Die Wohnung war für europäische Verhältnisse mehr als primitiv. Zur Straße hin gab es zwei kleine Fenster, auch auf der Nordseite, wo eine Gasse einmündete, drang durch eine viereckige Maueröffnung ein wenig Licht ein, vor allem aber diente diese Öffnung als Rauchabzug für die Kochstelle. Ansonsten war es finster, in den kleinen Schlafräumen konnte man nicht einmal stehen, da das flache Dach zur straßenabgewandten Seite stark abfiel, damit das Regenwasser ablaufen konnte. An vielen Stellen bröckelte der Putz von den Wänden, was der Vormieter durch bunte Wandteppiche verdeckt hatte, der Fußboden war zum Teil mit Fliesen belegt, die sich jedoch schon abgelöst hatten oder zerbröckelten.

Die indische Familie schien sich wenig daran zu stören, sie begrüßten Kamal Singh wie einen guten Bekannten, waren freundlich zu den drei Deutschen und reichten ihnen sogar Tee in winzigen, schön bemalten Tässchen. Es gab nur wenige Möbel, man saß auf einer geflochtenen Matte am Boden, und auf den niedrigen Betten tummelten sich vier Kinder, das kleinste mochte noch kein Jahr alt sein.

Christian hielt seine Empörung zurück, bis sie wieder unten auf der Straße waren, dort teilte er Kamal Singh freundlich, aber entschieden mit, dass er nicht beabsichtige, diese Wohnung zu mieten. Dann entfernte er sich mit energischen Schritten in der festen Meinung, dass Charlotte und Klara ihm folgten. Doch er hatte sich getäuscht. Als er sich nach einer kleinen Weile umwandte, standen die beiden Frauen immer noch vor dem Geschäft des Inders, und er war gezwungen umzukehren.

»Was ist los? Willst du etwa in dieses Loch einziehen?«

»Ich will mir den Laden ansehen«, erklärte sie in festem Ton.

Kopfschüttelnd geduldete er sich. Der Laden war nicht mehr als ein kahler Raum mit schmutzigen, ehemals weiß getünchten Wänden. Ein wackliges Regal wollte der Vorbesitzer ihnen zurücklassen, vermutlich weil es die Reise in die Berge nicht überstehen würde, alles andere wollte er mitnehmen. Ein Vorhang teilte den hinteren Bereich des Ladens ab, dort lagerten Kisten und in Leinwand eingenähte Warenballen, die Kamal Singh gehörten. Wenn genügend Platz war, könnten sie dort ebenfalls ihre Sachen aufgewahren, wenn er den Raum jedoch benötigte, müssten sie ihn räumen.

»Du bist nicht recht gescheit!«, schimpfte Christian, als die beiden Frauen zu ihm zurückkehrten. »Dieser Bursche hat es nur auf unser Geld abgesehen. Schau ihn dir doch an!«

Charlotte war zornig, denn er hatte so laut gesprochen, dass Kamal Singh, der wieder in sein Geschäft zurückgekehrt war, ihn hören konnte.

»Ich will diese Wohnung und diesen Laden mieten, Christian!«

»Nicht mit meinem Einverständnis. Ich bin dein Ehemann, ohne meine Einwilligung kannst du keinen Vertrag unterschreiben. Falls du es vergessen haben solltest: Wir leben hier unter deutschem Recht!«

»Bitte«, sagte Klara verzweifelt. »Streitet doch nicht. Noch dazu mitten auf der Straße!«

»Und womit gedenkst du, unseren Lebensunterhalt zu bestreiten?«, fragte Charlotte wütend, ohne sich um Klaras Flehen zu kümmern. »Von deinem Traum, einmal eine Kaffeeplantage zu besitzen? Wann? In einem Jahr? In zehn Jahren? Sollen wir bis dahin verhungern?«

