängte er schon zum Aufbruch: Man müsse solche Formalitäten am besten gleich erledigen, die deutschen Behörden seien gewiss auch in den Kolonien korrekt, und sie wollten schließlich nicht, dass man sie für illegale Einwanderer hielt. Nach dem Weg zu diesen Stellen hatte er sich bereits auf dem Schiff erkundigt.

Noch unterwegs hatte er gefürchtet, gleich nach seiner Ankunft in Daressalam eingesperrt und nach Deutschland zurückgeschickt zu werden – nun sah er sich schon als stolzer Besitzer einer Plantage in den afrikanischen Bergen!

Draußen schien die Sonne. Das Regenwasser war erstaunlich schnell abgelaufen, der Schlamm hatte eine feine Kruste bekommen, nur hie und da glänzte noch eine Pfütze, über der die Mücken schwirrten. Nun waren Menschen auf den Straßen, zwar nur wenige Weiße, dafür aber umso mehr Farbige, vor allem junge Burschen, die ähnlich wie der Diener im Postgebäude gekleidet waren und offensichtlich irgendwelche Aufträge zu erfüllen hatten. Auf den Baustellen wurden Steine behauen und aufeinandergesetzt, eine Tätigkeit, die von lebhaftem Schwatzen begleitet wurde – eilig schienen es die schwarzen Arbeiter nicht zu haben, die klobigen, weißen Bauten ihrer deutschen Kolonialherren zu errichten.

Auch das Stadthaus war noch nicht vollendet, doch es war einer der wenigen Bauten, die Charlotte gefielen. Vieleicht lag es an den vielen weißen Arkadenbögen, die das Erdgeschoss umgaben und die in ihrer geschwungenen Form an einen Sultanspalast erinnerten. Im oberen Geschoss wurde noch gewerkelt, Balkongitter wurden eingesetzt, Wände gestrichen, ein Weißer in Jacke und Kniebundhose stand auf dem unfertigen Balkon und rauchte eine Zigarette. Vor dem Gebäude waren zwei gesattelte Pferde angebunden, unweit davon hockte ein schwarzer Diener auf einer Treppenstufe und malte mit dem großen Zeh Figuren in den feuchten Boden.

Plötzlich jedoch sprang er auf und nahm eine Art Habachtstellung ein, und während sie noch nach dem Grund für diese plötzliche Bewegung rätselten, vernahmen sie stampfende Schritte. Eine Gruppe farbiger Uniformierter war um eine Häuserecke gebogen und marschierte unter Führung eines schwarzen Offiziers zum Stadthaus hinüber. Es waren nur zehn oder zwölf Mann, doch sie schienen großen Spaß daran zu haben, Lärm für ein ganzes Regiment zu veranstalten. Je näher sie dem Stadthaus kamen, desto fester traten sie auf, dann, als sie sich schon dicht vor den Arkaden befanden, vernahm man aus dem Mund des schwarzen Offiziers das laut gebrüllte, deutsche Kommando: »Abteilung stillgestanden!«

Die Männer folgten seinem Befehl. Fasziniert starrte Charlotte auf diese seltsame Truppe aus sehnigen jungen Afrikanern, die man in Uniformjacken aus Khakistoff mit roten Aufschlägen und Achselstücken gesteckt hatte, dazu trugen sie kurze Hosen. Einige waren mit Mützen ausgestattet, andere hatten sich rote Tücher auf malerische Weise um die Köpfe gebunden, alle waren jedoch mit Dolchen und Schusswaffen ausgerüstet.

»Askari«, erklärte Christian. »Die Soldaten in der Kolonie sind alles Neger. Habt ihr gehört, wie gut sie deutsch reden?«

Gleich darauf traten zwei deutsche Offiziere in Reiterkleidung aus dem Stadthaus, ließen sich von dem schwarzen Diener die Pferde herbeiführen und saßen auf. In raschem Trab ritten sie davon, gefolgt von den Askari, die nun ebenfalls traben mussten, um mit den Reitern Schritt zu halten.

