Juli 1897

Akazie-Klein.epsRot glimmende Feuer in tiefer Dunkelheit, der stechende Geruch des Rauchs, schwarze Gestalten im Schein der Flammen, schreiend, zankend, die Fäuste reckend – so ähnlich hatte man ihr die Hölle beschrieben, als sie noch ein Kind war. Charlotte kniete vor ihrem Zelt im taufeuchten Gras und konnte den Blick nicht von dem faszinierenden Schauspiel wenden. Ein Kopfputz aus Federn tauchte auf, die Spitze einer Lanze, eine wallende Antilopenmähne, ein vorbeiwehender roter Umhang. Dazwischen Gezeter, Gejammer, schrille Rufe, das Klappern von Blechgeschirr, gackernde Hühner – jemand schleppte einen hölzernen Lehnstuhl vorbei. Irgendwo im Tumult krähte ein Hahn, zornig, beharrlich, als wolle er die Menschen zu größerer Eile antreiben.

Die Schlafenden im Nachbarzelt schien der Tumult nicht zu kümmern. Dort übernachteten die beiden Deutschen, ein Biologe und ein Maler, die ebenfalls mit der Karawane reisen würden. Man hatte sich gestern Nachmittag kennengelernt, als Charlotte mit dem Küstendampfer in Pangani ankam; die Herren waren bereits seit einigen Tagen hier, hatten sich in ihrem Zelt eingerichtet und Charlotte zum gemeinsamen Abendessen eingeladen. Staunend hatte sie festgestellt, dass diese reiseerfahrenen Männer Tisch und Stühle, sogar zwei Lehnstühle und zahlreiche Koffer mit allerlei Dingen mitführten, ohne die – so behaupteten die beiden – eine solche Safari kaum erträglich sei. Sie hatten sie wissen lassen, dass gegen fünf Uhr in der Früh, gut eine Stunde vor Sonnenaufgang, das übliche Gezänk zwischen den Trägern losgehen würde, von denen jeder gern die leichteste Last ergattern wolle. Zudem habe jeder Träger seinerseits einen Lastenträger angemietet, der von ihm entlohnt würde. Man müsse bedenken, dass die Schwarzen sich selbst versorgten und daher Kochgeschirr, Bastmatte und Lebensmittel für einige Tage mitführten, und das nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre Frauen und Kinder. Es lohne sich jedoch nicht, zu dieser Zeit schon aufzustehen, denn ein Weißer sei bei diesem Getümmel vollkommen fehl am Platze. Viel klüger sei es zu warten, bis der Koch das Frühstück bereitet habe, danach könne man sich immer noch in Ruhe reisefertig machen.

Als ob ein Mensch bei diesem Krach hätte schlafen können! Es war überwältigend und erschreckend zugleich, ein lärmendes, wimmelndes Inferno bei rötlichem Flammenschein, das sie nur aus sicherer Entfernung zu bestaunen wagte, denn hätte sie sich in diesen brodelnden Kessel hineinbegeben, wäre sie unweigerlich darin zerrieben worden. Wie sollte aus diesem Chaos jemals eine Karawane werden? An einem der Feuer entdeckte sie einige hell gewandete Araber, die dort in aller Ruhe schwatzten und rauchten und es den Trägern überließen, ihren Streit unter sich auszumachen. Diese Männer waren die eigentlichen Herren der Karawane und Kamal Singh für das Gelingen des Unternehmens verantwortlich, doch wie es schien, griffen sie nur dann ein, wenn ihre Zeit gekommen war.

In den stechenden Rauch mischte sich jetzt der Duft nach Kaffee und heißem Erdnussöl. Nebenan wurde die Zeltbahn beiseitegeschlagen, und im Lichtschein der Petroleumlampe war das scharfe Profil des jungen Malers Anton Dobner zu erkennen. Er gähnte ausgiebig, rieb sich den rötlichen Dreitagebart und fuhr sich mit den Fingern durch das wirr emporstehende blonde Haar. Als er Charlotte erblickte, grinste er.

