Klara schrie nicht. Sie wollte auf keinen Fall, dass sich jemand ihretwegen beunruhigte. Also stöhnte sie nur verhalten, und wenn es gar zu schlimm wurde, biss sie in einen Zipfel der Bettdecke.

»Ich schaffe es schon. Mach dir nur keine Sorgen, Peter. Der Doktor wird gewiss bald hier sein …«

Die Wehen waren zu Anfang nur schwach gewesen und gleich wieder vergangen. Zwei Tage lang hatte sich Klara recht wohl gefühlt, doch so sehr Charlotte sie drängte, mit Peter und ihr gemeinsam nach Kilwa zu reisen – Klara weigerte sich. Sie musste eine Ahnung gehabt haben, denn am dritten Tag setzten die Wehen mit großer Heftigkeit ein, und alle waren froh, dass sie nicht im Busch unterwegs waren.

Das Kind ließ auf sich warten. Klara humpelte im Haus umher, saß leise keuchend auf dem Hocker am Tisch, und wenn die Wehe vorüber war, scherzte sie darüber, dass sie nun alle im Haus in Atem hielt. Am Abend war sie erschöpft und meinte, das Kind wolle eine rechte Nachteule werden. Sie quälte sich durch die Nacht, doch als der Feigenbaum den ersten Schatten in der aufgehenden Sonne warf, lag Klara immer noch in den Wehen, auch gegen Mittag war das Kind noch nicht auf der Welt. Charlotte wurde langsam klar, dass es schon zu lange dauerte. Klara hatte nicht mehr viel Kraft, aber aus irgendeinem Grund wollte es mit der Geburt nicht vorangehen.

Wäre doch nur die alte Hamuna bei ihr gewesen! Matumbe hatte nur wenig Ahnung davon, wie man ein Kind auf die Welt beförderte, aber wenigstens war sie treu und half, wo immer sie konnte. Charlotte massierte Klara Bauch und Rücken, sie wusch sie mit warmem Wasser, führte sie im Raum umher und erzählte ihr dabei allerlei heitere Begebenheiten, um ihr die Angst zu nehmen. Dabei war sie selbst viel besorgter als Klara, die zwischen den Wehen ständig versicherte, es könne nun ganz sicher nicht mehr lange dauern.

Manchmal setzten die Schmerzen für eine Weile aus, dann fiel sie in einen tiefen erschöpften Schlaf, und Charlotte überließ sie Matumbes Aufsicht, um zu Peter hinüberzugehen. Klaras Ehemann war vollkommen verstört. Mal betete er mit lauter Stimme, dann wieder lief er in den Busch hinaus, und man hörte ihn nach jemandem rufen. Wenn er zurückkehrte, fragte er hoffnungsvoll, ob das Kind schon auf der Welt sei, und versank anschließend in tiefen Trübsinn. Hin und wieder erschien er im Schlafraum und nahm Klaras Hand, streichelte ihr mit hilfloser Geste die Wange, doch immer war es Klara, die ihm trotz ihrer Schmerzen Mut zusprach: Er solle Vertrauen haben und für sie beten.

Charlotte konnte die Quälerei bald nicht mehr mit ansehen. Weshalb kam Dr. Lott nicht endlich? Hatte er es nicht versprochen? Oh, dieser haltlose Schwätzer! Wenn er sich in Kilwa so langweilte, hätte er längst hier sein können.

»Du musst dem Kind helfen, Klara! Press es heraus!«

»Pressen? Ja, wie denn? Wie soll ich das denn machen?«

»Meine Güte. So als ob du … Verdauung hättest.«

»Großer Gott, Charlotte. Sag nicht solche Dinge …«

»Nun probier es doch mal! Irgendwann tut man es von selbst, wenn es so weit ist, dann wird das Kind bald geboren.«

Charlotte versuchte, ihr dabei zu helfen, und strich mit den Fäusten über Klaras Bauch, wie es damals Hamuna bei ihr getan hatte. Wenn Klaras Leib hart wurde unter der nächsten Wehe, musste sie mit ihren Bemühungen nachlassen, und Klara hatte sich wieder dem Schmerz entgegenzustemmen. Sie schrie immer noch nicht, doch wenn die Pein ihren Höhepunkt erreichte, begann sie zu wimmern.

