Es war dunkel im Zimmer, draußen pfiff der Sturm um die Häuser, riss an den Dachschindeln, heulte in den Gittern vor der Ladentür. Charlotte setzte sich stöhnend im Bett auf und rieb sich den Rücken. Was war das? Als sie sich zu Bett gelegt hatte, war dieser ziehende Schmerz ganz harmlos gewesen, doch nun durchfuhr er ihren Bauch wie ein heftiger Krampf, kam und ging, wollte nicht aufhören. Es glich den Schmerzen, die sie früher bei ihrer Regel gehabt hatte, aber in der Schwangerschaft hatte man keine Regel. Ihr Ausbleiben war ja gerade das Zeichen dafür, dass man ein Kind in sich trug, so viel wusste sie immerhin schon, die Großmutter hatte sie in den Schatz ihrer Erfahrungen eingeweiht.

»Klara?«, flüsterte sie.

Sie war froh, dass Christian in Bremen übernachtete, so dass Klara heute Nacht bei ihr lag. Christian war in solchen Dingen keine Hilfe, er hatte panische Angst vor Krankheiten und geriet in helle Aufregung, wenn sie nur einen Schnupfen bekam.

»Ist dir nicht gut? Soll ich dir einen Kamillentee kochen?«, fragte ihre Cousine leise.

Charlotte sank aufatmend zurück in die Kissen. Das Ziehen hatte nachgelassen, vielleicht war es jetzt vorbei.

»Ich habe Bauchschmerzen. Wahrscheinlich habe ich das Abendessen nicht vertragen.«

»Sei ganz ruhig. Ich mache dir einen warmen Umschlag.«

Ein Streichholz flammte auf, dann verbreitete sich der gelbe Schein der Gaslampe im Zimmer, und man konnte die Intarsienkommode mit dem Spiegel, den Wandschirm aus chinesischer Seide und die dunkelroten Fenstervorhänge erkennen. Klara stand schon neben dem Bett und warf hastig ein Schultertuch über ihr Nachtgewand, dann sah sie zu Charlotte hinüber und lächelte ihr beruhigend zu.

»Das ist der Sturm. Ich konnte auch nicht schlafen, weil es draußen so rumort …«

»Leg dich wieder hin. Ich glaube, es hat sowieso aufgehört …«

»Es macht mir keine Mühe, Charlotte. Der Herd ist gewiss noch warm. Gleich bin ich wieder bei dir.«

Sie ließ die Schlafzimmertür offen, als sie hinaushumpelte, und Charlotte hörte, wie sie in der Küche mit Kelle und Schüssel hantierte. Klara war gar nicht so ungeschickt, wie die Großmutter und Tante Fanny immer behauptet hatten, sie wusste sich recht gut zu helfen, wenn es darauf ankam. Eine Schublade wurde aufgezogen – sie nahm wohl ein frisches Küchentuch heraus, um es in das warme Wasser …

Unerwartet heftig kehrte der Schmerz zurück, schnürte ihren Leib zusammen, zerrte an ihrem Rücken. Stöhnend presste sie beide Hände auf ihren Bauch und spürte trotz der peinigenden Krämpfe, wie es warm zwischen ihren Beinen heraussickerte.

Das Kind!

Ein eisiger Schrecken durchfuhr sie. Es war doch noch viel zu früh, es durfte noch nicht geboren werden. Hastig schlug sie die Decke zurück, vergaß für einen Augenblick sogar den peinigenden Schmerz, dann sah sie den länglichen, hellroten Flecken auf dem weißen Nachthemd. Das war Blut – blutete eine Frau, wenn sie ein Kind bekam?

Auf keinen Fall durfte sie im Bett liegen bleiben, sonst würden auch noch die Unterlage und die Matratze durchweicht werden.

»Klara! Ich brauche Tücher! Ich habe meine Regel, glaube ich …«

Sie zog das Nachthemd hoch und klemmte sich den zusammengeknüllten Stoff zwischen die Beine, das Hemd war jetzt sowieso blutig und musste mit Essigwasser gesäubert werden. Doch auch auf dem Laken war ein leuchtend roter Fleck, sie musste das Bett abziehen, die Unterlage auswaschen …

Rasch stand sie auf, doch ihr wurde schlecht, und sie glaubte, die kreisenden Flügel einer Windmühle dicht vor sich zu sehen. Der Schmerz nahm wieder von ihr Besitz, stärker noch als zuvor, umschloss ihren Leib wie ein glühender Ring und schnürte ihn ein. Sie krümmte sich zusammen und wollte sich am Nachttisch abstützen, doch sie fand keinen Halt. Ein Stapel Bücher, der auf dem Tischchen gelegen hatte, fiel polternd auf die Dielen, gleichzeitig schien sich eine bleischwere Hand auf sie zu legen, die sie unerbittlich zu Boden drückte.