»Nun? Habe ich Ihnen zu viel versprochen?«

»Keineswegs. Ich fürchte nur, vor heute Abend werden wir nicht aufbrechen können.«

»Unsinn! Es dauert zwar ein wenig, aber für gewöhnlich einigen sie sich schneller, als man es für möglich hält.«

Er zog den Kopf wieder zurück, und sie hörte, wie er im Zelt leise mit Dr. Meyerwald redete. Beklommen stellte sie fest, dass man die Schattenrisse der Männer durch den Stoff hindurch sehen konnte, wenn das Zelt von innen beleuchtet war. Also hatten die beiden gestern auch sie beobachten können, wie sie das Kleid auszog und die von Klara unter vielen Bedenken genähte Hose anlegte. Sie war weit geschnitten, dennoch hatte sie lange zupfen und ziehen müssen, weil sich ihre halb lange Unterhose darunter verknäulte. Auf das Mieder hatte sie trotz aller Bedenken nicht verzichten mögen, es war jedoch locker geschnürt, und sie trug ein weites, langärmeliges Baumwollhemd darüber, das sie mit einem Gürtel in der Taille zusammenfasste. Die teuersten Stücke ihrer Ausrüstung waren das Feldbett, der Tropenhelm und die Schuhe gewesen.

Humadi, der boy, den Kamal Singh für sie angemietet hatte, tauchte jetzt aus der Dämmerung auf, einen Becher und einen Teller voller kleiner, flacher Fladen in den Händen. Er war ein hübscher Junge mit rundem Gesicht und kahl geschorenem Schädel. Er trug das lange Gewand und die Mütze, die die Angestellten der Weißen bevorzugten, und sein Lächeln war eine Mischung aus Staunen und Herzlichkeit.

»Jambo. Guten Morgen. Humadi bringt Frühstück. M’se alles aufessen. Weg ist lang und viel mühsam laufen …«

Er sprach Suaheli, gemischt mit deutschen und arabischen Ausdrücken; es waren auch einige Worte in einer fremden Sprache dabei, vermutlich die der Wanjamuesi, des Stammes, dem er angehörte.

»Jambo, Humadi. Bist du schon einmal mit einer Karawane gereist?«

»Viel Male«, antwortete er stolz. »Als ich kleines Kind war, ich gehe mit Karawane nach Tabora. Dann bwana Singh hat mich zum boy gemacht. Jetzt wir alle mit Karawane zum Kilimandscharo. Berg von Dschagga und von bösem Geist.«

Charlotte lachte und machte sich über das Frühstück her. Der sehr dünne Kaffee hatte einen erdigen Geschmack, die in Erdnussfett gebackenen Hirsefladen waren hart wie Schuhsohlen, doch der Akazienhonig, mit dem sie bestrichen waren, machte alles wieder wett. Jetzt endlich war am östlichen Himmel ein fahler Lichtstrahl zu sehen, der immer höher stieg und sich in weitere, schmalere Lichtbänder aufteilte. Die Nacht schwand von Minute zu Minute, nun erkannte man die vielen Zelte, die viereckigen großen und kleinen Lastenbündel, um die die Träger sich immer noch eifrig stritten, und konnte Buschwerk und Stämme unterscheiden. Nur die Baumkronen lagen noch in einer weißlichen Nebelschicht, die sich nur langsam hob. Drüben fluchte der Biologe Meyerwald über das verdammte Sorghum-Gebäck, an dem man sich fast die Zähne ausbiss, während schon einige schwarze Diener im Zelt hantierten, die Feldbetten geräuschvoll zusammenklappten, Kisten zuschlugen, Stühle davonschleppten. Jetzt suchten sie auch Charlottes Zelt auf, um alles zusammenzupacken, und sie war froh, dass sie ihren einzigen Reisekoffer bereits geschlossen hatte – es wäre ihr peinlich gewesen, wenn die schwarzen Diener ihre Unterwäsche gesehen hätten.

Dr. Meyerwald tauchte vor seinem Zelt auf, den Kaffeebecher in der Hand, einen Hirsefladen in der anderen, mit vollem Mund Befehle auf Suaheli bellend. Vermutlich sorgte er sich um seine Ausrüstung, die gerade davongeschleppt wurde. Als er Charlotte erblickte, grüßte er sie mit einer höflichen Verbeugung und bemerkte, dass es sehr klug von ihr sei, für die Reise passende Kleidung angelegt zu haben. Sein dichter, schwarzer Vollbart ließ nur schwer erkennen, ob er dabei grinste, aber sein Tonfall war keineswegs ironisch gewesen. Nun, die beiden Herren hatten schon viele Reisen gemeinsam unternommen, wahrscheinlich war ihnen der Anblick einer Europäerin in Hose nicht ganz ungewohnt.