Gegen Abend ließen die Wehen wieder nach, und sie lag still und bleich auf dem Lager, hatte die Hände gefaltet und betete. Charlotte wusste sich keinen Rat mehr.

»Matumbe – was tun die alten Frauen in deinem Stamm, wenn ein Kind nicht geboren werden will? Gibt es Kräuter? Einen Sud? Irgendein Mittel?«

»Matumbe weiß nicht. Sie hängen ihr Beutel mit dawa um. Machen Rauch. Drücken auf Bauch und ziehen das Kind heraus.«

»Was für eine dawa?«

»Zauber von mungu. Fetisch. In Leder eingenäht.«

Charlotte seufzte. Das würde wohl kaum helfen.

»Wo sind die Wangindo, die bei der Mission wohnen? Weshalb kommen sie nicht zurück?«

»Matumbe weiß nicht. Laufen weg vor Trommeln.«

Tatsächlich waren hin und wieder die Trommeln der Eingeborenen zu hören – aber wieso sollten sie Angst vor den eigenen Trommeln haben? Das Mädchen redete wirres Zeug, mit ihm war wirklich nicht viel anzufangen. Wären sie doch nach Kilwa geritten – selbst wenn die Wehen unterwegs eingesetzt hätten, hätten sie Klara irgendwie in die Stadt bringen können, und sie wäre jetzt in den Händen eines Arztes.

»Gott der Herr wird uns nicht im Stich lassen, er wird diesem Ungeborenen beistehen«, murmelte Peter, der an Klaras Lager kniete.

»Wir müssen sie nach Kilwa bringen«, entschied Charlotte. »Es ist die einzige Möglichkeit, Peter. Du wirst eine Trage für sie herstellen, und wir brechen noch in der Nacht auf.«

Er war froh, etwas tun zu können, auch wenn dieses Unternehmen purer Wahnsinn zu sein schien. Außer Charlottes Maultier gab es in der Mission nur noch einen Esel, der sollte die Trage ziehen, während Peter auf dem Maultier vorausreiten würde, um den Arzt in Kilwa zu alarmieren. Dr. Lott konnte ihnen dann entgegenreiten, so sparten sie Zeit.

Es war schon dunkel, und Matumbe musste für Peter und Charlotte die Lampe halten, während sie die Äste für die Trage mit dem Buschmesser abschlugen. Die Schwarze zitterte dabei vor Angst, da sie fürchtete, die beiden könnten die Geister des nächtlichen Waldes aufrühren.

»Es gibt keine Geister, Matumbe. Keine sheitani. Wie oft habe ich dir das schon gesagt? Gott der Herr herrscht über Licht und Dunkelheit, alle Wesen kommen aus seiner Hand und kehren zu ihm zurück …«

Matumbe stieß einen leisen Schrei aus und ließ die Lampe fallen, das Licht flackerte auf und erlosch.

»Matumbe!«

Charlottes zorniger Ruf blieb ohne Antwort. Es war finster, nur langsam wuchsen Schattengebilde aus der Dunkelheit, bizarre Äste, Baumstämme, seltsame Formen, die der Wind bewegte. Leises Rascheln war zu vernehmen, ein Hauch streifte Charlottes Wange, vielleicht der Luftzug einer vorübergleitenden Fledermaus.

»Bwana keinen Lärm machen. Nicht Äste schlagen.«

Das war nicht Matumbe. Jemand musste sich unhörbar in ihre Nähe geschlichen haben.