»Charlotte! Bitte … komm zu dir. Sag etwas. Ich bin doch bei dir …«

»Es … es tut so weh …«

Sie lag dicht vor dem Bett, ihr Körper gehorchte ihr nicht mehr, sobald sie nur den Kopf hob, fing das ganze Zimmer an zu kreisen. Zwischen ihren Beinen war etwas Schleimiges, Warmes, etwas Fremdes, das doch von ihr selbst stammte.

»Ich wecke das Mädchen«, wisperte Klara, die neben ihr kniete. »Sie wird Doktor Holzmann holen. Bleib ganz still liegen.«

Undeutlich nahm sie wahr, dass Klara aus dem Zimmer humpelte, hörte ihre aufgeregte Stimme im Treppenhaus, die ihr hell erschien und ungewohnt energisch. Das Mädchen jammerte, sie habe Angst bei diesem Sturm, es sei stockdunkel, und die Windsbräute trieben sich um. Klara humpelte in den Flur zurück, ein Kleiderbügel fiel auf den Fußboden, dann schlug die Wohnungstür zu.

Charlotte schloss die Augen und versuchte, das Zittern unter Kontrolle zu bringen, das ihren Körper schüttelte. Der Schmerz war jetzt vergangen, kehrte auch nicht wieder, zurück blieben das Hämmern ihres Herzens und eine gewaltige Erschöpfung.

»Klara? Klara!«

Sie war fort. War sie am Ende selbst losgegangen, um den Doktor zu holen? Nur mit einem Tuch über dem Nachtgewand? Was für ein Unsinn, es war doch vorbei. Kein Schmerz mehr, auch der Schwindel hatte sich gelegt, nur das Zittern wollte nicht von ihr weichen. Vorsichtig setzte sie sich auf, öffnete die Knöpfe ihres Nachthemds, streifte es herunter, wischte sich das Blut zwischen den Beinen damit ab. Sie wollte nicht wissen, was in seinen Falten verborgen war, ließ es am Boden liegen und ging unbekleidet hinüber zur Kommode, um sich ein frisches Hemd zu nehmen.

Als Dr. Holzmann nach über einer Stunde zusammen mit der völlig durchgefrorenen Klara in der Wohnung erschien, lag Charlotte im neu bezogenen Bett auf Christians Seite, die Matratze war ausgewaschen, weiße Tücher waren darüber gebreitet. Auch das blutige Hemd war verschwunden, sie hatte es in einen Eimer gestopft und die Treppe hinunter in den Hof getragen.

»Ein Abortus«, knurrte der Arzt, der seinen Ärger über die anscheinend überflüssige nächtliche Ruhestörung nur mühsam zurückhielt. »Haben Sie getanzt? Sich unmäßig stark bewegt?«

»Nein.«

»Sie wissen doch, dass eine Schwangere ruhig und zurückgezogen leben sollte. Leichte Speisen, keinen Kaffee oder gar Alkohol, früh zu Bett gehen. Keine Aufregungen.«

»Ja.«

Er verzichtete darauf, sie zu untersuchen, verordnete Bettruhe, stärkende Speisen, ab und an ein Gläschen Rotwein zur Blutbildung. Dann kassierte er sein Honorar, das natürlich höher ausfiel wegen der nächtlichen Stunde. Klara musste hinunter in den Laden laufen, so viel Bargeld bewahrten sie nicht in der Wohnung auf.

Charlotte hörte nicht mehr, wie er das Haus verließ, um durch Wind und Wetter zu seinem noch schlafwarmen Bett zurückzukehren. Sie spürte nur eine abgrundtiefe Müdigkeit und eine seltsame Leere, so als ginge sie alles, was geschehen war, nichts mehr an. Nur schlafen, tief in den Brunnen des Vergessens sinken, dorthin, wo man in kühler Dunkelheit dahintrieb, traumlos, bewusstlos, ohne Erinnerung.

