November 1895

Akazie-Klein.epsSie schlief noch, als die Glocke an der Wohnungstür schellte – einmal, zweimal –, dann schlug jemand mit der Faust gegen die Tür. Klara neben ihr fuhr erschrocken aus den Kissen.

»O Gott!«, stöhnte sie. »Es wird doch drüben in der Ulrichstraße nichts passiert sein?«

Es war schon nach acht Uhr. In den Ritzen der Fenstervorhänge stand das fahle Morgenlicht eines trüben Novembertages. Trübe auch deshalb, weil der Brief von George schon seit Wochen überfällig war.

»Lass das Mädchen die Tür öffnen!«

Charlotte griff nach ihrem Morgenrock und zog ihn übers Nachthemd. Als sie die Vorhänge zurückzog, füllte sich der Raum mit bleigrauem Licht. Es regnete in Strömen, dennoch standen unten in der Pfefferstraße eine Menge Leute, die offensichtlich darauf warteten, dass der Laden geöffnet wurde.

Die Schelle ging mehrfach hintereinander in kurzen Abständen, man hörte das Mädchen durch den Flur laufen und dabei leise schelten.

»Ist das eine Art, am frühen Morgen über die Leute herzufallen? Ich komm ja schon …«

Charlotte half Klara in den Morgenrock, steckte eilig ihr Haar auf und redete dabei beruhigend auf die zitternde Cousine ein.

»Es muss etwas Schreckliches passiert sein, Charlotte …«

Männerstimmen im Flur, das Mädchen flüsterte untertänig, ließ jemanden in den Salon eintreten. Gleich darauf klopfte sie im Schlafzimmer an und öffnete die Tür einen Spaltbreit, ohne zuvor eine Antwort abzuwarten. Ihr breites, unschönes Gesicht sah verängstigt aus, wie immer, wenn etwas Unvorhergesehenes den normalen Tagesablauf unterbrach.

»Es … sind amtliche Herren gekommen. Ich habe gesagt, dass Herr Ohlsen in Bremen ist, aber sie bestehen darauf, mit Ihnen zu sprechen. Die Sache dulde keinen Aufschub …«

»Es ist gut, Anni. Sag den Herren, dass ich komme.«

Charlotte schlüpfte in die Hauspantoffeln und zog die Bänder des Morgenrocks enger um die Taille. Wenn die Herrschaften sie in aller Frühe störten, würden sie mit ihrem Morgennegligé vorliebnehmen müssen. Es war ärgerlich, denn vermutlich handelte es sich um Leute, die Geld von Christian forderten, das kam in letzter Zeit immer häufiger vor, und sie hatte sich schon Gedanken darüber gemacht, ob Christian das Geschäft nicht allzu leichtfertig führte. Ein paar klärende Worte würden genügen, die Gläubiger abzuwimmeln; sie war mit den Geschäften ihres Mannes nicht vertraut und konnte leider nicht weiterhelfen.

Ihre Vermutung war falsch gewesen. Die drei Herren, die mit ernsten Gesichtern und feuchten Gamaschen neben den Polstermöbeln standen, waren keine Händler. Einer von ihnen war Klaus Sundermann, der Ehemann einer Dame aus dem Liederkreis, die Charlotte gestern Abend noch unter Tränen versichert hatte, sie spiele schön wie ein Engel. Die anderen beiden kannte sie nur vom Sehen, aber sie waren beim Amtsgericht tätig, wo auch Paul inzwischen untergekommen war.

»Guten Morgen, meine Herren.«

Ihr freundlicher Gruß wurde erwidert, auf den Gesichtern der Männer spiegelte sich deutliches Unbehagen. Sie verspürte plötzlich ein beklemmendes Gefühl in der Brust. Weshalb diese Grabesmienen, diese merkwürdige Art, sie anzustarren, als müsse man tiefstes Mitleid mit ihr haben?