Sie ärgerte sich über ihre Befangenheit, zupfte ihr langes Hemd zurecht und griff nach einem zweiten Hirsefladen. Während die Diener hinter ihr das Zelt abbauten und die Tücher zusammenrollten, beobachtete sie neugierig, wie die Reisevorbereitungen auf der weiten Lichtung weiter voranschritten.

»Die Träger haben ihre Anführer«, erklärte Dr. Meyerwald, der schon gestern Abend eifrig bemüht gewesen war, ihren Wissensstand zu erweitern. Er sprach sehr flüssig und ein wenig monoton, sie konnte sich gut vorstellen, wie er vor einem gefüllten Hörsaal Vorlesungen über afrikanische Insekten hielt. Nur das Gewehr, das er sich jetzt über den Rücken hängte, und der breite Patronengürtel passten nicht zu dieser Vorstellung.

»Die einzelnen Gruppen sind stets vom gleichen Stamm und lagern an den Abenden immer zusammen. Schauen Sie sich einmal die Warenballen an. Man hat die Stoffe gestern aufeinandergelegt und in Bastmatten eingewickelt, danach mit Kokosstricken zusammengezurrt, mit Fäusten und Stöcken darauf herumgeschlagen, bis das Lastenbündel klein und steinhart wurde. Jetzt binden sie Stangen daran, immer drei an einen Ballen, so muss der Träger, der die Last auf dem Rücken hat, sich nur ein wenig zurücklehnen, wenn er den Ballen abstellt, dann steht das Zeug auf den Stangen. So braucht er sich nicht zu bücken und kann es leichter wieder aufnehmen …«

Die Ballen waren unterschiedlich schwer, manche wogen nur fünfzig, andere bis zu hundert Pfund – und sie begriff, weshalb die Träger sich gestritten hatten. Sie sah nicht zum ersten Mal eine Karawane – wie Dr. Meyerwald offensichtlich annahm –, in Daressalam trafen regelmäßig Waren aus dem Landesinneren ein, vor allem die langen Stoßzähne der Elefanten. Doch bisher hatte sie nicht darüber nachgedacht, welche unfassbar schwere Lasten diese Männer tragen mussten. Nur selten führten Karawanen Esel oder Maultiere mit, die doch nur an irgendwelchen Krankheiten starben oder von wilden Tieren gerissen wurden. Pferde waren noch anfälliger, es gab nur einige wenige an der Küste für die deutschen Offiziere. Für den Warentransport durch Steppe und Urwald kam nur der Mensch infrage.

Die aufsteigenden Nebel wurden durchsichtig und färbten sich rosig, schwarz zeichneten sich darin die Silhouetten der Baumwipfel ab, über den Morgenhimmel floss orangefarbiges Licht. Eine Frau nahm Charlotte den leeren Becher aus der Hand und hob den Teller auf, die Feuer waren inzwischen erloschen, nur hier und da hockte noch einer der Träger am Boden, um einige letzte Züge Hanf zu rauchen. Der Hahn krähte immer noch, doch wurde sein Kikeriki jetzt von Trommeln und seltsam quäkenden Hornklängen übertönt.

»Sie blasen auf der bargumu, das ist das Horn einer Antilope«, dozierte Dr. Meyerwald. »Und das ganz ohne Mundstück, die Töne werden nur durch die Lippenspannung hervor…«

Zahlreiche Gewehrschüsse ertönten, begleitet von einem mörderischen Geschrei und den hellen, trillernden Rufen der Frauen. Charlotte zog den Kopf ein, um nicht von einer verirrten Kugel getroffen zu werden.

»Der Anführer hat das Zeichen zum Aufbruch gegeben – es geht los, junge Frau! Aber immer pole pole. Wer jetzt schon hastet, der wird bald schlappmachen …«

Das Abenteuer begann, und sie fieberte ihm entgegen. Drüben, wo ein schmaler Pfad zwischen den Bäumen hindurch gen Westen führte, hatte sich eine Gruppe bewaffneter Männer versammelt, wild aussehende schwarze Burschen mit Karabinern und Lanzen, die zum Zeichen ihrer Kriegerwürde bunte Umhänge um die Schultern trugen. Dorthin strebten jetzt ihre beiden Reisegefährten, und sie schloss sich ihnen an. In den ungewohnten Kleidern fühlte sie sich seltsam frei und zugleich befangen, und sie war nur froh darüber, dass sie sich weiche Lederschuhe mit festen, flachen Sohlen gekauft hatte. Sie würde sich auf keinen Fall tragen lassen, auch wenn sie eine Frau war. Sie war kräftig und ausdauernd, und wenn ein Träger mit hundert Pfund auf dem Rücken diesen Weg gehen konnte, dann musste sie, die völlig ohne Last einherschritt, es auch schaffen.