»Bwunge«, hörte sie Peters Stimme. »Weshalb kommst du in der Nacht? Wo sind die anderen? Weshalb versteckt ihr euch?«

Gott sei Dank – es musste einer von Peter Siegels afrikanischen Schützlingen sein. Was weiter gesprochen wurde, konnte Charlotte nur teilweise verstehen, denn Bwunge bediente sich einer seltsamen Mischung aus der Wangoni-Sprache, dem Suaheli und deutschen Ausdrücken. Sie begriff nur, dass Peter dem Schwarzen zuredete, mit seiner Familie und den anderen zur Mission zurückzukehren. Doch er stieß auf taube Ohren, Bwunge gab keine Antwort mehr und verschmolz mit den Geisterschatten des nächtlichen Waldes.

»Was ist los?«

»Lass uns ins Haus gehen, Charlotte.«

Sie fanden die Lampe auf dem Waldboden, doch das Öl war ausgelaufen, so dass sie nur kurze Zeit brannte, als sie sie mit einem Streichholz entzündeten. Matumbe hockte zusammengekauert in einer Ecke des Wohnraums, die Arme vor der Brust gekreuzt, die missgestalteten Hände unter den Achseln verborgen. Drüben im Schlafzimmer lag Klara still auf ihrem Lager, nur hin und wieder zuckte ihr Gesicht, und ihre gefalteten Hände verkrampften sich.

»Es ist vollkommen unbegreiflich«, stöhnte Peter. »Ich habe sie den christlichen Glauben gelehrt, ihnen die Vergebung der Schuld durch Christi Blut verkündet, ich habe einige von ihnen sogar getauft. Aber sie sind alle zu ihrem Stamm zurückgekehrt und wieder zu Heiden geworden.«

Charlotte war wenig beeindruckt. Was jammerte er jetzt wegen seiner Schäfchen – es ging um Klara.

»Wie auch immer – lass uns die Trage fertigstellen und den Esel anspannen!«

Er stand mitten im Raum, stützte sich mit den Armen auf dem Tisch ab und starrte vor sich hin.

»Mein Gott! Wozu habe ich zwei Jahre lang gepredigt und gewirkt? Es war alles umsonst. Mungu, ihr Götze, habe sich endlich seinem Volk gezeigt, er habe ihnen eine dawa gegeben, die sie unverletzlich mache, das maji-maji. Drüben in Mahenge hätten sich schon die tapferen Krieger gesammelt, die Donde aus dem Süden, die Ngoni, die Ngindo und alle Stämme in Sagara schlügen die Kriegstrommeln. Sie kämpfen gegen uchawi, den bösen Geist. Sie halten die Weißen für eine Ausgeburt Satans. Sie wollen uns alle ermorden.«

Charlotte stockte der Atem. Ein Aufstand. Nicht der erste, den sie in Afrika erlebte, doch als die Dschagga Moshi angriffen, hatte sie auf der sicheren Plantage gesessen, Max an ihrer Seite, sie waren bewaffnet und hätten sich verteidigen können. Jetzt aber waren sie schutzlos mitten im Busch, und Klara brauchte dringend ärztliche Hilfe.

»Wir sollen in der Mission bleiben«, fuhr Peter fort und sah sie dabei hilflos an. »Bwunge will versuchen, uns zu schützen. Alle Weißen seien des Todes, auch ihre schwarzen Angestellten müssten sterben …«

Waren die beiden Schwarzen aus Kilwa deshalb so überraschend geflüchtet? Hatten sie sich an die Küste in die sichere Festung der Schutztruppen retten wollen? Und der untreue Juma war mit ihnen geritten, ohne seine bibi Roden zu warnen!

»Das ist jetzt alles gleich!«, stieß Charlotte verzweifelt hervor. »Klara muss nach Kilwa gebracht werden – wir werden es schon schaffen. Oder hast du Angst?«

»Wenn Bwunge die Wahrheit gesagt hat, dann könnten wir unterwegs leicht von den aufgebrachten Kriegern getötet werden.«

»Und wenn wir hierbleiben, wird Klara sterben!«

Peter machte eine unkontrollierte Bewegung mit den Armen, dann fiel er auf einen Hocker und schlug die Hände vors Gesicht.