»Es tut uns sehr leid, Sie zu dieser frühen Stunde stören zu müssen, Frau Ohlsen. Aber das Mädchen sagte uns, Ihr Ehemann sei abwesend …«

Sundermann war um die fünfzig, klein und gedrungen. Seinen Schnurrbart pflegte er seit vielen Jahren mit einer Bartwichse, die seine Frau unten im Laden kaufte. Er hatte eine gute Position bei Bünting, dem Teehändler, und versah außerdem einige Ehrenämter in der reformierten Gemeinde …

»Mein Mann ist geschäftlich in Bremen, Herr Sundermann. Er wird morgen um die Mittagszeit wieder in Leer eintreffen. Aber nehmen Sie doch bitte Platz, vielleicht kann ich Ihnen ja inzwischen behilflich sein?«

Keiner der drei Männer machte Miene, ihrer Aufforderung zu folgen, stattdessen wechselten sie bedeutungsvolle Blicke. Charlotte vermutete, dass Sundermanns Begleiter höchstens Gerichtsdiener oder Schreiberlinge waren; Paul hatte erzählt, dass diese Leute sich gern aufspielten, im Grunde aber nichts zu sagen hatten.

»In Bremen. Geschäftlich …«

»Wie ich gerade sagte …«

Sie musste die aufsteigende Panik verbergen. Weshalb dieses merkwürdige Benehmen? Diese Grabesmienen? Die Erinnerung an das Gesicht des Großvaters war plötzlich wieder da, damals, vor zwölf Jahren, als sie in seinem Arbeitszimmer stand …

»Ist meinem Mann … etwas zugestoßen? Bitte schonen Sie mich nicht, ich will es wissen.«

»Das wollen wir doch nicht hoffen, Frau Ohlsen.«

Sundermann betonte jedes Wort dieses Satzes. Man vernahm jetzt Lärm auf der Straße, jemand rüttelte an dem Gitter vor der Ladentür, unwillige Rufe tönten nach oben. Charlotte ging an den Besuchern vorbei zum Fenster und schob die Gardine beiseite.

»Was ist los?«, rief sie aufgeregt. »Was wollen all diese Menschen? Weshalb stehen sie vor dem Laden?«

»Sie wissen es also nicht, Frau Ohlsen?«

Es lag ein Quäntchen Mitgefühl in Sundermanns Stimme, er presste die schmalen Lippen zusammen und strich mit der Hand über den Schnurrbart.

»Ich habe keine Ahnung, meine Herren. Würden Sie mich bitte aufklären?«

»Es ist mir sehr unangenehm, Frau Ohlsen, aber wir sind gekommen, um das Gebäude zu versiegeln. Das Konkursverfahren gegen Ihren Ehemann wurde vor zwei Monaten eröffnet, und meine Wenigkeit wurde als Konkursverwalter berufen.«

Sie begriff nichts, doch sie spürte, wie ihre Beine zu zittern begannen. Konkurs war etwas Schlimmes. Sie hatte ja immer geahnt, dass Christian zu verschwenderisch einkaufte, viel zu hoch hinaus wollte mit seinen Plänen …

»Sie haben eine halbe Stunde Zeit, um einige persönliche Dinge zusammenzupacken. Wertsachen, die von den Mitteln Ihres Ehemannes gekauft wurden, gehören in die Konkursmasse. Ich muss Sie darauf hinweisen, dass Sie sich strafbar machen, wenn Sie Schmuck oder andere Wertgegenstände unterschlagen …«

Mit einer plötzlichen Bewegung wandte sie sich vom Fenster ab und blickte den Männern ins Gesicht. War das ein boshafter Scherz? Wollte man sie einschüchtern, um Geld von Christian zu erpressen?

»Aber … das ist doch lächerlich.«

Sundermann winkte einem der Gerichtsleute, der ein Papier aus seiner Aktentasche zog und es Charlotte reichte. Die Worte »Gerichtsbeschluss«, »Konkursverfahren«, »Veräußerung der Konkursmasse« tanzten vor ihren Augen auf und ab. Das war kein Scherz, amtliche Schreiben scherzten nicht – das war bitterer Ernst.

»Persönliche Gegenstände, die Sie nachweislich mit in die Ehe gebracht haben, können Sie unter Umständen beanspruchen, darüber wird das Gericht entscheiden. Vorläufig verbleibt alles in der Wohnung, bis der Wert geschätzt wurde, damit man die Sachen später versteigern kann …«

Jetzt erst wurde ihr das ganze Ausmaß der Katastrophe bewusst. Man nahm ihnen alles: das Haus, die Möbel, ihre Bücher, die Noten … Wie Bettler würde man sie auf die Straße setzen, den vielen Leuten dort unten zum Fraß vorwerfen, die ganz sicher gekommen waren, um sich an ihrer Schande zu weiden.