Ein heftiger Regenguss enthob Christian fürs Erste einer Antwort. Schleunigst flüchteten sie sich unter das ausgespannte Stoffdach eines Geschäfts. Dort verharrten sie einige Minuten schweigend, starrten in den strömenden Regen, der die Straße in einen sprudelnden Sturzbach verwandelte, und versuchten, ihre Kleidung vor den aufspritzenden Tropfen zu schützen. Christian war düsterer Stimmung, seine Hoffnung, einen Kredit zu erhalten, hatte sich gestern zerschlagen, er hatte auf die verdammte Cliquenwirtschaft geschimpft, die Herren von und zu, die sich gegenseitig Gelder und Ländereien zuschusterten und andere ausschlossen. Ebert, bei dem er sich beschwerte, hatte nur die Schultern gezuckt und ihm eine Stelle als Schreiber in der deutschen Verwaltung angeboten. Nicht allzu gut bezahlt, aber immerhin ein Anfang.

»Ich werde in Usambara schon einen Posten finden«, knurrte er schließlich. »Auf den Pflanzungen werden sie froh sein, einen Deutschen einstellen zu können. So werde ich mir Kenntnisse erwerben und Geld zusammensparen.«

»Das kannst du tun. Aber ohne mich!«

Er gab zu, dass er sie in diesem Fall sowieso nicht mitnehmen könne, auch Klara nicht. Aber es sei Wahnsinn, diesem Inder zu vertrauen, er sei ein Orientale und denke um die Ecke. Er habe sich bei Kunert erkundigt. Kamal Singh besaß mehrere Ladenhäuser in der Inderstraße, seine beiden Söhne waren ebenfalls Händler und lebten auf Sansibar, außerdem hatte er drei Schwiegersöhne, von denen einer in Bagamoyo, die anderen beiden irgendwo in Arabien saßen. Der Clan arbeitete gut zusammen und handelte gewiss nicht nur mit Wasserkesseln und Seidentüchern. Kunert wusste auch, dass der Inder mit den deutschen Behörden Ärger hatte; man hatte ihn zum Verkauf eines Hauses bewegen wollen, um es abzureißen – das sich beständig ausbreitende Inderviertel war der deutschen Verwaltung ein Dorn im Auge. Vermutlich handelte es sich genau um das Gebäude, das er jetzt an Charlotte vermieten wollte – ein kluger Schachzug von ihm. Wenn dort eine deutsche Familie wohnte, würden ihn die Behörden fürs Erste in Ruhe lassen.

»Und wenn schon. Ein Grund mehr für ihn, mich nicht zu betrügen!«

Sie hatte sich inzwischen nach dem Umrechnungskurs erkundigt. Eine Rupie war eine Mark dreiunddreißig wert, ein Pesa zwei Pfennige. Vierundsechzig Pesa gingen auf eine Rupie. Wenn er für ein Kopftuch fünf Rupien hatte haben wollen und dann sechs Mark von ihr verlangte, hatte er sehr zu ihren Gunsten umgerechnet.

Das feindselige Schweigen inmitten des prasselnden Unwetters tat Charlotte weh, sie war zu hart gewesen, sie wusste doch, wie sehr Christian unter seiner Enttäuschung litt. Besser, sie versuchte, ihn sanft zu überreden.

»Wenn du tatsächlich nach Usambara gehen willst, müssen Klara und ich irgendwo bleiben«, lenkte sie ein. »Schließlich können wir nicht Wochen und Monate im Postamt logieren, und das Hotel ist viel zu teuer. Da kommt diese Wohnung genau recht. Zumal du uns ganz sicher bald Geld schicken wirst.«

Der letzte Satz war hilfreich. Sie glaubte an ihn, vertraute darauf, dass er Erfolg haben würde. Wenn sie es tat, dann konnte auch er selbst an sich glauben. Seine düstere, verkrampfte Miene löste sich.

»Die Wohnung – gut. Aber nicht den Laden.«

»Er vermietet nur beides zusammen.«

Sie brauchte eine Weile, um ihn zu überzeugen, doch schließlich kapitulierte er vor ihrer Hartnäckigkeit. Gut, er würde sich nach der Miete erkundigen. Aber sie dürfe in seiner Abwesenheit keinesfalls teure Waren einkaufen, auf denen sie dann sitzen blieb. Und sich nicht etwa dazu hinreißen lassen, bei diesem Inder Schulden zu machen. Der würde ihnen ganz sicher das letzte Hemd nehmen.