Die drei Europäer wurden von bewaffneten Kriegern in die Mitte genommen, zwei Araber begleiteten sie, die ebenfalls mit langen Flinten ausgestattet waren und Charlotte mit abfälligen Blicken musterten. Vermutlich passte es ihnen nicht, dass eine weiße Frau mit der Karawane reiste, warum auch immer.

»Wir werden mit der Vorhut gehen«, brüllte ihr der unermüdliche Dr. Meyerwald ins Ohr, während sie sich langsam in Bewegung setzten. »So sind wir am besten bewacht. Wundern Sie sich nicht, wenn es zuerst sehr langsam vorangeht. Die Burschen sind das Lastentragen noch nicht gewohnt, haben sich an der Küste schöne Tage gemacht und müssen erst richtig Tritt fassen.«

»Aber was ist mit den Frauen und den Kindern?«

»Die laufen irgendwo am Ende mit. Ganz am Schluss geht immer die Gruppe der wanjampara, das sind die schwarzen Anführer und ihre Ratgeber. Das ist wichtig, weil die Karawane sich oft meilenweit auseinanderzieht und man Sorge haben muss, dass die Träger mit den Waren verloren gehen könnten. Manchmal finden auch Überfälle statt; räuberische Banden stoßen mitten in die Reihen der Träger hinein, schlagen die Schwarzen tot und nehmen mit, was sie kriegen können.«

»Kommt das oft vor?«, erkundigte sich Charlotte beklommen, denn auch Kamal Singh hatte von solchen Ereignissen gesprochen.

»Leider immer noch viel zu häufig«, antwortete Meyerwald mit Bedauern.

Sie schwieg. Vielleicht war es ja im Leben so eingerichtet, dass man für das Glück, das man sich erkämpfte, bezahlen musste. Mit Schuldgefühlen, mit Krankheit, vielleicht sogar mit dem Tod. Sie hatte es so gewollt, jetzt gab es kein Zurück mehr.

Die schwarzen Träger schienen sich wenig mit sorgenvollen Gedanken zu plagen – ganz im Gegenteil. In scheinbar überschäumender Begeisterung machten sie sich auf den Weg, riefen einander Scherzworte zu, lachten, trommelten, Gesänge wurden angestimmt, zahlreiche Stimmen fielen mit ein. Die Melodien waren seltsam eintönig und wurden häufig wiederholt, dazwischen erhoben sich jedoch immer wieder einzelne vorwitzige Ausrufe und helle Trillerlaute, die in Charlottes Ohren an Kriegsgeheul erinnerten.

Die frohe Aufbruchsstimmung wirkte ansteckend. Es hatte etwas Großartiges, inmitten dieser fröhlichen, lärmenden Menschen zu stecken, die laut überall verkündeten: Hier sind wir, wir sind stark, wir sind viele, wir sind mutig. Bald spürte sie die gleiche Begeisterung, folgte dem schmalen Pfad durch Palmen und dichtes Gebüsch hindurch und fand, dass der Maler Dobner, der vorausging, ruhig ein flotteres Tempo hätte anschlagen können. Noch war der Morgen frisch und kühl, Gräser und Blattwerk trugen glitzernde Tautropfen, schillernde Insekten saßen darauf, um ihren Morgentrunk zu nehmen. Weiße und blaue Blüten öffneten sich im Gras, wendeten sich der Sonne zu, die gleißend zwischen dem Blätterdach hindurchblitzte. Hier und da erkannte man ein graubraunes Äffchen im Gezweig einer Akazie, das die lärmenden Menschen mit neugierigen Augen aus sicherer Höhe betrachtete. Der Pfad wand sich entlang des breiten Pangani-Flusses, jedoch in respektvollem Abstand von den Krokodilen und Flusspferden, die das Ufer für sich beanspruchten. An einigen Stellen öffnete sich das Dickicht für kurze Zeit und gab den Blick auf das leuchtend blaue Wasser frei. Mangroven bedeckten einen Teil der Uferzone, hängten ihre dürren, verschlungenen Wurzeln ins Wasser, dazwischen stelzten weiße Vögel mit grauen Füßen und Schnäbeln, gemächlich und steif wie ältliche Jungfern. Ein Schwarm schwarzweißer Pelikane überflog den Fluss in westlicher Richtung, sie strebten den Seen und Feuchtgebieten zu, die nach der Regenzeit gut gefüllt waren.

