Ein Schrei riss sie in die Wirklichkeit zurück. Gellend, verzweifelt, der Ruf eines Menschen in äußerster Todesangst. Gleich darauf krachten schwere Schläge, Holz splitterte, ein großer Gegenstand stürzte um. Charlotte war einen Augenblick wie gelähmt und begriff nur eines: Es war Matumbe, die drüben schrie.

Es blieb ihr keine Zeit, auch nur aus dem Bett zu steigen. Der Vorhang bauschte sich, wurde heruntergerissen, Tageslicht fiel in den dämmrigen Schlafraum. Man hatte drüben die Tür eingedrückt und einen Teil der Wand gleich mit umgerissen. Geisterwesen mit grell bemalten Gesichtern drängten zu den beiden Frauen hinein, sie trugen Speere und Pfeile, ihre Körper waren mit der roten Erde gefärbt.

»Nein! Lasst sie in Ruhe. Sie hat euch niemals ein Leid zugefügt …«

Peters Stimme überschlug sich. Sinnloserweise redete er in deutscher Sprache auf die Eingeborenen ein, flehte, beschwor Gottes Zorn auf sie herab. Für einen Augenblick erblickte Charlotte seine helle Gestalt zwischen den rötlichen Körpern der Krieger, wie er mit ausgebreiteten Armen versuchte, den Schafraum zu schützen. Dann sank er zu Boden, von einem Schlag oder einer Lanze niedergestreckt. Er besaß doch ein Gewehr – weshalb hatte er es nicht benutzt? War der Überfall zu rasch gekommen? Drüben im Wohnraum herrschte Getümmel, sie hörte Georges Stimme, laut und zornig auf Suaheli.

»Sie ist eine von euch. Weshalb wollt ihr sie töten? Was hat sie getan?«

Charlotte warf sich instinktiv über Klara, mehr konnte sie nicht tun. Die bemalten Eindringlinge stießen die Kisten um, rissen Kleider und Wäsche heraus, nahmen die Bilder von den Wänden und zerbrachen sie. Einer fand den Säugling und schleppte ihn mitsamt seiner Kiste hinaus. Draußen vor dem Missionshaus gackerten aufgeregt die Hühner, die Ziegen meckerten, man hörte den Esel unwillig schnauben. Sie führten das Vieh der Mission aus den Ställen.

»Mein Kind«, wisperte Klara. »Lass mich doch, Charlotte. Rette mein Kind. Ich flehe dich an …«

Hände griffen nach ihnen. Charlotte wehrte sich, schlug mit den Armen, versuchte, sich an Klara festzuklammern. Doch als man sie an ihren offenen Haaren hochzerrte, war der Schmerz so stark, dass sie aufgab.

»Sie ist krank!«, rief sie auf Suaheli. »Sie hat ein Kind geboren!«

Niemand hörte auf ihr Geschrei. Man stieß sie, riss an ihren Kleidern, schlug auf sie ein. Was wollten sie? Weshalb stachen sie ihr nicht eine Lanze in den Körper? Trennten ihr den Kopf mit dem Messer ab? Sie taumelte, wurde vorangestoßen, stürzte über einen Schemel und fiel zu Boden. Wehrte sich wütend gegen die Hände, die sie fassten und aufheben wollten.

»Sie brennen das Haus nieder!«, brüllte ihr jemand ins Ohr. »Steh auf! Rasch!«

Sie begriff nicht, dass es George war, der versuchte, sie vom Boden hochzuzerren. Sie roch den Brand, sah jetzt die ersten Flammen züngeln, über ihnen hatte das Strohdach längst Feuer gefangen.

»Klara! Klara!«

Ihre Stimme klang wie die einer Irrsinnigen. Mit verzweifelter Anstrengung wollte sie sich aus der Umklammerung winden, um in das brennende Inferno zu stürzen, das einst das Schlafzimmer gewesen war. Klara!