Charlotte verkniff sich die boshaften Bemerkungen, die ihr auf der Zunge lagen, und sie gingen zu dritt zurück in Kamal Singhs Laden, um die Verhandlungen zu führen. Der Inder schien Christians beleidigende Worte nicht gehört zu haben, denn er behandelte ihn freundlich, wenngleich sein Lächeln schwer zu deuten war. Die Miete hatten sie wöchentlich zu entrichten, sie war aber erstaunlich niedrig, und so setzten sie einen Mitvertrag auf, der die Wohnung und einen Teil des darunter befindlichen Ladens umfasste. Charlotte bestand darauf, ihre Unterschrift neben die ihres Mannes zu setzen.

Christians Reise nach Usambara riss ein Loch in ihre Ersparnisse. Er würde mit dem Küstendampfer bis Tanga fahren, um sich dort einer Reisegruppe anzuschließen, die in die Usambaraberge zog. Dazu wollte er sich ein Maultier mieten oder kaufen, außerdem benötigte er Geld für Verpflegung und Unterkunft. Ansonsten wollte ihm die Ostafrikanische Gesellschaft hilfreich unter die Arme greifen: Deutsche Arbeitskräfte wurden gebraucht, wer arbeiten und es zu etwas bringen wolle, sei ihnen immer herzlich willkommen.

Als sie am Hafen voneinander Abschied nahmen, verspürte Charlotte herbe Gewissensbisse. Wie konnte sie ihn ganz allein fortlassen? War sie nicht seine Frau und hatte gelobt, immer an seiner Seite zu bleiben? Ach, wie sollte ein so weltfremder Träumer, wie er es war, dort in der Wildnis zurechtkommen?

»Schreib mir so bald wie möglich, ja?«, bat sie ihn.

Auch er war tief bewegt, doch er versuchte, seinen Kummer hinter gespielter Fröhlichkeit zu verbergen. Die Rupien, die sie ihm aufdrängen wollte, damit er nur rasch Post an sie senden konnte, wies er zurück, sie brauche das Geld für sich und Klara. Wenn er erst Fuß gefasst habe, würde er ihnen Reisegeld schicken, damit sie so rasch wie möglich nachkommen konnten.

»Pass mir gut auf Klara auf. Und nehmt das Chinin, das wir gekauft haben …«

»Sei vorsichtig, Christian. Es gibt Leoparden dort. Und Schlangen …«

Der kleine Postdampfer hatte am Landungssteg angelegt, die Glocke schrillte, es war Zeit. Als Christian sie umschlang, spürte Charlotte die Erschütterung in seiner Brust; er schluchzte, und auch sie konnte jetzt ihre Tränen nicht mehr zurückhalten.

»Vergib mir, Charlotte. Wenn wir wieder beisammen sind, wird alles anders werden. Wir werden nie wieder streiten. Ich liebe dich, mein Herz. Ich liebe dich so sehr …«

Er musste sich gewaltsam von ihr losreißen, sonst hätte er den Postdampfer nicht mehr erreicht. Vom Deck aus winkte er ihr zu, und als der Dampfer schon in den schmalen Kanal einfuhr, der den Hafen mit dem Ozean verband, sah sie noch immer sein weißes Taschentuch im Wind flattern. Dann verschwand das Schiff hinter dem dichten Palmenhain der evangelischen Missionsstation.

Charlotte verbrachte die folgenden Tage auf verschiedenen deutschen Ämtern, um die nötigen Papiere für die Eröffnung eines Geschäfts zu erlangen. Eine Woche später schickte Kamal Singh ihr einen Boten ins Postamt – Wohnung und Laden seien jetzt bezugsbereit. Es war eine erlösende Nachricht für die beiden Frauen, die sich im Postamt inzwischen wie lästige Störenfriede vorkamen. Sie hatten in eine Nebenkammer umziehen müssen, da Kunert sein Büro brauchte, um seinen Nachfolger einzuarbeiten. Er selbst saß schon auf gepackten Koffern – in wenigen Tagen würde die Bundesrath von ihrer Fahrt nach Delagoa-Bai und Mosambik wieder zurückkehren und über Daressalam die Rückreise nach Hamburg antreten.