Die Verzweiflung, mit der Christian die Nachricht am folgenden Tag aufnahm, rührte sie. Er überließ den Laden den Angestellten und saß den Nachmittag über an ihrem Bett, hielt ihre Hand, vergoss Tränen und bat sie inständig, bald wieder gesund zu werden.

»Es ist nicht deine Schuld, Charlotte… Du hast nichts falsch gemacht … Es war das Schicksal …«

Er scheuchte Klara und das Mädchen, allerlei Dinge für Charlotte zu besorgen, zankte mit der Köchin, und am Abend überraschte er seine Frau mit einem goldenen Ring in Form einer gewundenen Schlange.

»Ich habe ihn in Bremen für dich gekauft, mein Herz. Schau, er passt wie angegossen an deinen Finger. Habe ich gut gewählt?«

Sie tat, als freue sie sich, um ihn nicht zu kränken. Insgeheim jedoch fand sie ein solches Geschenk weit übertrieben. Auch sein übergroßer Kummer und seine Bemühungen, ihr das Krankenlager so angenehm wie möglich zu machen, belasteten sie eher, als dass sie ihr halfen. Trost fand sie nur in den wenigen Momenten, in denen sie mit Klara allein war.

»Es hat mich verlassen, bevor ich es kennenlernen, bevor ich es in meinen Armen halten konnte …«

»Es hat deine Liebe gespürt, Charlotte, und das wird ihm für immer bleiben. Weshalb es fortgehen musste, weiß niemand. Gott hat es gerufen, und es musste folgen …«

In der Nacht sah sie nach langer Zeit wieder den stolzen Dreimaster durch die Wogen gleiten, der Wind zerrte an den Segeln, blaugrün glänzte das Meer und weiß der Schaum vor dem Schiffsbug. Der Traum beglückte sie seltsamerweise, in dem gleichmäßigen Rauschen und Schlagen der Wellen löste sich all ihr Kummer auf, und sie fand Erleichterung.

»Habe ich dich nicht gewarnt?«, befand die Großmutter. »Aber du musstest ja ständig am Klavier sitzen. Es kann doch jeder normale Mensch sehen, dass das eine ungesunde Körperhaltung für eine Schwangere ist!«

Zu Christians Entsetzen hielt Charlotte die verordnete Bettruhe nur einen einzigen Tag ein, dann bestand sie darauf, wieder ihr normales Leben zu führen. Es fehlte ihr nichts, sie war auch nicht krank – und auf Beileidsbesuche der Familie konnte sie gern verzichten. Mürrisch saß sie im Salon, klappte dieses oder jenes Buch auf und legte es wieder zur Seite, schlug lustlos einige Akkorde auf dem Klavier an. In ein wollenes Tuch gewickelt, stand sie am Fenster und sah fröstelnd auf die nasse Straße herunter. Köchin und Mädchen konnten ihr nichts recht machen, die Waschfrau bekam ihren Unmut zu spüren, sogar Klara erntete so manche bissige Bemerkung. Christians ständig besorgte Miene ging ihr auf die Nerven, sie entzog sich ihm, so oft es möglich war, ging an den Abenden früh zu Bett und stellte sich schlafend, wenn er zu ihr kam. In den Nächten lag sie wach und grübelte, sehnte sich zurück nach dem lebhaften Treiben, das einst im Haus der Großeltern geherrscht hatte, nach Ettjes dummem Geschwätz, nach Pauls Lausbubenstreichen, ja sogar nach der energisch ordnenden Hand der Großmutter. Wie oft hatte sie damals gewünscht, eine Kammer für sich allein zu besitzen, einen eigenen Schrank oder wenigstens eine Kommode – jetzt verfügte sie über eine ganze Wohnung, hatte Bücher und Noten, Kleider und Schmuck, doch alle diese Dinge bedeuteten ihr nichts.

Weshalb hatte sie nicht Klaras glückliche Natur? Klara konnte sich in alles einfügen, war mit allem zufrieden. Sie nähte und stickte, steckte ihre Nase in verschiedene Bücher und hatte neulich um den Tuschkasten gebeten, den Charlotte achtlos in eine Kommodenschublade geworfen hatte. Nun zauberte sie mit Feuereifer zierliche Blättchen auf das Papier, zeichnete ineinander verschlungene Eisblumen und zarte Federchen.