»Gott wird uns helfen!«, stöhnte er. »Seine heiligen Engel …«

»Mach, was du willst!«, fauchte ihn Charlotte an. »Ich bringe Klara nach Kilwa, wenn nötig, auch allein!«

»Nein, nein. Ich werde mit euch gehen.«

Schwankend raffte er sich auf, ergriff Buschmesser und Lampe, um draußen die Trage für seine Frau fertigzustellen. Doch noch bevor er die Tür öffnen konnte, erstarrten sie.

Hufschläge waren zu hören. Jemand ritt in den Hof der Mission ein, ein Maultier schnaubte, weil es hart gezügelt wurde. Geistesgegenwärtig löschte Charlotte die Lampe und fasste ein Buschmesser. Sie würde Klara und das Ungeborene verteidigen, wenn nötig, mit ihrem Leben.

»Heda!«, rief draußen eine halblaute Stimme. »Missionar Siegel?«

»Der Arzt«, murmelte Peter. »Gott hat uns erhört.«

Er stürzte zur Tür und riss sie weit auf.

»Dr. Lott! Der Himmel schickt Sie. Kommen Sie rasch, meine Frau ist …«

Endlich! Charlottes Hände zitterten so heftig, dass sie mehrere Streichhölzer benötigte, bis das sanfte Licht der Petroleumlampe den Raum erhellte. Neben Peter Siegel erblickte sie einen Mann, der unmöglich Dr. Lott sein konnte.

»George?«, stammelte sie.

Es war mehr eine Ahnung denn Gewissheit. Sein Gesicht war halb von dem tief in die Stirn gezogenen Tropenhelm verdeckt, doch er war es. Sein heller Anzug war rötlich vom Staub, und als er jetzt den Helm abnahm, sah sie, dass seine Augen entzündet waren. Er musste wie ein Besessener Tag und Nacht unterwegs gewesen sein, um hierher zu gelangen.

»Charlotte – sei mir gegrüßt. Wer hätte geglaubt, dass wir uns so bald wiedersehen«, sagte er mit schwachem Lächeln.

Sie war so erleichtert, dass sie nahe daran war, ihm um den Hals zu fallen. Was auch immer ihn hierhergeführt haben mochte, seine Gegenwart brachte augenblicklich Hoffnung und Sicherheit in diese schreckliche Lage. George war wagemutig und erfahren, er war ein Mann, und er war ein Arzt.

»Setz dich, George … Mein Gott, wie hast du es nur geschafft, uns in der Nacht zu finden? Ruh dich aus. Matumbe – bring Wasser, Milch, etwas zu essen.«

Er warf seinen Helm in eine Ecke und ließ sich auf einem Hocker nieder. Doch er wollte nichts zu sich nehmen, er brauchte nur Wasser, um sich den Staub von Gesicht und Händen zu waschen.

»Wie ich euch gefunden habe? Ich hatte einen Führer. Komm herein, Juma!«

»Juma?«

Charlottes schwarzer Diener hatte vor der Tür gehockt, da er sich nicht ins Haus traute. Jetzt aber trat er eilig ein, um der unheimlichen Dunkelheit draußen zu entkommen.

»Juma ist weggelaufen. Viel schlimme Gedanken. Bwana daktari will wissen, wo ist bibi Roden. Juma es ihm zeigen. Wir viel geritten, Tag und Nacht. Keine pumska, keine Rast. Bwana daktari immer antreiben. Juma muss reiten, nicht schlafen …«

Sein Gesicht war grau vom Staub, er hustete und setzte sich dann vollkommen erschöpft in eine Ecke des Raums auf den Boden. Charlotte war viel zu erleichtert, um ihm jetzt eine Strafpredigt zu halten, das konnte bis später warten.