In der Inderstraße wartete eine Überraschung auf sie. Kamal Singh hatte die Wände der Wohnung frisch übertünchen lassen, in dem größeren Raum lagen Teppiche am Boden, Öllampen hingen von den Decken herab, unter den Fenstern stand eine niedrige Truhe aus dunkelbraunem Holz, ein Bettgestell mit Polstern in einem der Schlafräume. In der Küche fanden sich etliche Kochgerätschaften, Geschirr, Eimer, sogar Kehrblech und Feger, dazu ein Bündel Holz, um Feuer zu machen. Vor allem aber hatte er einen Herd aufstellen lassen, der zwar fürchterlich verschrammt war, dafür aber ein Rohr besaß, das den Rauch aus dem Fensterchen ins Freie leitete. Angeblich gehörten diese Dinge zur Wohnung und standen ihnen zur Verfügung.

Charlotte bestand darauf, die Miete für die ersten beiden Wochen im Voraus zu entrichten, worüber er lächelnd den Kopf schüttelte, das Geld dann aber doch nahm. Dass sie im Stadthaus Rupien und Pesa eingetauscht hatte, gefiel ihm auch nicht, weshalb sie nicht zu ihm gekommen sei, er hätte ihr einen günstigeren Kurs gegeben.

Sie überließ es Klara, die wenigen Dinge einzuräumen, die sie in ihrem Koffer mitgebracht hatten, und saß stundenlang in Kamals Laden, half ihm, die Kunden zu bedienen, und bemühte sich, Suaheli zu lernen. Als er bemerkte, dass sie sich die Sätze und Ausdrücke auf einem Blatt Briefpapier notierte, verschwand er im Hintergrund seines Ladens und kehrte mit einem abgegriffenen Büchlein zurück.

»Wörterbuch der Suaheli-Sprache mit Grammatik«, entzifferte sie voller Überraschung. »Woher haben Sie das?«

Er zuckte die Schultern, was wohl so viel bedeutete, dass er sich nicht mehr genau erinnern könne, doch sie dürfe das Büchlein gern benutzen. Es war beim Orientalischen Seminar in Berlin gedruckt worden und ganz offensichtlich für den Gebrauch in einer evangelischen Mission bestimmt.

»Kluge Leute«, sagte er. »Sie haben drüben bei der Hafeneinfahrt ihre Missionsgebäude, züchten Gemüse und Obst und haben auch Kokospalmen. Es gibt eine Schule und eine Krankenstation. Sie behandeln alle, ohne Ausnahme.«

Charlotte begriff, dass er offensichtlich auch mit den evangelischen Missionaren Handel trieb. Er schien sie jedoch zu schätzen; in die Missionsschule gingen neben afrikanischen auch viele indische Kinder, das sei wichtig, erklärte er ihr, denn nur ein gebildeter Inder könne die Anerkennung der Deutschen gewinnen, vielleicht sogar eine Stelle in der Verwaltung bekommen. Von den katholischen Missionaren hielt er weniger, sie seien stolze Menschen, die nur ihren eigenen Glauben kannten und keinen anderen daneben gelten ließen. Er selbst war ein Sikh und besuchte den Tempel, der nördlich der Inderstraße gelegen war.

»Sie wollten mir helfen, Waren einzukaufen.«

»Sagen Sie mir, was Sie haben wollen.«

Sie war vorsichtig. Reis und Tee wurde immer gekauft, dazu hübsches Geschirr, aber nicht zu teuer, ein paar Haushaltswaren und Stoffe.

Er hörte schweigend zu und nickte vor sich hin, anscheinend fand diese Auswahl seine Billigung, allerdings merkte er an, dass ein paar »glänzende« Dinge nicht schlecht wären, ein wenig Schmuck, blitzende Windspiele – Sachen, die die Aufmerksamkeit auf sich zogen.