»Setzen Sie sich, Frau Ohlsen. Wir sind keine Unmenschen, aber dem Gesetz muss Genüge getan werden. Ihr Mann hat zahllose Geschäftsleute hintergangen, die genaue Summe seiner Schulden ist noch gar nicht abzusehen, vor allem deshalb, weil er die Handelsbücher nicht ordentlich geführt hat …«

Wie betäubt ließ sie sich zu einem Sessel führen, merkte kaum, dass Klara, die sich inzwischen angekleidet hatte, den Salon betrat und schluchzend die Arme um sie legte. Nur am Rande nahm sie wahr, dass Sundermanns Begleiter damit begonnen hatten, die Möbel im Salon aufzulisten, Schubladen aufzuziehen und schamlos darin herumzuwühlen. Sie drangen sogar in Klaras Zimmer ein.

Wie hatte sie alle Anzeichen dieses schrecklichen Zusammenbruchs übersehen können? Wo hatte sie gelebt? In ihren Träumen von dem fernen Ägypten, in den Briefen, die sie mit George wechselte?

»Haben Sie es denn nicht im Leerer Anzeiger gelesen? Es wurde unter den amtlichen Nachrichten veröffentlicht.«

Nein, sie hatte nichts gelesen. Christian ließ ihr die Zeitung am Morgen hinaufbringen – hatte er den amtlichen Teil herausgenommen? Aber auch wenn er es nicht getan hatte – amtliche Nachrichten waren ihr immer herzlich gleichgültig gewesen. O Gott! Alle hatten es gewusst, ihre Bekannten, die Sänger des Liederkreises, die Gemeindeglieder der Lutherischen Kirche, vermutlich auch Ettje und Peter, Tante Fanny, die Großmutter … Aber niemand hatte ihr etwas davon gesagt.

»Fassen Sie sich, ruhen Sie sich einen Augenblick aus – dann muss ich Sie leider bitten, sich anzukleiden und die notwenigen Dinge zusammenzupacken …«

Klara hatte aufgehört zu weinen, sie setzte sich auf die Armlehne des Sessels und streichelte Charlottes Schulter.

»Wie konnte er einfach nach Bremen fahren?«, fragte sie zornig. »Er wusste doch, was hier geschehen würde. O wie feige von ihm, uns mit alldem allein zu lassen!«

»Er wollte Waren einkaufen, Rechnungen bezahlen …«, murmelte Charlotte.

»Ihr Mann kann seit Beginn des Konkursverfahrens keinerlei Geschäfte mehr tätigen, Frau Ohlsen. Seine Handelsbücher sind geschlossen, was bis jetzt noch im Laden verkauft wurde, habe ich selbst verbucht. Leider ist zu befürchten, dass Ihr Mann sich ganz bewusst aus Leer entfernt hat …«

Charlotte wehrte die Verzweiflung ab, die sich lähmend über sie legen wollte. Christian war davongelaufen, weil er die Schande nicht ertrug. Jetzt war es an ihr zu retten, was zu retten war.

Plötzlich wurde ihr klar, dass die Gerichtsleute alle Räume durchschnüffeln würden, noch waren sie in Klaras Zimmer, bald aber würden sie das Schlafzimmer betreten und die Kommode öffnen …

»Es geht mir besser, Herr Sundermann. Ich werde mich jetzt ankleiden. Falls die Herren, die soeben meine Wohnung durchsuchen, mir die Möglichkeit dazu geben …«

»Aber selbstverständlich. Wir werden solange die Wirtschaftsräume überprüfen. Erschrecken Sie bitte nicht – unten im Laden findet bereits eine Zwangsversteigerung statt, die einstweilen jedoch nur die geschäftlichen Räume betrifft …«

Sie würden also den Laden ausräumen, die Regale wegschleppen, die silberne Registrierkasse, die hübsche, kleine Vitrine, die auf dem Ladentisch stand. Diese Geier würden das Lager leeren und den goldgefassten Elefantenzahn, die glitzernden Dolche, den Indianerschmuck und andere Dinge, die Christian mit so viel Begeisterung in Bremen erworben hatte, meistbietend verhökern. Vielleicht auch den alten Löwenkopf, der oben auf dem Dachboden in einer Kiste vor sich hin gammelte. Nein, den wohl nicht – wer wollte dieses Monstrum schon haben?