»Das waren bestimmt sehr hohe Offiziere«, vermutete Christian. »Vielleicht sogar der Gouverneur selbst. Wie schade, dass er fortgeritten ist, wir hätten uns gleich mit ihm bekannt machen können.«

Hinter der malerischen Arkadenreihe befanden sich die üblichen rechteckigen, hohen Fenster, über der zweiflügeligen Eingangspforte hatte man ein Relief des Deutschen Reichsadlers angebracht, der sich hier ein wenig fremd, aber dennoch sehr eindrucksvoll ausnahm. Im Flur standen mehrere Stühle und ein kleiner Tisch, auf dem eine große Muschel lag, die offensichtlich als Aschenbecher benutzt wurde. Zwei Afrikaner – ein weißhaariger, magerer Alter im zerschlissenen Kittel und ein junger Bursche mit tätowierten Wangen – hockten gleichmütig auf dem gefliesten Boden und schienen auf irgendetwas zu warten. Auf einem der Stühle saß ein graubärtiger Mann, der einen umständlich gewickelten Turban trug, dazu eine gelbe, geknöpfte Jacke und eine halblange, bauschige Hose. Er lächelte sie an, als sie an ihm vorübergingen. Als Charlotte seinem Blick begegnete, erschrak sie: In den mandelförmigen, braunen Augen des Fremden funkelte es für einen kleinen Moment golden.

Christian hatte inzwischen an eine Tür geklopft und die Aufforderung erhalten, einzutreten. Wie seltsam – deutsche Amtsstuben ähnelten einander wie ein Ei dem anderen, ganz gleich, ob sie sich in Ostfriesland oder in einer Kolonie in Afrika befanden. Überall gab es düstere Aktenschränke, Schreibtische mit gedrechselten Beinen, Stapel von Akten und Papieren und das gerahmte Bild des Kaisers an der Wand. Einige faustgroße, braun-weiß gesprenkelte Muscheln auf dem Fensterbrett und eine rosige Koralle auf dem Schreibtisch wirkten in dieser Umgebung wie Souvenirs, die sich der Beamte von einer Reise mitgebracht hatte.

»Ich habe Sie schon erwartet – Herr Ohlsen, nicht wahr? Seien Sie herzlich willkommen. Meine Damen, ich freue mich ganz besonders. Gottfried Ebert, zu Ihren Diensten. Die holde Weiblichkeit ist ja hierzulande noch ein wenig schwach vertreten. Vorläufig. Das wird sich natürlich bald ändern …«

Der deutsche Beamte war breit gebaut und hatte einen Stiernacken, doch er schien ein Gemütsmensch zu sein – seine Freude, drei Landsleute in der Fremde zu begrüßen, wirkte herzlich und echt.

»Sie … Sie haben uns erwartet?«

»Freilich«, schmunzelte er. »Ein guter Bekannter, der Herr von Roden, war vorhin bei mir, um einige Formalitäten zu regeln, und er hat die Gelegenheit genutzt, Sie mir wärmstens ans Herz zu legen.«

»Ach ja?«, stammelte Christian verblüfft. »Nun, das war … sehr freundlich von ihm.«

»Aber nehmen Sie doch Platz, meine Herrschaften. Mtumi! Mtumi! Wo steckt der Faulpelz? Mtumi!«

Er klatschte in die Hände. Gleich darauf erschien ein schwarzer Diener mit einem Tablett, auf dem vier Gläser und zwei Flaschen standen, die eine aus braunem Glas, die andere weiß.

»Für mich bitte nicht«, ließ sich Klara erschrocken vernehmen, auch Charlotte wehrte ab.

»Nun, Sie werden sich ohne Zweifel bald daran gewöhnen, meine Damen. Whisky oder ein guter Weinbrand sind kein Alkohol, sondern Medizin. Wir nehmen dieses Medikament täglich ein, um dem Klima und der afrikanischen Mentalität zu trotzen. Einen winzigen Begrüßungsschluck dürfen Sie mir nicht verweigern.«

Charlotte gab nach und nippte an dem scharfen Getränk, das weitaus besser roch, als es schmeckte. Klara benetzte nur die Lippen, Christian hingegen ließ sich nicht lange bitten, trank in genüsslichen Schlucken und lobte die Marke überschwänglich.