War das das Leben? Sich einfügen und das Beste daraus machen? Dort, wohin Gott einen gestellt hatte, getreulich seine Pflicht erfüllen? So hatte es der Großvater immer formuliert, und es klang recht vernünftig. Nur hatte Charlotte das Gefühl, an den falschen Platz gestellt worden zu sein.

»Die Frau gehört ins Haus, dort ist sie die Herrin und verwaltet getreulich den Besitz, sorgt für die Erziehung der Kinder. Draußen aber hat der Mann das Sagen, seinen Entscheidungen hat sie sich zu fügen, denn er trägt die Verantwortung für die Familie!«

Christian war jetzt recht häufig unterwegs, oft auch über Nacht, wenn er zu Kunden reisen musste, um irgendwelche Dinge zu regeln, Waren einzukaufen oder sich um Zollangelegenheiten zu kümmern. Wenn er zurückkehrte, wirkte er angespannt auf Charlotte, und ihr Gewissen regte sich, da sie sich kaum noch bemühte, auf seine Wünsche einzugehen. Sie war nicht das hübsch gekleidete Püppchen, das er aus ihr machen wollte, auch nicht die willige Geliebte, die schon gar nicht. Wenn sie sich durchringen konnte, sich besorgt nach seiner Gesundheit zu erkundigen, lachte er sie aus.

Ein paarmal war sie während seiner Abwesenheit hinunter in den Laden gelaufen, was ihr eigentlich verboten war. Sie hatte sich das Lager angesehen und das Treiben der Angestellten im Verkaufsraum beobachtet, das ihr wenig gefallen hatte. Die beiden jungen Frauen waren adrett gekleidet und freundlich, doch wenn sie Kunden bedienten, waren sie schrecklich phantasielos, brachten nur das herbei, was gefordert wurde, und wenn eine Ware nicht vorhanden war, zuckten sie bedauernd die Schultern. Charlotte war sicher, das besser zu können. Man musste mit den Kunden plaudern, eine angenehme Stimmung schaffen, herausfinden, was sie brauchen könnten, und ihnen dann all die hübschen Dinge anbieten, die noch draußen in den Lagerregalen warteten. Weshalb gab es keine Sonderpreise wie in anderen Geschäften? Das zog Kundschaft in den Laden. Und wieso lungerte der Lehrjunge faul im Lager herum und kaute Lakritzstangen? Sie hätte schon Aufgaben für ihn gefunden: Die Schaufensterscheiben mussten gewischt werden, die Ladentür knarrte und hätte eine Portion Öl vertragen können, und oben in den Regalen lag der Staub. Aber die Angestellten dachten nicht daran, ihre Anweisungen auszuführen, stattdessen erklärten sie boshaft, man werde Herrn Ohlsen fragen, ob diese Arbeiten nötig seien. Sie wussten ganz genau, dass die junge Frau Ohlsen hier unten im Geschäft nichts zu suchen und schon gar nichts zu sagen hatte.

»Weshalb engagierst du dich nicht im Liederkreis?«, fragte Christian ärgerlich, als ihm Charlottes Besuche im Laden hinterbracht wurden. »Sie suchen jemanden, der sie am Klavier begleitet – das wäre doch eine Beschäftigung.«

»Ich möchte etwas Sinnvolles tun!«

Er seufzte tief und sah zur Zimmerdecke empor, als gäbe es dort oben jemanden, der seine Sorgen verstand.

»In den Frauenkreisen der lutherischen Gemeinde strickt man Socken und Mützen für die Waisenkinder im Armenhaus. Soweit mir bekannt ist, werden kleine Geschenke zu Weihnachten eingepackt und in einer hübschen Feierstunde an die Kinder verteilt …«

»Ich weiß …«

Sie verzog abschätzig das Gesicht und brachte ihn damit zum Schweigen, resigniert nahm er sich den Leerer Anzeiger vor, studierte die Annoncen und vertiefte sich dann in eine Meldung über die Proteste im Reichstag gegen Bismarcks Entlassung. Sie betrachtete seine Stirn, auf der noch die waagerechten Runzeln zu sehen waren, die auch jetzt noch nicht verschwinden wollten, und sie musste an seinen Vater denken. Es hätte wenig Sinn gehabt, ihm zu erklären, dass sie sich unter den Frauen der lutherischen Gemeinde nicht wohlfühlte, dass sie keine Lust hatte, über kleine Kinder, Rezepte zum Einkochen von Früchten und gehäkelte Spitzenkragen zu reden und dass ihr die falschen Töne im Liederkreis Ohrenschmerzen bereiteten. Keine einzige dieser Schnepfen verstand etwas von Schifffahrt oder Geographie, denn wenn sie überhaupt Bücher lasen, dann waren es christliche Romane über fromme Pastorenfrauen.