»Bleib bei der Tür stehen, Klara!«, befahl sie, als sie im Schlafzimmer miteinander allein waren. »Sag mir, ob jemand kommt.«

»Was willst du tun? Hast du nicht gehört, dass du dafür ins Zuchthaus kommen kannst?«

»Das ist jetzt gleich!«

Zitternd verharrte Klara an der Schlafzimmertür. Man hörte das Mädchen heulen, vermutlich waren die Gerichtsleute jetzt in der Küche. Auch die Köchin war eingetroffen, sie schimpfte lauthals und verlangte von Sundermann den ausstehenden Lohn. Was das für eine Gerechtigkeit sei? Die reichen Händler holten sich ihr Geld zurück, aber die Dienstboten, die könne man ja um ihren Lohn prellen …

Jetzt, da ihr Unglück besiegelt war, handelte Charlotte plötzlich klar und zielbewusst. Was auch immer Christian getan hatte – sie würde nicht zulassen, dass man ihnen alles nahm. In der schön eingelegten Kommode, die Christian damals für sie in Hamburg gekauft hatte, befand sich ihr gesamter Schmuck, all die kostbaren Ketten, Ringe und Armbänder, die ihr bisher so gleichgültig gewesen waren. Sie leerte den Inhalt der Schatulle in einen Baumwollstrumpf, warf auch Christians goldene Manschettenknöpfe hinein, einige Goldmünzen, eine Taschenuhr mit Kette. Dann knotete sie das Strumpfende zusammen und band das schmale Bündel unter dem Rock an ihrer weiten, spitzenbesetzten Unterhose fest. Da sollte Sundermann mal zu suchen wagen!

Christian hatte ihr etwas Bargeld dagelassen. Es waren nur wenige Markstücke, und sie wollte auch besser nicht darüber nachdenken, woher das Geld stammte, denn soweit sie verstanden hatte, durfte er über die Einkünfte des Ladens nicht mehr verfügen. Gleichwohl – es würde reichen, das Mädchen zu entlohnen und ein Fuhrwerk zu mieten. Die Köchin würde das Nachsehen haben, doch Charlotte hatte die laute, eigenwillige Person sowieso nie leiden können. Sollte doch der eifrige Konkursverwalter für ihren Lohn sorgen!

Anschließend holte sie die beiden verstaubten Koffer vom Dachboden, die man für die Hochzeitsreise nach Berlin angeschafft und später nie wieder benutzt hatte.

»Pack vernünftige Dinge ein, Klara. Wäsche und warme Kleidung, einen Umhang, Schuhe und Strümpfe.«

»Ich brauche keinen Koffer, Charlotte. Eine Tasche reicht mir.«

Klaras stets blasses Gesicht glühte jetzt vor Aufregung, doch ebenso wie Charlotte handelte sie rasch und vernünftig. Es war gut, etwas tun zu können, wenigstens einen winzigen Rest seiner Habe zu retten, um nicht ganz und gar verloren zu sein.

»Dann nehme ich den anderen Koffer für Christians Sachen.«

Sie legte Anzüge, Wäsche und Schuhe in die Koffer, ließ all die teuren Kleider, die Christian so geliebt hatte, im Schrank zurück, wählte ein schlichtes Kleid aus englischem Wollstoff, ein Kostüm mit langer Jacke und Pelzkragen, einen weinroten Hut mit dunkler Schleife. Als sie die Koffer geschlossen hatte und das Gepäck schon in den Flur hinaustragen wollte, hielt sie inne und lief zurück. Ganz unten im Kleiderschrank und fast vergessen in all den Jahren stand die kleine Kiste, welche die Erinnerungen ihrer Kindheit barg. Die würde sie den gierigen Gläubigern nicht lassen.

Sie rief das Mädchen zu sich und erfuhr, dass es sich die Herren in der Küche bei einem kleinen Imbiss und einer Tasse Kaffee bequem gemacht hätten. Die arme Anni sah so unglücklich aus, als habe man ihre eigenen Eltern mittellos vor die Tür gesetzt.

»Ich kann es nicht glauben, Frau Ohlsen«, schluchzte sie. »Sie waren immer gut zu mir …«

»Du wirst ganz sicher eine andere Stelle finden, Anni. Hier, nimm dieses Geld, das ist alles, was ich dir geben kann. Aber schweig darüber, und zeig es niemandem, hörst du? Und besorg uns ein Fuhrwerk. Es soll auf dem Marktplatz warten.«

Das Mädchen wischte sich die verheulten Augen und versicherte, das Geld auf keinen Fall nehmen zu wollen, als dann aber Schritte zu hören waren, ließ sie die Markstücke eilig in ihrer Rocktasche verschwinden.