»Ja, der Baron Max von Roden«, schwatzte Ebert, der sein Glas in langen Zügen leerte und sich ein zweites Mal einschenken ließ. »Sein Urahn soll unter dem alten Fritz zu Ruhm und Ehren gekommen sein. Großer Landbesitz in Brandenburg, ein Schloss, ein richtiges Juwel. Hat sich irgendwie mit seiner Verwandtschaft zerstritten, der dumme Bursche. Weiß der Teufel, weshalb, ist aber auch ein eigenwilliger Kerl. Jetzt hat er drüben am Kilimandscharo einem Araber die Pflanzung abgekauft und will Sisal anbauen …«

»Da schau an«, bemerkte Christian. »Am Kilimandscharo!«

»In der Nähe von Moshi. Guter Boden und schon seit vielen Jahren unter dem Pflug. Er muss sich ins Zeug legen – im nächsten Jahr will er seine Verlobte ins Land holen, damit sie heiraten können.«

Schweigend hörte Charlotte zu, wie Ebert sich nun über das Gedeihen der Kolonie verbreitete, den fruchtbaren Boden lobte, auf dem man neben den einheimischen Pflanzen auch hervorragend Kartoffeln, Kohl, Radieschen oder Salat anbauen könne. Die Anlage von Pflanzungen sei im Aufschwung, vor allem am Kilimandscharo, mittlerweile aber auch im Usambara-Gebirge, wo man gerade die ersten Versuchspflanzungen anlege.

»In einigen Jahren werden die ewigen Nörgler und Kleingeister im Reich endgültig schweigen. Dann wird Deutsch-Ostafrika zum Wohlstand des Reiches beitragen mit Elfenbein, Kaffee, Tabak, Kopal und Tropenhölzern. Und wenn wir erst Baumwolle ausführen, müssen die Engländer sich warm anziehen …«

Momentan sei die Handelsbilanz allerdings noch negativ, man müsse mehr Waren einführen als ausführen, vor allem Eisenwaren für den Bau und vernünftige Lebensmittel, denn Rindfleisch, Butter und Käse seien in Afrika nahezu unbekannt. Auch Spirituosen, Wein und Bier lasse man kommen, das Zeug, das die Schwarzen brauten, könne kein Europäer trinken, ohne davon krank zu werden.

Christian, vom Whisky beflügelt, begann nun voller Enthusiasmus über seine eigenen Pläne zu sprechen. Eine Plantage in Usambara, so groß wie möglich, Arbeitskräfte seien ja offenbar vorhanden. Er wolle Kaffee anbauen oder auch Baumwolle, das sei ganz gleich, er kenne sich mit solchen Waren aus, immerhin habe er jahrelang damit gehandelt. Ebert nahm noch ein drittes Glas, doch anders als bei Christian schien der Alkohol bei ihm keine Wirkung zu zeigen. Charlotte hatte eher das Gefühl, dass der Whisky ihn ruhiger machte und sein Hirn anregte. Der Beamte beobachtete Christian mit hochgezogenen Augenbrauen, warf nur hier und da eine gezielte Frage ein und ließ den Blick immer wieder aufmerksam über Charlotte und Klara schweifen.

Er prüft uns, dachte Charlotte beklommen. Mein Gott – weshalb muss Christian so ein Zeug schwatzen?

»Nun – wir freuen uns natürlich über jeden Deutschen, der sich hier in der Kolonie ansiedeln will«, sagte er schließlich gedehnt, als Christians Redeschwall erlahmte. »Sie haben also ein Geschäft geführt. Ein Handwerk haben Sie nicht zufällig erlernt? Ich frage nur deshalb, weil wir einen ziemlichen Mangel an deutschen Handwerkern haben.«

»Ein Handwerk? Nein. Ich bin Geschäftsmann, mein Kolonialwarenladen war der größte in der ganzen Region, ich konnte Waren anbieten, die sonst nirgendwo zu kaufen waren …«

Ebert stellte das leere Glas auf den Schreibtisch und hielt den Diener mit einer Handbewegung davon ab, es wieder aufzufüllen. Als er jetzt von seinem Stuhl aufstand, schwankte er trotz der drei Gläser Whisky um keinen Zentimeter. Er ging zu seinem Schreibtisch hinüber, nahm Platz und wischte sich das verschwitzte Gesicht mit dem Taschentuch.