»Weshalb ziehst du dich nicht hübsch an, Charlotte? Immer das gleiche Kleid und dieses wollene Tuch um die Schultern!«

»Ich friere.«

Es war schon Ende März, doch der Winter behauptete sich hartnäckig gegen den herandrängenden Frühling, Eisschollen trieben auf der Leda, und die gefrorenen Wiesen drüben auf der Nesse glitzerten in der schräg einfallenden Morgensonne. Wie zum Hohn trafen haufenweise schlechte Nachrichten ein. Kantor Pfeiffer, Charlottes heiß geliebter und einziger musikalischer Vertrauter, erlag einer Lungenentzündung und wurde zu Grabe getragen. Er hatte verfügt, dass Charlotte seine Instrumente und Noten erhalten sollte, doch seine Schwester verteidigte diesen Besitz wie eine Furie, und so verzichtete Charlotte darauf. Er hatte ihr die Liebe zur Musik ins Herz gepflanzt, wozu brauchte sie also Noten und Instrumente? All die glücklichen Stunden, in denen sie miteinander musiziert hatten, waren in ihrer Erinnerung festgeschrieben, keinen Ton, keines seiner Worte würde sie je vergessen, auch nicht seine Begeisterung und seinen lebenslangen Dienst an den großen Meistern, die er so tief verehrt hatte.

Der Großvater machte Sorgen, auch mit seiner Gesundheit ging es steil bergab. Mal machte ihm das Herz zu schaffen, mal der Rücken, dann wieder konnte er schlecht Luft bekommen, so dass man das Schlimmste befürchtete. Tante Fanny oder die Großmutter musste ihn ankleiden und im Arbeitszimmer auf den Sessel setzen, die Treppe hinunter in die Wohnstube schaffte er nicht mehr aus eigener Kraft, und die beiden Frauen konnten ihn nicht tragen. Ettje vermochte kaum zu helfen, sie erwartete wieder ein Kind, das dritte inzwischen, das unbedingt ein Mädchen werden sollte, denn es lärmten bereits zwei muntere Buben im Haus. Wie oft hatte Ettje ihre Cousine Charlotte beneidet – nun war es umgekehrt, Ettje war eine glückliche Mutter, während Charlotte sich nutzlos und überflüssig vorkam.

Als die Nachricht eintraf, dass Paul durchs Abschlussexamen gefallen war, lief Christian im Salon hin und her, beide Hände an die Stirn gelegt.

»So viel Geld für nichts und wieder nichts ausgegeben! Wie gut hätte ich das im Geschäft brauchen können!«

»Aber du hast es doch auch so geschafft, Christian. Das Geschäft läuft doch ausgezeichnet, oder nicht?«

Er blieb stehen, nahm die Hände herunter und starrte sie an. Dann lächelte er und glättete sich das zerraufte Haar.

»Natürlich«, murmelte er. »Alles läuft gut. Aber mit diesem Geld wäre es natürlich leichter gewesen …«

Die Kälte wollte nicht weichen, auch nach Ostern zeigte sich nur selten die Sonne, der Nordwind trug Eisregen mit sich und überzog das Straßenpflaster mit spiegelnder Glätte. Schon wurden Holz und Kohle knapp, denn Charlotte heizte ohne Unterlass. Tagsüber saß sie mit dem Rücken zum Ofen, trug warme Socken und hatte das wollene Tuch fest um die Schultern gewickelt, dennoch waren ihre Finger so kalt, dass sie kaum die Buchseiten umblättern konnte, und an Klavierspielen war schon gar nicht zu denken. Wenn sie zu Bett ging, kauerte sie sich wie eine Katze unter dem Federbett zusammen, umschloss die Wärmflasche mit ihrem Körper und spürte zugleich, wie die Kälte durch ihren Rücken in sie eindrang. Es war nicht die gleiche Kälte, die draußen Eiszapfen an den Regenrinnen wachsen ließ und die Dachschindeln mit blitzendem Raureif bestreute – es war eine andere Art von Kälte, eine, gegen die kein Ofen und kein Feuer half und die sich auch von einem wollenen Schultertuch nicht bannen ließ.