»Hörst du denn nicht, Charlotte«, keuchte er. »Klara ist in Sicherheit. Verdammt, bist du denn taub!«

Sie retteten sich mit knapper Not auf den Hof, standen dort atemlos, husteten, hielten sich aneinander fest. Hinter ihnen loderten meterhohe Flammen empor, waberten, sausten, knisterten, dann stürzten die Reste der hölzernen Dachkonstruktion ein, und die roten Funken stoben weit in die Umgebung. Jubelrufe waren zu hören, die Krieger schwenkten höhnisch ihre Speere, einige tanzten, andere standen still und starrten in die Flammen.

»Verhalte dich ruhig«, sagte George. »Ich weiß nicht, was sie vorhaben, aber sie wollen uns nicht töten.«

»Woher willst du das wissen?«

»Sonst hätten sie es längst getan. Sie haben Klara und Peter aus dem Haus geschleppt …«

»Peter … Was ist mit ihm?«

Eine dunkle Speerspitze berührte Georges Brust, und er schwieg. Jetzt, bei Tageslicht, konnte man die Angreifer deutlicher erkennen. Es mochten um die dreißig Männer sein, fast alle jung, in schmutzige Tücher gewickelt, die den Oberkörper freiließen, Tierzähne und Knochenschnitzereien schmückten Nasen und Ohren. Charlotte kannte die Dschagga, die stolzen Massai des Nordens. Doch nie zuvor, nicht einmal während ihrer Gefangenschaft bei den Dschagga, hatte sie solchen Hass gespürt, solche Lust am Zerstören, Niederbrennen, vielleicht auch an Schlimmerem.

Man führte sie ein Stück in den Busch hinein, wo sie Peter bewusstlos am Boden liegend fanden, Klara saß bei ihm und hielt ihr Kind an sich gepresst. Nicht weit von ihnen hockte Juma, verstört, am ganzen Leibe zitternd, aus einer Wunde am Hals rann Blut. Matumbe war nirgendwo zu sehen.

Mehrere junge Krieger bewachten sie mit gezückten Speeren, offensichtlich hatten sie nicht die Absicht, die Bewohner der Mission zu schonen. Dennoch schien keiner von ihnen etwas dagegenzuhaben, dass George sich um die Verletzten bemühte. Peter hatte eine Wunde am Kopf, Blut war ihm über Stirn und Schläfen gelaufen, doch es schien bereits zu trocknen. Klara war offenbar unverletzt, sie weinte leise und antwortete auf keine Frage.

»Wir müssen Juma verbinden …«

Charlotte zögerte, dann begriff sie, dass es kein Verbandszeug gab. Sie setzte sich hin und riss Streifen aus ihrem Unterrock, die George schweigend entgegennahm.

»Ruhig, Juma. Es ist gar nicht schlimm. Heb den Kopf. So machst du es gut. Sehr gut. Es wird bald aufhören zu bluten …«

Drüben loderten weitere Feuer, man konnte den Rauch sehen und hörte die trillernden Jubelrufe der Wangindo-Krieger. Sie hatten jetzt die Nebengebäude in Brand gesteckt, vermutlich würden sie auch den Garten niedertrampeln und die Zäune einreißen. Das kleine Paradies, das Peter und Klara ungefragt in den afrikanischen Busch gesetzt hatten, ging den Weg alles Irdischen. Mungu siegte über Christus am Kreuz, gefräßige Feuergeister verschlangen das Haus des christlichen Gottes.

Peter kam nur langsam zu sich. Abwesend starrte er zu den Rauchschwaden hinüber, als könne er nicht begreifen, woher sie kamen, und bewegte dabei die Lippen.

»Das tun sie nicht … Gott wird das nicht zulassen … Ich habe sie getauft … ich habe ihnen das Evangelium gepredigt …«

Der Säugling begann leise zu schreien, und Charlotte musste trotz der schrecklichen Lage lächeln. Sie wechselte einen Blick mit George und wusste, dass er das Gleiche empfand. Das Kind lebte, sein Herz schlug kräftig, es hatte zum ersten Mal einen Schrei getan. Sie stützte Klara, die Mühe hatte, aufrecht zu sitzen, und blickte fasziniert auf das rote Gesichtchen des Säuglings, den verzerrten Mund, die kleine Faust, die nun zwischen den Tüchern sichtbar wurde.