»Ein Fuhrwerk. Jawohl, Frau Ohlsen.«

Die drei Herren erschienen wohlgesättigt und vom Kaffee beschwingt im Flur, einem der Herren vom Gericht klebte noch der Honig im Schnurrbart. Ihre Mienen, die zunächst heiter erschienen, wandelten sich beim Anblick der Koffer zu amtlicher Strenge.

»Ich muss Sie leider bitten, das Gepäck zu öffnen.«

Sie durchsuchten ihre Kleider, fassten in alle Taschen von Christians Anzügen, durchforsteten ihre Wäsche, öffneten das kleine Kästchen und besahen sich eingehend jeden Gegenstand, ob er vielleicht von besonderem Wert sei.

Charlotte fühlte sich ihnen schutzlos ausgeliefert, gerade so wie damals, als Tante Fanny sie ohrfeigte und es niemanden mehr gab, der es ihr verbieten konnte. Was für ein Mensch war dieser Sundermann! Hatte er eine doppelte Natur? Konnte das der gleiche joviale, Zigarren rauchende Mann sein, der bei den Festen des Liederkreises in fröhlicher Runde seine Scherze machte? Noch vor einigen Wochen hatte er ihr anerkennend zugelächelt, als sie beim Sommerfest ein Stück von Mendelssohn vorspielte – jetzt war er sich nicht zu schade, mit seinen dicken Fingern ihre Unterwäsche zu durchwühlen.

»Möchten Sie mich auch durchsuchen?«, fragte sie provozierend.

Sundermann richtete sich wieder auf und wies einen seiner Helfer an, die Koffer wieder zu schließen. Sein Gesicht war dunkelrot, nicht etwa aus Scham, sondern nur, weil ihm das Blut in den Kopf gestiegen war, als er sich so tief über den Koffer beugte.

»Sie müssen nicht glauben, dass ich das gern tue, Frau Ohlsen.«

»Weshalb tun Sie es dann? Hat man Sie dazu gezwungen?«

»Ich versehe dieses Amt, weil ich es für meine Pflicht halte, dem Wohl der Allgemeinheit zu dienen. Ihr Mann hat den guten Namen und das Ansehen seiner verstorbenen Eltern benutzt, um zahllose Geschäftspartner gewissenlos zu betrügen. Es gibt weit über fünfzig Gläubiger, bis hin nach Bremen und Hamburg …«

Ohne schlechtes Gewissen spürte sie den schwer gefüllten Strumpf unter ihrem Rock. Christian hatte auch sie betrogen, ihre Mitgift war verloren, und ob sie von Paul jemals auch nur eine Mark zurückbekommen würde, stand in den Sternen …

»Das Klavier gehört mir und darf nicht versteigert werden. Es ist ein Erbstück meiner Eltern, das können alle meine Verwandten bezeugen!«

Man hatte es schon in die Liste aufgenommen, doch jetzt machte Sundermann ein Kreuz an den Rand der Spalte – was auch immer das bedeuten mochte.

»Ebenso meine Bücher und meine Noten!«, verlangte sie.

Sie durfte einige Notenhefte, die schon reichlich abgenutzt waren, mitnehmen, die Bücher wurden ihr verweigert. Christian selbst hatte Sundermann immer wieder erzählt, was für interessante und teure Werke er für seine Frau erworben hatte, da sie eine so begeisterte Leserin sei. Das Kästchen mit ihren Kindheitserinnerungen konnte sie nach hartem Kampf für sich behalten, der Inhalt war zwar nichts wert, die kleine Schatulle jedoch sehr hübsch gearbeitet.

»Die Gegenstände, die sich als nicht veräußerlich erweisen, können Sie später abholen lassen …«

An Klaras Tasche nahm niemand Anstoß, sie enthielt nur Kleidung und ihren Zeichenblock. Die Herren halfen ihnen, das Gepäck die Stiege hinunter zum Hinterausgang zu tragen, dort ließ man sie mit ihrer Habe im Regen stehen, denn oben in der Wohnung wartete noch viel Schreibarbeit. Für einige der Möbel würde man einen Sachverständigen kommen lassen, damit alles seine Ordnung hatte und nichts verschleudert wurde.