An einem trüben Aprilmorgen stand sie am Fenster und starrte in den grauen Dunst, der vom Fluss über die Stadt wehte.

»Schau«, sagte Klara. »Ich habe es für dich gemalt – gefällt es dir?«

Charlotte seufzte. Klaras Zeichnungen waren fast immer ihr gewidmet, zeigten sie von vorn oder im Profil. Christian und sie hatten der Cousine einen kleinen Tisch und einen Stuhl in den Salon gestellt, damit sie die schönen Polster nicht mit schwarzer Tusche bekleckerte, zumal ihr im Eifer der künstlerischen Inspiration schon einmal das Fässchen umgekippt war.

»Zeig her – wieder ein Portrait von mir? Ich fürchte, es wird mir so gehen wie immer: Ich kann mich auf deinen Zeichnungen nicht wiedererkennen.«

»Nein, diesmal ist es eine Landschaft.«

Hügel waren zu sehen, nur mit wenigen Pinselstrichen hingeworfen, dahinter die kantige Spitze einer Pyramide. Eine Palme, die sich im Wind neigte, anmutig und zäh in ihrer Biegsamkeit. Reiter, kaum angedeutet und doch klar zu erkennen, eine Karawane, die langsam zwischen hohen Sanddünen dahinzog …

»Ich hatte an Marie denken müssen«, erklärte Klara, während Charlotte noch auf den Zeichenblock starrte. »Und an George.«

»An George …«

Wie lange war das her. Neun Jahre nur und doch eine Ewigkeit. Damals, nachdem sie einander auf dem Plytenberg ihre Träume gestanden hatten, hatte sie gehofft, er würde diesen einen Satz, der wie eine Verheißung, wie ein Versprechen geklungen hatte, das alles für sie verändern könnte, zu Ende sprechen, doch er hatte es nicht getan. Und nun war es längst zu spät.

»Weshalb schreibst du nicht einmal an Marie? Ihr letzter Brief liegt seit Wochen bei der Großmutter, und sie kommt nicht dazu, ihn zu beantworten.«

»Ich?«

Klara blickte sie voller Zärtlichkeit an und lächelte wissend. Es hatte sich nichts zwischen ihnen verändert.

»In Ägypten ist es jetzt gewiss so heiß, dass man sogar im Schatten schwitzt.«

Charlotte zögerte. Marie hatte bisher nur an die Großeltern geschrieben und Grüße an alle Verwandten in Leer ausrichten lassen. Sie hatte eine saubere Handschrift wie ein Schulmädchen, und ihre Briefe wurden bei Besuchen gern vorgelesen – beantwortet hatte sie jedoch bisher immer der Großvater. Nie war Charlotte auf die Idee gekommen, einen eigenen Brief an Marie zu schreiben. Warum sollte sie auch? Maries Nachrichten an die Familie beschränkten sich auf ihre Sorgen um die Kinder, das unzuverlässige Hauspersonal, den Mangel an Deutsch sprechenden Bekannten und ihre Angst vor Staub- und Sandstürmen. Ihre überschäumende Fröhlichkeit, ihr Liebreiz sprachen nicht aus diesen Zeilen, diese Eigenschaften zeigten sich vermutlich nur, wenn man Marie gegenüberstand. In ihrem Denken war sie realistisch; sie besaß den praktischen Sinn der Großmutter, war eine gute Ehefrau, eine vernünftige Hausherrin und eine besorgte Mutter. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

George hatte noch nie einen längeren Brief an die Leerer Verwandtschaft gerichtet, er quetschte höchstens ein paar Worte unter Maries ausführliche Zeilen, manchmal auch nur einen Gruß und seinen Namen.

Charlotte holte sich die Genehmigung der Großmutter, die froh war, die lästige Schreiberei aus den Händen geben zu können, und verbrachte drei Nachmittage damit, ihren ersten Brief nach Ägypten zu verfassen. Sie schrieb im Namen der Familie, zählte alle familiären Ereignisse der vergangenen Wochen auf, berichtete vom neuen Rathaus, das in Leer gebaut wurde, von Veranstaltungen der Lutherischen Kirche, fügte auch einige heitere Begebenheiten bei, um Marie ein wenig zu amüsieren.