»Werden sie uns töten, Charlotte?«, flüsterte Klara.

»Ganz sicher nicht.«

»Aber warum haben sie uns das angetan?«

Klara sah zu den jungen Kriegern auf und sagte etwas, das Charlotte nicht verstehen konnte. Unter der Kriegsbemalung war schwer zu erkennen, was die Männer empfanden, doch einer von ihnen löste eine Kalebasse von seinem Gürtel und warf sie neben Klara auf den Boden. Es war Wasser darin. Klara trank durstig einige Züge und wollte die Kalebasse an Charlotte weiterreichen, doch in diesem Augenblick kehrten die übrigen Wangindo-Krieger aus dem Busch zurück. Sie bewegten sich lautlos wie Tiere des Waldes, umringten die am Boden Sitzenden, und Charlotte spürte, wie sie von Panik erfasst wurde. Weshalb hatte man sie bisher noch nicht getötet? Sparte man sie für andere Dinge auf? Es gab diffuse Berichte von grausigen Folterungen und Verstümmelungen, die die Eingeborenenstämme an ihren Gegnern vornahmen. Was sie den Frauen antaten, wurde stets als »schlimmer als der Tod« bezeichnet.

Die Krieger schienen sich nicht einig zu sein. Die Reden gingen hin und her, schwirrten über die Köpfe der Gefangenen hinweg; es wurde wütend und beharrlich über ihr Schicksal gestritten, doch nur Peter und Klara waren in der Lage, einige Worte davon zu verstehen. Charlotte wagte nicht nachzufragen. Plötzlich drangen mehrere junge Krieger auf George ein, fassten ihn unter den Armen und zogen ihn aus der sitzenden Stellung hoch. Dann banden sie ihm die Hände auf den Rücken. Er wehrte sich nur schwach, angesichts der auf ihn gerichteten Speere hätte ihm jeder Widerstand nur schwere Verletzungen oder gar den Tod eingebracht. Es war so einfach, einen Menschen zu töten, man benötigte kein Gewehr, keinen Revolver – ein Stoß mit der Lanze, ein Schnitt mit dem Messer genügten. Charlotte war weniger einsichtig als George. Als man sie emporhob und ihre Arme auf den Rücken zwang, schrie sie zornig auf und krümmte sich zusammen. Es half ihr wenig, die Männer fesselten sie, legten ihr zusätzlich eine Schlinge um den Hals und verknüpften sie mit einem Seil, das man um Georges Nacken gebunden hatte.

»Was soll das? Warum tut ihr das?«

Klara redete in heller Verzweiflung auf die Wangindo ein, doch niemand kümmerte sich um ihr Flehen. Die Männer stießen ihre beiden Geiseln voran, andere zogen an dem Seil, das man ihnen um den Hals gelegt hatte, und es blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu folgen.

Die Krieger schleppten Töpfe, Gewänder und Geschirr mit sich, die sie im Missionsgebäude erbeutet hatten, dazu eine Menge geschlachteter Hühner und Ziegen. Maultier und Esel trieben sie ebenso wie ihre beiden Geiseln vor sich her. Was aus dem Missionarsehepaar und ihrem Kind wurde, schien ihnen gleich zu sein. Auch der verletzte Juma interessierte sie nicht. Sie überließen sie ihrem Schicksal.

»Es kann nicht mehr lange dauern, dann werden die deutschen Schutztruppen hier sein«, rief George Klara zu. »Sie sind schon in Kilwa gelandet. Sie werden euch bald finden …«

Der Wald dämpfte seinen Ruf und ließ seine Stimme matt klingen, doch Charlotte hoffte inständig, dass Klara ihn gehört hatte. Trotz der Lasten bewegten sich die Eingeborenen rasch voran, ganz anders als die schwarzen Karawanenträger, die eher gemächlich dahergingen und sich über jede Rast freuten. Sie liefen auf verschlungenen Pfaden durch lichten Busch und trockene Savannen, nur wenn man auf eines der schmalen Rinnsale stieß, wurde haltgemacht, um zu trinken und die Kalebassen zu füllen. Der Aufbruch nach diesen kurzen Pausen geschah rasch und ohne Rücksicht auf die erschöpften Geiseln, die man mit Stößen und Drohungen zum Weitergehen zwang. Das Sprechen war ihnen verboten, auch die Wangindo unterhielten sich nicht miteinander. Sie gingen nahezu geräuschlos über die ausgedörrte Steppe, setzten die bloßen Füße instinktiv so, dass nicht einmal das trockene Gras raschelte.