»Erledigen wir noch rasch das Offizielle, Herr Ohlsen. Wenn Sie sich bitte alle in dieses Formular eintragen wollen … Und dann benötige ich noch die Dokumente …«

»Dokumente? Welcher Art?«

»Nun, Ihre Pässe natürlich. Und die amtliche Abmeldung in Ihrer Heimatstadt.«

Charlotte verfluchte innerlich den deutschen Amtsschimmel, der sogar bis in die Kolonien hineintrabte. Die Pässe konnten sie vorweisen, dann würde man allerdings feststellen, dass sie nicht aus Hamburg, sondern aus Leer in Ostfriesland kamen, aber da hatte Christian sich sowieso schon verplappert. Eine amtliche Abmeldung hatten sie natürlich nicht. Wie weit reichte die deutsche Bürokratie? Würde man etwa nach Leer schreiben und Erkundigungen über sie einziehen?

»Wir haben die Dokumente bei unserem Gepäck«, schwatzte Christian bereits. »Morgen bringen wir sie vorbei.«

»Das hat keine Eile. In den nächsten Tagen. Nur damit alles seine Ordnung hat.«

Er war nicht dumm, dieser Ebert, ganz und gar nicht. Seine Augenbrauen zogen sich immer häufiger nach oben, und die wohlwollende Heiterkeit in seinem rot verschwitzten Gesicht hatte etwas Spöttisches bekommen. Er hatte Christian Ohlsen als das eingeschätzt, was er war: ein Phantast. Konnte sie deshalb zornig auf Ebert sein? Im Grunde nicht, denn wie alle Beamten tat er nur seine Pflicht. Dennoch spürte sie deutlich, dass sie diesen Menschen nicht mochte.

»Verfügen Sie über Mittel?«, fragte er Christian beiläufig.

»Eine gewisse Summe können wir anlegen …«

»Das ist gut. Wer völlig mittellos hierherkommt, hat es am Anfang recht schwer. Nun – ich schlage vor, Sie leben sich erst einmal ein wenig bei uns ein.«

Ebert verabschiedete sich von den »Damen« mit besonderer Herzlichkeit, empfahl ihnen, das Konzert der Militärkapelle am Sonntag anzuhören, und erwähnte die verschiedenen Aktivitäten, die die Ehefrauen der Offiziere und Verwaltungsbeamten entfalteten.

»Um Ihre Sicherheit brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, meine Damen«, sagte er und ließ den Blick von Klara zu Charlotte wandern. »Die Zehnte Kompanie ist in Daressalam stationiert, außerdem haben wir seit einigen Jahren eine Polizeitruppe, die überall im Land für Ordnung sorgt. Fühlen Sie sich also bei jedem Ihrer Schritte von uns behütet …«

Vor dem Stadthaus atmete Charlotte tief die feuchte, warme Küstenluft ein. Ein Schwarm weißer Vögel strich rauschend über sie hinweg, berührte im tiefen Flug fast die grünen Palmwedel und verschwand landeinwärts. Von irgendwoher wehten fremdartige Klänge herüber, eintönig und voller Melancholie, in einem gleichförmigen Rhythmus, der dem langsamen Puls der gelbbraunen, afrikanischen Erde zu entspringen schien. Sie spürte, wie die Spannung und der Widerwille in ihrem Inneren sich lösten und eine frohe, scheinbar grundlose Zuversicht aufkam. Das Herz dieses Landes schlug nicht in der Amtsstube des deutschen Beamten, es schlug hier draußen, man spürte sein Pochen in jedem Atemzug, in jedem Laut und in allen Poren des Körpers als den uralten, unvergänglichen Rhythmus des Lebens.

»Was für ein netter Mensch«, sagte Christian angeheitert. »Ich denke, wir werden die kleinen Schwierigkeiten bald elegant umschifft haben.«

Ein donnernder Kanonenschuss durchschnitt die Mittagsstille, und alle drei fuhren erschrocken zusammen.

»Das war unten am Strand«, stammelte Klara.

»Soweit bekannt, gibt es hier zur Zeit keine Kämpfe«, murmelte Christian. »Vielleicht sind die verdammten Engländer …«

Er hielt abrupt inne, als hinter ihnen lautes, schadenfrohes Gelächter ertönte. Zwei farbige Frauen in bunten, langen Röcken standen dort, klatschten in die Hände und bogen sich vor Vergnügen über die schreckhaften Weißen.

»Bum Bum!«, rief eine von ihnen. »Pumsika, bwana. Arbeit aus. Kanone sagt: Es ist Mittag …«

»Großer Gott!«, murmelte Christian und wischte sich den Schweiß ab. »Was für ein Land! Haben die keine Kirchturmuhren?«

Himmel über dem Kilimandscharo
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