Am Ende des Briefes richtete sie Grüße an die Kinder und an George aus. Sie habe das Buch, das er ihr vor Jahren schenkte, mit viel Freude gelesen, nicht nur einmal, sondern sogar mehrfach. Das Englische sei kein Hindernis gewesen, immerhin habe sie die Sprache schon als Kind gesprochen.

Mehr wollte sie nicht hinzufügen, obgleich es sie drängte, über dieses Buch zu schreiben, ihre Begeisterung über die lebendigen Schilderungen, die Zeichnungen und die phantastische Reise auf dem Nil kundzutun. Wie sehr bewunderte sie diese Frau, die sich in Männerkleidung unter ägyptische und sudanesische Schiffer gewagt hatte, um das Land der Pharaonen zu erforschen.

Wochenlang wartete sie, hegte eine winzige Hoffnung im Herzen, über die sie nicht einmal mit Klara sprach. Doch das kleine Fünkchen genügte, um die Kälte zu besiegen und ihre Lebensgeister neu zu wecken. Plötzlich fand sie wieder Freude am Klavierspiel; sie bot sich sogar im Liederkreis als Begleiterin an und spielte geduldig Choräle und Seemannslieder, das herzergreifende »Abendlied« von Friedrich Silcher oder vereinfachte Chöre aus den Bach’schen Oratorien.

»Siehst du, mein Herz«, meinte Christian zufrieden. »Es kommt nur darauf an, sich einer Sache ganz und gar hinzugeben. Ich hörte von allen Seiten Lobeshymnen über dich, und in dem Zeitungsartikel zur Maifeier des Liederkreises wurdest du sogar namentlich erwähnt.«

Sie lächelte und freute sich darüber, ihm einen Gefallen getan zu haben, obgleich ihr das Lob und die Erwähnung im Anzeiger herzlich gleichgültig waren. Manchmal fragte sie sich, was sie sich von ihren Briefen eigentlich erhoffte. Wenn George ihre Worte überhaupt las, würde er sie im besten Fall erfreut zur Kenntnis nehmen. Im schlimmsten Fall konnte es auch sein, dass er sich an die Szene vor acht Jahren erinnerte und der Ärger wieder in ihm erwachte. Ganz gleich, wie er die Sätze aufnahm – es gab keinen Grund für ihn, ihr eine Antwort zukommen zu lassen.

Ende Juni traf im Haus der Großeltern ein Brief aus dem britischen Protektorat Ägypten ein. Er enthielt ein langes Schreiben von Marie, eine Photographie und ein zusammengefaltetes Blatt, das die Großmutter an Charlotte weitergab.

»Was für eine Handschrift!«, meinte sie kopfschüttelnd. »Dabei ist George Akademiker. Ich bin nur froh, dass Marie so schöne, leserliche Buchstaben schreibt.«

Charlottes Puls raste vor Ungeduld, doch sie musste neben Klara in der Wohnstube des großelterlichen Hauses sitzen, den mitgebrachten Kaffee trinken und Maries Brief laut vorlesen, denn auch Tante Fanny wollte den Inhalt hören, und ihre Augen waren zu schwach, um das Schreiben selbst zu lesen.

»Wie gut Marie ausschaut!«, stellte die Großmutter fest, die die Brille gezückt hatte, um die Photographie nochmals in Augenschein zu nehmen. »Und die Kleinen, wie sie gewachsen sind. Berta wird sechs in diesem Jahr und Johannes vier …«

Das Foto erinnerte an die alte, inzwischen bräunlich verfärbte Aufnahme ihrer Eltern, die – immer noch mit dem Trauerflor geschmückt – in der Wohnstube hing. Genauso steif saß Marie auf ihrem Stuhl, sie hatte zugenommen, und ihr Lächeln war weniger kokett als vielmehr triumphierend. Hinter ihr stand George, mit einem hellen Anzug angetan, überschlank, einen Arm herabhängend, den anderen angewinkelt, eine Hand auf Maries Schulter. Sein Gesicht war gebräunt, was einen starken Kontrast zu seinen hellen Haaren und Augenbrauen bildete, seine Wangen wirkten eingefallen, und in seinen Augen lag ein seltsamer Ausdruck, der Ungeduld, aber auch Rastlosigkeit bedeuten konnte. Vermutlich hatte er sich einfach über die endlose Sitzung beim Fotografen geärgert.