Hin und wieder wandte sich George nach Charlotte um, und für einen kurzen Augenblick trafen sich ihre Augen. Halt durch. Wir finden einen Weg. Gib nicht auf. Meist büßte er für seinen Blick mit einem festen Schlag gegen die Schulter, doch er störte sich nicht daran. Charlotte hatte voller Schrecken gesehen, dass er verwundet war; rote Flecken zeigten sich auf seiner hellen Jacke, zwei am rechten Oberarm und einer im Rücken. Er hatte versucht, Matumbe gegen die eindringenden Krieger zu schützen, stammten die Verletzungen daher? Was war aus der jungen Frau geworden? Hatte man sie etwa in dem brennenden Haus zurückgelassen? Ach, wenn sie George doch fragen könnte.

Charlotte war bald so erschöpft, dass sie die Lage als irrwitzig empfand und immer wieder glaubte, gleich aus einem bösen Traum zu erwachen. Unter sengender Sonne stolperten sie inmitten einer Horde bemalter Krieger dahin, gefesselt, wie Vieh mit Stricken aneinandergebunden, immer wieder angetrieben, gestoßen, mit Schlägen bedacht. Zum Glück hatte sie sich zum Schlafen nicht ausgekleidet, war viel zu müde gewesen, doch sie trug keine Schuhe. Ihre Füße waren längst von den trockenen Halmen zerstochen und bluteten, doch sie spürte den Schmerz nur während der kurzen Pausen, wenn sie sich niedersetzte, um ein wenig auszuruhen. Niemand gab ihnen Wasser, sie mussten sich auf den Bauch legen und wie die Tiere aus dem schlammigen Rinnsal trinken.

Gegen Abend führte der Weg bergan, spärlich bewachsene Hügel waren zu erklimmen, staubige Pfade führten in enge, trockene Talsenken. Die Wangindo waren schlanke Menschen, einige hatten erschreckend dünne Beine, doch keiner der Krieger zeigte auch nur einen Anflug von Müdigkeit. Charlotte war völlig erschöpft, sie spürte, dass George, der durch ein Seil mit ihr verbunden war, immer wieder das Tempo verlangsamte, um ihr die Möglichkeit zum Ausruhen zu geben. Doch wenn die Bewacher ihn voranstießen, musste auch Charlotte folgen. Mit letzter Kraft hielt sie sich aufrecht, wollte auf keinen Fall zu Boden sinken, schon um den Schwarzen nicht den Triumph zu gönnen, sie so schwach zu sehen. Aber auch, weil sie nicht wusste, was man in diesem Fall mit ihr anstellen würde. Als die Sonne unterging, schienen vor dem roten Himmel Schattengestalten zu tanzen – Menschen, Bäume, Giraffen, wirbelnde Antilopen, schwarze Masken mit weiten, grinsenden Mäulern. Sie taumelte und fand Halt an Georges Schulter, der rasch herbeigesprungen war, um sie mit seinem Körper zu stützen.

»Es kann nicht mehr weit sein«, flüsterte er. »Sonst hätten sie längst ein Nachtlager aufgeschlagen. Nur noch ein paar Schritte, Charlotte. Du schaffst es.«

Jetzt endlich hatten ihre Bewacher ein Einsehen. Sie lösten den Strick um ihre Handgelenke, befreiten sie auch von der Schlinge um den Hals und gaben ihr eine Kalebasse, die sie mit ihren tauben Händen kaum festhalten und zum Mund führen konnte. Das Wasser war schlammig und warm, doch sie trank gierig. Wahrscheinlich würde sie krank davon werden, doch das war besser, als zu verdursten.