Charlotte schleppte die Koffer, Klara mühte sich mit ihrer Tasche, wollte sich aber auf keinen Fall helfen lassen. Nur fort, die Augen schließen und nicht zurücksehen. Nicht auf den Tumult hören, der aus dem Laden zu ihnen drang, wo die Versteigerung in vollem Gange war. Anni hatte den Auftrag getreulich ausgeführt. Gleich an der Einmündung der Königstraße wartete ein Fuhrwerk auf sie, es gehörte einem Bauern, der Grünkohl und Schweinefleisch zum Gasthof Voogd geliefert hatte und froh war, einen kleinen Nebenverdienst einstecken zu können. Ohne viele Worte schob er Kisten und allerlei Geräte auf seinem offenen Wagen zusammen, stellte Koffer und Tasche dazu und rückte anschließend ein paar Säcke zurecht, auf denen die Frauen Platz nehmen konnten. Wagen und Säcke waren ebenso vom Regen durchweicht wie der Bauer selbst, dem das Wasser von der Mütze in den Jackenkragen rann, was ihn jedoch kaum zu stören schien. Schweigend zählte er das Geld nach – es war das letzte, das Charlotte besaß –, dann bestieg er sein Fuhrwerk und trieb den Gaul an. Träge setzte sich das Gefährt in Bewegung und ruckelte durch die Königstraße, bog nach rechts ab, um über die Lindenbaumstraße die Kirchgasse zu kreuzen, dann weiter durch die Osterstraße, bis sie endlich in die Ulrichstraße gelangten. Die Fahrt ging kreuz und quer durch Leer, und obgleich wegen des Regens kaum jemand unterwegs war, spürten die beiden Frauen doch, wie man sie durch die Fenster der Häuser anstarrte. Da fuhren sie, die junge, hübsche Frau Ohlsen und ihre Cousine Klara, auf einem dreckigen Bauernkarren, klatschnass vom Regen und arm wie die Kirchenmäuse. Ja, wer hoch hinaus wollte, der fiel oft tief.

Vor dem großelterlichen Haus stellte ihnen der Bauer Koffer und Tasche auf die Straße und rumpelte mit seinem Wagen davon. Er war aus Loga und hatte es nicht mehr weit, die ganze Fahrt war für ihn nicht einmal ein Umweg gewesen.

Tante Fanny öffnete auf ihr Läuten, und genau wie Charlotte erwartet hatte, brach sie auf der Stelle in Tränen aus.

»Die Schande! Die Schande! Dass es so weit kommen musste! Ich habe ja gleich gesagt, dass dieser Mann nichts für dich ist, Charlotte …«

Sie hatten also von dem Konkurs gewusst.

»Immer und immer wieder hat er uns versichert, alles käme wieder in Ordnung. Da sieht man nun, was sein Gerede wert war. Nichts, gar nichts. Die Schande! Unser guter Name ist ruiniert. Nirgendwo kann man sich mehr blicken lassen …«

Charlotte hatte keine Lust, sich das Gejammer länger anzuhören. Sie und Klara waren bis auf die Haut durchnässt und fast steif vor Kälte, was sie jetzt brauchten, waren trockene Kleider und ein warmer Ofen. Energisch schob sie das Gepäck in den Flur hinein und wollte dann die Tür zur Wohnstube öffnen.

»Doch nicht dorthin, nass wie ihr seid!«, rief Tante Fanny entsetzt. »Wollt ihr die Möbel und den Teppich ruinieren? Kommt meinetwegen in die Küche!«

Wenig später erschien auch die Großmutter, die jetzt fast nur noch oben am Lager ihres Mannes saß – Pastor Dirksen hatte vor einigen Tagen das Bewusstsein verloren. Sie machte nicht viele Worte, stand nur eine kurze Weile vor den beiden Frauen, die sich an ihren warmen Herd geflüchtet hatten, und musterte sie mit aufmerksamen Augen.

»Das möge Gott ihm vergeben – ich kann es nicht!«

Gleich darauf wandte sie sich ab, goss dampfenden Kamillentee in einer Kanne auf und ging damit hinaus. Doch bevor sie die Tür hinter sich schloss, gab sie Tante Fanny die energische Anweisung: »Mach die Betten in der Schlafkammer zurecht. Solange ich lebe, wird keines meiner Kinder und Enkel auf der Straße nächtigen müssen.«

Himmel über dem Kilimandscharo
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