»Magst du uns den Brief an dich nicht vorlesen, Charlotte?«, drängte Tante Fanny.

»Oh, den muss ich wohl erst einmal in aller Ruhe entziffern. Beim nächsten Besuch …«

Klara war die Stiege zum Arbeitsraum des Großvaters hinaufgegangen, um dort ein wenig mit ihm zu plaudern. Es war ein trauriger Anblick, der sich ihr bot: Pastor Henrich Dirksen schien während der letzten Monate kleiner geworden zu sein, auch konnte er nicht mehr aufrecht im Sessel sitzen, sondern musste von vielen Kissen und Polstern gestützt werden. Nur sein Geist war noch gesund, doch auch das war kein Segen, da er seinen jammervollen Zustand begriff und darunter litt.

Charlotte folgte ihrer Cousine, doch heute musste sie sich zwingen, wenigstens ein Weilchen bei ihm zu sitzen, seine verkrümmte Hand zu streicheln und von allerlei Unwichtigem zu reden. Sie kam sich schlecht vor, als sie Klara zum Aufbruch drängte, doch in ihrem Beutel steckte der Brief von George, von dem sie bisher nur die Anrede gelesen hatte. Meine liebe kleine Charlotte

Es hatte sie seltsam berührt, immerhin war sie längst nicht mehr das kleine Mädchen, das damals unter der Eiche im Gras gesessen hatte. Obgleich sie es ganz gern wieder gewesen wäre …

Klara zog sich in ihr Zimmer zurück, als sie in der Pfefferstraße angekommen waren; sie sei müde von dem langen Weg und müsse noch ein wenig ausruhen. Christian war unten im Laden, er würde heute länger im Geschäft bleiben, denn er wollte morgen wieder für zwei Tage nach Bremen fahren.

Meine liebe, kleine Charlotte,

wie habe ich mich gefreut, dass dir mein Geschenk nun doch gefallen hat, zuerst fürchtete ich, ganz schlimm danebengegriffen zu haben. Amelia Edwards war nicht nur eine mutige Frau, sie war auch eine wundervolle Schriftstellerin, und gerade deshalb hatte ich dieses Werk für dich ausgewählt. Du liest also Reiseberichte? Auch andere Autoren? Schreib mir darüber, ich bin neugierig, dein Urteil zu hören. Schreib mir auch, was du den lieben, langen Tag über tust, ob du noch Klavier spielst, lebendige Bilder vor Augen hast und mit den Wolken davonreisen möchtest

Zum Ausgleich will ich dir von mir erzählen. Erinnerst du dich an unser Gespräch, als der Träumer dir von den roten Sanddünen und der grandiosen Wüsteneinsamkeit vorschwärmte? Ja, ich habe sie inzwischen am eigenen Leib erfahren, die Wüste, das große Nichts, die unendliche Leere, die Zone des Todes. Mit all ihren Schrecken und in ihrer Großartigkeit habe ich sie erlebt, ich habe gespürt, wie die Hitze meine Augen aus den Höhlen treiben wollte, meine Zunge zu einem Klumpen quoll und mein Hirn zu kochen begann. Aber ich habe auch die silberne Schale des Mondes über den Dünen gesehen und das funkelnde Netz des Sternenhimmels auf dem schwarzen Himmelssamt. Zweimal blickte ich dem Tod in die Augen und spürte dabei das Leben in mir so stark wie nie zuvor.

Was schreibe ich für wirres Zeug, kleine Freundin! Ich wollte dich nicht erschrecken, ich bin nur voll von all dem Erlebten und bilde mir ein, du könntest vielleicht Freude daran haben, meine Ergüsse zu lesen.

Lass mich für heute schließen. Es ist schon Nacht in Kairo, doch überall auf den Dachterrassen sieht man Lichter, die Leute sitzen beieinander, schwatzen und essen, versuchen, ein wenig Abkühlung zu finden nach der lähmenden Hitze des Tages.

George

P.S. Ich warte auf Post!

Himmel über dem Kilimandscharo
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