George hatte recht gehabt. Nach kurzem Weitermarsch rochen sie den Rauch der Feuerstellen, Frauen und Kinder liefen ihnen entgegen, redeten durcheinander, stießen schrille, trillernde Laute aus, befühlten die Lasten, die die Männer heimschleppten, und besahen scheu die beiden Gefangenen. Die letzte Wegstrecke glich einem Triumphzug siegreicher Kämpfer, die ihre Beute und die gefangenen Feinde dem staunenden Volk präsentierten – und ganz sicher war es das auch.

Ein Tamarindenbaum stand im Zentrum des Dorfes, im letzten Abendrot erschien er Charlotte wie ein bizarrer, düsterer Riese, der aus einem wulstigen, in sich verdrehten Stamm herauswuchs. Unter seinen Ästen mit dem fiedrigen Blattwerk saßen zwei Greise und starrten neugierig auf die ankommenden Krieger, sie waren nackt bis auf einige Fetzen um ihre Lenden.

Jetzt drängten sich Halbwüchsige und Kinder um die beiden Gefangenen, zupften sie am Haar, rissen an ihren Kleidern, lachten, fragten, betasteten sie ungeniert, während die Frauen sich um Töpfe, Kleider und Geschirr aus dem Missionshaus zankten. Charlotte stand wie versteinert da und wusste plötzlich nicht mehr, was sie von alldem halten sollte. Sie waren Beute, ebenso wie die Töpfe und das geschlachtete Vieh, das jetzt von einigen Frauen gehäutet und gerupft wurde. Immer noch hatte sie das Gefühl, in einem grausigen Traum gefangen zu sein.

Doch der Irrsinn setzte sich fort. Mehrere Krieger jagten die Kinder davon und zerrten die beiden Weißen vom Dorfplatz in eine abseits stehende Hütte, die ganz offensichtlich nicht mehr bewohnt wurde. Trockene Zweige wurden von außen vor den Eingang gestellt und verflochten wie Gitterstäbe. Dann entfernten sich die Männer, und sie blieben allein zurück.

Es war fast dunkel, durch die Zweige vor der Türöffnung drang der schwache Schein einiger Feuer, die man entzündet hatte, um das Festmahl zuzubereiten. Stimmengewirr war zu hören, Äste wurden zerbrochen, um die Feuer zu nähren, hin und wieder huschte eine Frau oder ein Kind an der Hütte vorüber, versuchte, zu ihnen hineinzuschauen, doch im Dunkel des runden Innenraums konnten sie die Gefangenen nur als Schatten erkennen.

George durchmaß mit langsamen Schritten die Hütte, und Charlotte begriff schaudernd, dass er sie nach Schlangen absuchte, die sich gern in verlassenen Behausungen aufhielten. Als er sich schließlich setzte, ließ sie sich erschöpft neben ihm nieder.

»Kannst du mir die Hände freimachen?«

»Ich versuche es.«

Die Stricke waren aus Hanf gedreht und fest angezogen, und sie brach sich fast die Finger, um die Knoten zu lösen. Als es ihr endlich gelang, nahm George die Arme langsam nach vorn und rieb sich die tauben Hände.

»Sie werden ganz sicher nach uns sehen«, flüsterte Charlotte.

»Möglich. Aber ich vermute eher, dass sie jetzt mit ihrer Mahlzeit beschäftigt sind. Und später werden sie feiern.«

Sie wagte es nicht, sich in der dunklen Hütte auf dem Boden auszustrecken, stattdessen kauerte sie sich zusammen und umschloss die angezogenen Knie mit den Armen.

»Was sollen wir tun, George?«

»Warten.«

»Bis sie uns töten? Oder verstümmeln? Wie kannst du so gelassen sein?«

»Scht …«, machte er leise und legte seinen Arm um ihre Schultern. »Ich bin keineswegs gelassen, Charlotte. Aber wir müssen versuchen, ruhig zu bleiben und unseren Verstand zu benutzen.«

»Ja …«, murmelte sie.