»Sehen Sie die vielen Schmetterlinge!«, rief Dr. Meyerwald enthusiastisch. »Es gibt hunderte von Arten hierzulande, und die meisten sind noch nicht wissenschaftlich erfasst. Da drüben, das ist Amphicallia thelwalli, gelbschwarz mit stolzen sieben Zentimetern Flügelweite. Und dort auf den weißen Winden, sehen Sie doch nur! Schillernd blau mit rubinroten Flecken, Arniocera zambesia, klein, aber von großer Farbpracht. Und dort, der zarte grüngelbe Flattermann, das ist Taeda prasina …«

Tatsächlich gab es eine Unzahl wunderschöner bunter Schmetterlinge, doch Charlotte fand es sehr unangenehm, dass der eifrige Biologe den einen oder anderen davon mit bloßen Händen im Vorübergehen griff, ihm mit zwei Fingern die Flügel zusammenklemmte und das Objekt der Wissenschaft vorsichtig in eines der mitgeführten Pergamenttütchen steckte. Dabei schwärmte er davon, bereits dreizehn neue Arten dokumentiert zu haben, denen er besonders schöne Namen wie Bananenfalter, Mondsichelfalter oder auch Nachtblau gegeben habe. Charlotte beschloss, seine ständigen Vorträge einfach kommentarlos an sich vorübergleiten zu lassen; da er hinter ihr lief, konnte er ihr Gesicht sowieso nicht sehen. Als sich der Maler Anton Dobner nach einer Weile kurz zu ihr umwandte, schien er belustigt – vermutlich war er froh, heute einmal nicht das Opfer seines redseligen Freundes zu sein.

Immer wieder stießen die vorausgehenden Krieger laute Rufe aus, die dann von Mund zu Mund nach hinten weiterwanderten. Charlotte konnte die Worte zwar nicht verstehen, doch sie reimte sich zusammen, was sie bedeuteten. Man warnte die Träger vor hochstehenden Baumwurzeln, herabhängenden Ästen, Vertiefungen oder einem Bach, der den Weg kreuzte. Auch in umgekehrter Richtung wurden Nachrichten weitergegeben. Ab und an mussten sie stehen bleiben, weil irgendwo jemand seine Last verloren hatte, ein schlecht verschnürtes Paket sich auflöste oder einer der Träger gestürzt war und seine Verletzungen versorgt werden mussten. Sie waren jetzt schon mehr als drei Stunden unterwegs, und Charlotte, die langsam müde Füße bekam, fragte sich, wie ein Mensch stundenlang barfuß mit einer solch schweren Last durch den Wald laufen konnte. Weshalb stürzten sich diese Männer so begeistert in dieses Abenteuer, das sie doch so viel Kraft kostete und möglicherweise schlimm endete? Der Lohn, den sie dafür bekamen, war gering und wurde ihnen auch nur zum kleinen Teil in barer Münze ausgezahlt, Kamal Singh gab ihnen vor allem rotes Tuch, Schwarzpulver, schlechte Gewehre und billigen Schnaps.

An einer lichten Stelle unweit des Flusses wurde eine Rast eingelegt. Mit Trommeln, Stampfen und Geschrei vertrieb man mögliche Anwohner wie Schlangen oder ein verirrtes Krokodil, dann ließen sich die wanjampara auf dem Boden nieder, und die lange Reihe der Träger, zwischen denen immer einige bewaffnete Krieger gingen, füllte nach und nach die Lagerstelle. Erstaunt stellte Charlotte fest, dass die Frauen und Kinder kaum erschöpft aussahen, dabei wirkten die Knaben und Mädchen nicht älter als sechs bis acht Jahre. Einige der Träger waren allerdings fast am Ende ihrer Kräfte; sie stellten ihre Lasten ab und ließen sich daneben auf den Boden fallen – wie es schien, wollten sie bis zum folgenden Morgen hier liegen bleiben.