»Er lief in Kilwa auf mich zu, weil er mich wiedererkannt hatte«, erklärte George. »Als ich nach euch fragte, war er gleich bereit, mir den Weg zu zeigen.«

»Iss etwas, und ruh dich aus, George. Dann aber bitte ich dich, nach Klara zu sehen.«

»Sie hat Wehen?«

»Seit über zwei Tagen.«

»Weshalb sagst du das erst jetzt?«

Klara sah ihnen mit weit offenen Augen entgegen, der Lärm hatte sie geweckt, und ihre feinen Ohren hatten längst vernommen, wer da angekommen war. Trotz ihrer Schwäche war es ihr ein wenig peinlich, dass ausgerechnet ein Bekannter, eigentlich ja ein Verwandter, sie nun untersuchen würde, doch sie verbarg tapfer ihre Scham, als George ihren Bauch abtastete.

»Vertraust du mir, Klara?«

»Natürlich, George.«

»Hör zu. Dein Kind liegt mit dem Kopf nach oben, also genau falsch herum. Wann sind die Wehen schwächer geworden?«

»Vor ein paar Stunden …«

Charlotte, die die Lampe hielt, konnte erkennen, dass Georges Gesichtsmuskeln zuckten, als bedeute das nichts Gutes, doch seine Stimme blieb ruhig.

»Ich werde versuchen, dein Kind zu drehen, anders wird es nicht gehen. Es wird nicht angenehm sein – aber du bist eine tapfere Frau, Klara.«

»Das bin ich ganz und gar nicht, George. Aber ich werde alles ertragen, wenn es nur meinem Kind hilft.«

Matumbe wurde herbeigerufen, zu zweit mussten sie Klara festhalten, während Dr. Johanssen ans Werk ging. Charlotte mochte gern glauben, dass er versuchte, so behutsam wie möglich zu sein, doch das, was er da tat, war entsetzlich. Hätte sie nicht die Aufgabe gehabt, Klara in ihrer Not zu stützen, ihr den Schweiß aus dem Gesicht zu wischen, ihren gequälten Körper umklammert zu halten – sie wäre vermutlich in Ohnmacht gefallen.

Es war kurz vor Morgengrauen, als Klaras Sohn geboren wurde. Es war ein kräftiger Säugling, doch sein Körper war leblos, die Haut blass, fast bläulich.

»Halt ihn an den Füßen, und klopf ihm sanft auf den Rücken. Nimm den Strohhalm, und saug ihm die Flüssigkeit aus dem Mund. Nun mach schon, Charlotte!«

Mit zitternden Händen gehorchte sie, doch das Kind regte sich nicht und wollte nicht schreien. George war nur mit Klara beschäftigt, untersuchte die Nachgeburt, rieb ihr Schläfen und Arme, und rief ihr zu, sie habe einen Sohn, bis sie endlich zu sich kam und die Augen aufschlug.

»Einen Sohn? Ich will ihn sehen.«

George strich Klara über die kühle, schweißfeuchte Stirn, hielt die Hand eine kleine Weile an ihrer linken Schläfe, dann lächelte er sie an. Nie hatte Charlotte ihn so zärtlich gesehen.

»Charlotte hat deinen Kleinen im Arm. Schlaf jetzt, ruh dich aus. Es ist alles in Ordnung, du hast einen Sohn geboren.«

Klaras Kopf sank auf die Seite, sie war viel zu matt, um auf ihrer Bitte zu beharren.

»Ich danke dir, George«, flüsterte sie und fasste seine Hand. »Du kamst wie ein rettender Engel. Gott segne dich.«

Charlotte hatte das Kind in ein Tuch gewickelt und hielt es an ihrer Brust, als könnte sie ihm durch die Wärme das Leben wiedergeben.