Es war gut, seine Nähe zu spüren, seinen Arm, der sie jetzt näher zu sich heranzog, seine unrasierte Wange, die an ihrer Schläfe kratzte.

»Es ist mir nicht ganz klar, was sie vorhaben«, flüsterte er. »Es scheint zwei Parteien unter ihnen zu geben, und ich vermute, dass einige Stammesmitglieder zur Vorsicht raten. Sie haben zwar die Missionsstation niedergebrannt, aber niemanden getötet.«

»Und weshalb haben sie uns hierhergeschleppt? Als Geiseln?«

»Ich kann mir keinen anderen Grund denken.«

Sie konnte sein Gesicht kaum erkennen, und sie war froh darüber. Es war nicht George, an den sie sich jetzt vertrauensvoll lehnte, der ihre Schulter rieb, mit ihrem Haar spielte. Es war ein guter Freund, der einzige und beste, den sie hatte. Der in dieser schrecklichen Lage an ihrer Seite war, die gleiche tödliche Gefahr vor Augen hatte und dennoch versuchte, ihr Trost und Hoffnung zu spenden.

»Wieso haben sie gerade uns ausgesucht? Weil wir nicht zur Mission gehören?«

»Vielleicht«, gab er leise zurück, und sie spürte seinen Atem an ihrem Ohr. »Aber möglicherweise auch deshalb, weil wir unverletzt sind und laufen können.«

»Du bist nicht unverletzt, George. Was ist mit deinem Arm? Deinem Rücken? Lass mich nach den Wunden sehen.«

Ein kleines Lachen erschütterte seinen Brustkorb. Wahrhaftig, er hatte die Stirn zu lachen, während jeden Augenblick ein grausiges Schicksal über sie hereinbrechen konnte.

»Bin ich der Arzt oder du?«

»Du kannst deinen eigenen Rücken nicht sehen, Doktor Johanssen!«

»Du auch nicht – es ist zu dunkel.«

Sie seufzte. Er hatte leider recht. Wieder überfiel sie die Erschöpfung; sie schloss die Augen, und ihr Kopf sank auf die Brust.

»Hör zu, Charlotte. Die Kolonialregierung zieht alle verfügbaren Truppen in den Süden, um die Revolte, die sie schon den maji-maji-Aufstand nennen, niederzuschlagen. Sie werden mit Geschützen und Maschinengewehren gegen Pfeile und Lanzen kämpfen, und ich fürchte, der Ausgang dieses Gemetzels steht von vornherein fest. Mein Herz schlägt nicht auf der Seite der Kolonialherren, und doch wird es uns beiden übel ergehen, wenn wir zwischen die Fronten geraten.«

Sie begriff, was er meinte. Die Wangindo würden nicht zögern, ihre Geiseln zu töten, wenn die deutschen Truppen sich näherten.

»Wir müssen so bald wie möglich fliehen, Charlotte. Aber wir brauchen viel Glück. Misslingt die Flucht, wird es für uns keinen zweiten Versuch geben.«

»Ich verstehe …«

Der Geruch von gekochtem Fleisch drang in die Hütte, vermischt mit dem Duft nach Yamswurzel und Sesam. Niemand hatte sich bisher die Mühe gemacht, ihnen Wasser oder etwas zu essen zu bringen. Aber möglicherweise dachte man erst an die Gefangenen, wenn alle anderen gesättigt waren.

»Versuche zu schlafen«, sagte George. »Es ist das einzig Vernünftige, was du jetzt tun kannst.«

Er zog sie enger an sich, und sie legte ihren Kopf in seinen Schoß.

»Weck mich nach einer Weile, dann werde ich wachen, und du kannst dich ausruhen.«

Er strich ihr sacht übers Haar, und sie rückte sich auf seinen sehnigen Beinen zurecht, die ihr kein bequemes Kopfkissen boten.

»Keine Sorge – auch ich werde mich ausruhen. Aber ich schlafe wie ein alter Waldläufer – mit wachen Sinnen.«

Himmel über dem Kilimandscharo
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