Humadi war bei den Frauen gewesen, jetzt lief er mit einer Kalebasse auf Charlotte zu, reichte ihr Wasser und packte einige übrig gebliebene Hirsefladen aus, falls sie Hunger hatte. Ein paar der Träger wollten hinunter zum Fluss laufen, doch es wurde ihnen verboten, und sie mussten wieder umkehren.

»Wenn die Burschen erst einmal im Wasser herumplantschen, bekommt man sie nicht so rasch wieder in den Griff. Dann erwischen sie mit ihren Pfeilen ein paar Fische, fangen an, sie zu braten, füllen sich den Bauch, und hinterher können sie nichts mehr schleppen«, erklärte Dr. Meyerwald sachverständig.

Charlotte hatte selbst große Lust, zum Fluss hinunter an das verlockend blinkende Wasser zu gehen, doch Meyerwald warnte sie eindringlich vor den Krokodilen, die sich gern im grauen Wurzelgeflecht der Mangroven verbargen. Also setzte sie sich unter eine Akazie, lehnte den Rücken gegen den Stamm und schloss die Augen, um ein wenig Ruhe vor seinen ständigen Belehrungen zu haben. Um sie herum ertönte munteres Geschwätz in allerlei Sprachen, die Leute schlürften aus Krügen und Kalebassen, Vögel stießen schrille Laute aus, ein Kind weinte und wurde mit rauer, dunkler Stimme getröstet.

Sie musste an Klara und Schammi denken, von denen sie sich gestern früh verabschiedet hatte. Schammi hatte kein Wort gesagt und sie nur schweigend und vorwurfsvoll angesehen, so dass sie fast Gewissensbisse bekam. Ihrem Versprechen, in wenigen Wochen zurückzukehren und ihm ein Geschenk mitzubringen, glaubte er nicht. Vielleicht fürchtete er, sie für immer zu verlieren, genau wie seine Eltern und Geschwister. Klara dagegen, die zuerst so entsetzt über ihren Entschluss gewesen war, blieb beim Abschied gefasst. Zärtlich nahm sie Charlotte in die Arme, drückte sie an sich und flüsterte ihr zu, sie werde für sie beten. Ach, sie könne so gut verstehen, dass Charlotte den großen Berg sehen müsse, sie wäre ja selbst mitgelaufen, wenn es ihr möglich gewesen wäre. Aber sie sei zufrieden damit, hier in Daressalam den Laden zu verwalten, und sie wisse genau, dass Gott ihre geliebte Charlotte heil und gesund zu ihr zurückgeleiten würde. Charlotte war vor Rührung schließlich doch in Tränen ausgebrochen, obgleich sie fest entschlossen gewesen war, sich zu beherrschen. Kamal Singh, von dem sie sich ebenfalls hatte verabschieden wollen, war in seinem Geschäft nicht anzutreffen gewesen, man sagte ihr, er sei in der Stadt unterwegs und würde erst gegen Mittag zurückkommen. Es hatte sie bekümmert, denn er wusste, dass sie heute abreisen würde, aber er war ärgerlich auf sie und zeigte ihr seinen Unmut auf seine Weise.

Ein schmerzhafter Stich im rechten Fußgelenk riss sie aus ihren Gedanken. Hastig zog sie die Beine an den Körper und schlug mit der Hand auf die Stelle, an der sie gebissen worden war.

»Ameisen!«, rief Dobner wütend. »Verdammte Biester. Da kommen sie in ganzen Scharen!«

Er hüpfte umher und schlug sich fluchend auf die Oberschenkel. Die schwarzen Tierchen waren in seine Hosenbeine gekrabbelt, und auch Charlotte sprang auf und schüttelte ihre weiten Hosenbeine, stampfte mit den Füßen und bemerkte erst dann, dass es auf dem rötlichen Waldboden von Ameisen nur so wimmelte. Gelächter ertönte, besonders die afrikanischen Frauen hatten ihren Spaß daran, dass sich die Weißen ausgerechnet in der Nähe eines Ameisenhaufens niedergelassen hatten. Charlotte war nicht zornig darüber, sie kannte die Neigung der Schwarzen zu harmloser Schadenfreude und musste selbst schmunzeln. Die drei Europäer verzogen sich an eine andere, ameisenfreie Stelle, und Dr. Meyerwald, der glücklicherweise verschont geblieben war, erklärte, dass es vermutlich die honigbestrichenen Hirsefladen gewesen seien, die die Ameisenscharen angelockt hätten.