»Leg ihn hierher!«

»Aber …«

»Tu was ich sage, Charlotte.«

Er untersuchte den Säugling, stellte alles Mögliche mit ihm an, horchte auf die Herztöne, doch es war umsonst.

»Es war vorauszusehen, die Nabelschnur hatte sich um seinen Hals gewickelt«, murmelte George. »Wäre ich doch früher gekommen. Himmel, ich wollte sofort nach Kilwa aufbrechen, als du mich anriefst. Ich habe es nicht getan, weil … weil ich glaubte, du wolltest es nicht. Es war falsch. Alles hätte anders kommen können …«

Er stockte und wandte sich ab. In seiner Verbitterung hatte er Dinge gesagt, die Charlotte verletzen würden.

»Aber … er atmet doch.«

»Du täuschst dich, Charlotte.«

Der Säugling zuckte mit den Ärmchen, und sein winziges Gesicht verzog sich zu einer schmerzhaften Grimasse. Er gab keinen Laut von sich, doch sein Atem war wahrnehmbar. Schwach und unendlich rasch wie der Atem eines kleinen Vögleins.

»Er lebt … Mein Gott, er lebt.«

Georges Hände waren unendlich sanft, als er das kleine Wesen in die Tücher einhüllte und Charlotte in den Arm gab.

»Halt ihn warm, du weißt ja, wie man das macht. Und vergiss bitte die Dummheiten, die ich eben geredet habe.«

Sie spürte das lebendige Kind dicht an ihrem Körper, und plötzlich löste sich all ihre Anspannung in einem gewaltigen Glücksgefühl. Sie hätte weinen und lachen können, ihn umarmen und küssen, sich an seine Schulter lehnen und vor Glück schluchzen.

»Du bist ein wundervoller Arzt, George. Du hast Klara und dieses Kind gerettet – ich liebe dich dafür.«

Er schwieg und sah sie mit dem altgewohnten Blick an, eindringlich, als sähe er sie zum ersten Mal. Dann lächelte er schwach und wandte sich ab, um den Vorhang beiseitezuschieben, der Wohn- und Schlafraum voneinander trennte.

»Ein Sohn wurde geboren«, verkündete er laut.

Peter Siegel hatte drüben in heller Verzweiflung ausgeharrt, unfähig, die Qualen seiner Frau mit anzusehen. Jetzt starrte er fassungslos auf das Kind in Charlottes Arm, lobte jedoch nicht George, sondern Gott den Herrn in seiner Güte. Das Kind lag reglos in den Tüchern, doch die bläuliche Farbe war aus seinem Gesichtchen gewichen, es war jetzt rosig und vor allem – es atmete. Der Missionar, der keine Ahnung davon hatte, wie knapp sein Sohn dem Tod entgangen war, segnete den Kleinen mehrfach. Dann lief er zu Klara, beugte sich über die Schlafende und küsste ihre Stirn.

»Sie ist so schrecklich blass – es geht ihr doch gut, oder?«

»Es war eine schwere Geburt, Peter. Aber sie wird sich erholen.«

George wollte drüben bei Peter schlafen, der jetzt versicherte, vor Freude kein Auge schließen zu können. Charlotte legte den Säugling in die kleine Kiste, die Klara als Kinderbett zurechtgemacht hatte, und kroch auf Peters Ehelager. Sie schaute noch einmal besorgt auf die schlafende Klara und löschte dann die Lampe. Klaras Atemzüge waren erschreckend flach. Charlotte nahm sich vor, wach zu bleiben, immer wieder nach der Cousine zu sehen, ihr Wasser einzuflößen, im Notfall George zu alarmieren. Doch während sie noch grübelte, wo Matumbe den Wasserkrug hingestellt haben mochte, übermannte sie schon der Schlaf. Ohne Übergang zog er sie hinab in kühle, traumlose Dämmerung, deckte alle Sorgen mit dem schwarzen Tuch des Vergessens zu und gab ihr erlösende Ruhe.

Himmel über dem Kilimandscharo
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