»Diese kleinen Tierchen haben ein höchst interessantes soziales Gefüge, liebe Frau Ohlsen. Wenn eine umherstreifende Ameise einen Leckerbissen entdeckt, den sie allein nicht forttragen kann, krabbelt sie zurück und teilt ihren Genossinnen die genaue Lage der Futterquelle mit.«

In diesem Augenblick erschienen einige Nachzügler am Lagerplatz, zwei Träger, die unterwegs gestürzt waren und sich mit verbundenen Knien voranbewegten, begleitet von einigen Frauen, einem bewaffneten Krieger und einem Weißen im hellen Tropenanzug. Der Mann blickte sich suchend um, entdeckte die drei Europäer unter einer Palme und nahm dann den Tropenhelm ab.

Charlotte stockte der Atem, als sie ihn erkannte. Er winkte ihr mit dem Tropenhelm zu, dann mühte er sich, zwischen den kreuz und quer lagernden Menschen hindurch einen Weg zu ihr zu finden.

»Christian Ohlsen«, sagte er und reichte ihren beiden verblüfften Weggenossen die Hand. »Ich habe vor, mich der Karawane anzuschließen. Natürlich nur, wenn Sie nichts dagegen einzuwenden haben, meine Herren.«

Himmel über dem Kilimandscharo
titlepage.xhtml
cover.html
978-3-641-06904-9.html
978-3-641-06904-9-1.html
978-3-641-06904-9-2.html
978-3-641-06904-9-3.html
978-3-641-06904-9-4.html
978-3-641-06904-9-5.html
978-3-641-06904-9-6.html
978-3-641-06904-9-7.html
978-3-641-06904-9-8.html
978-3-641-06904-9-9.html
978-3-641-06904-9-10.html
978-3-641-06904-9-11.html
978-3-641-06904-9-12.html
978-3-641-06904-9-13.html
978-3-641-06904-9-14.html
978-3-641-06904-9-15.html
978-3-641-06904-9-16.html
978-3-641-06904-9-17.html
978-3-641-06904-9-18.html
978-3-641-06904-9-19.html
978-3-641-06904-9-20.html
978-3-641-06904-9-21.html
978-3-641-06904-9-22.html
978-3-641-06904-9-23.html
978-3-641-06904-9-24.html
978-3-641-06904-9-25.html
978-3-641-06904-9-26.html
978-3-641-06904-9-27.html
978-3-641-06904-9-28.html
978-3-641-06904-9-29.html
978-3-641-06904-9-30.html
978-3-641-06904-9-31.html
978-3-641-06904-9-32.html
978-3-641-06904-9-33.html
978-3-641-06904-9-34.html
978-3-641-06904-9-35.html
978-3-641-06904-9-36.html
978-3-641-06904-9-37.html
978-3-641-06904-9-38.html
978-3-641-06904-9-39.html
978-3-641-06904-9-40.html
978-3-641-06904-9-41.html
978-3-641-06904-9-42.html
978-3-641-06904-9-43.html
978-3-641-06904-9-44.html
978-3-641-06904-9-45.html
978-3-641-06904-9-46.html
978-3-641-06904-9-47.html
978-3-641-06904-9-48.html
978-3-641-06904-9-49.html
978-3-641-06904-9-50.html
978-3-641-06904-9-51.html
978-3-641-06904-9-52.html
978-3-641-06904-9-53.html
978-3-641-06904-9-54.html
978-3-641-06904-9-55.html
978-3-641-06904-9-56.html
978-3-641-06904-9-57.html
978-3-641-06904-9-58.html
978-3-641-06904-9-59.html
978-3-641-06904-9-60.html
978-3-641-06904-9-61.html
978-3-641-06904-9-62.html
978-3-641-06904-9-63.html
978-3-641-06904-9-64.html
978-3-641-06904-9-65.html
978-3-641-06904-9-66.html
978-3-641-06904-9-67.html
978-3-641-06904-9-68.html
978-3-641-06904-9-69.html
978-3-641-06904-9-70.html
978-3-641-06904-9-71.html