»Und Gewürze. Aber nur die gängigen. Und eine Nähmaschine.«

»Eine Nähmaschine?«

»Für meine Cousine. Sie kann sehr gut nähen.«

Er wiegte den Kopf und meinte, eine solche Maschine sei teuer und nicht leicht zu beschaffen, aber er wolle sich umsehen. Dann nannte er ihr die Einkaufspreise, schlug vor, welche Mengen sie kaufen solle und was sie daran verdienen könne. Charlotte rechnete alles im Kopf durch und musste schlucken – von ihren Ersparnissen würde nur wenig übrig bleiben. Die Handelsspanne war unterschiedlich, am geringsten bei den Lebensmitteln, die anderen Dinge brachten mehr ein. Aber die musste man erst mal verkaufen.

»Es wird schon gehen«, sprach er ihr Mut zu. »Für den Anfang auf jeden Fall. Später werden Sie bessere Geschäfte machen.«

Jetzt stellte sie auch fest, dass er mehrere Angestellte beschäftigte, vor allem Afrikaner, aber auch einige Inder. Sie tauchten hin und wieder im Laden auf, nahmen Aufträge entgegen und liefen wieder davon, manchmal blieb auch der eine oder andere, um die Kunden zu bedienen, während Kamal Singh sich mit Freunden in den hinteren Teil des Ladens zurückzog, um bei Tee oder Kaffee lange Gespräche zu führen.

Die bestellten Waren wurden noch am gleichen Nachmittag in ihren Laden geliefert. Afrikaner schleppten Säcke und Ballen auf dem Rücken, stellten die Sachen gehorsam dort ab, wo Charlotte sie haben wollte, und freuten sich wie die Könige, als sie einige Pesa Trinkgeld erhielten. Bald erschienen auch zwei junge Inder mit Tischen, einem Stuhl und mehreren Kisten und erklärten, Sahib Kamal Singh lasse anfragen, ob sie für diese leider etwas verstaubten und verschrammten Gegenstände eine Verwendung habe.

Nichts von alledem stimmte: Die Tische waren aus glattem Holz und hatten gedrechselte Beine, der Stuhl, der geschnitzte Seitenlehnen hatte und mit rotem, gemustertem Samt bezogen war, schien aus einem indischen Palast zu stammen, wenngleich er schon ein wenig abgenutzt war. Charlotte beschloss, sich über die Großzügigkeit des Inders vorerst keine weiteren Gedanken zu machen, rief Klara nach unten, und sie verbrachten den Rest des Tages damit, ihre Waren einzuräumen. Da sie die hölzernen Torflügel dabei offen ließen, stellten sich auch schon die ersten Kunden ein, und so hatten sie bis zum Abend drei Rupien und vierundzwanzig Pesa eingenommen.

Als sie sich kurz vor Einbruch der Dunkelheit mühten, die mehrfach zusammengeklappten Torflügel auseinanderzuziehen, um das Geschäft für die Nacht vor Einbrüchen zu sichern, erschien Kamal Singh höchstpersönlich, um ihnen zur Hand zu gehen.

»Gehen Sie am Abend oder in der Nacht niemals allein aus«, warnte er die Frauen. »Und wenn Sie es doch tun müssen – schaffen Sie sich einen Revolver an.«

Klara wurde blass – all die fürchterlichen Geschichten, die Tante Fanny immer von Dieben und Räubern erzählt hatte, die einer Frau Entsetzliches antun konnten, wurden in ihrer Phantasie wieder lebendig.

»Einen Revolver?«, fragte Charlotte, der ebenfalls beklommen zumute wurde.

»Für eine Frau ist das besser als ein Gewehr«, meinte er gleichmütig. »Am besten aber ist, Sie lassen sich in der Nacht von einem bewaffneten Diener begleiten.«

»Vielen Dank für den Rat. Wir werden keinen Fuß aus der Wohnung setzen, solange es dunkel ist.«

Er verbeugte sich mit ernster Miene und ging davon. Kamal Singh wohnte nicht in der Inderstraße, er besaß ein Haus, das weiter südlich nahe der Hauptstraße gelegen war. Kunert hatte erzählt, der Inder sei Witwer, es wohnten jedoch zahlreiche Verwandte oder Freunde bei ihm, außerdem bewirte er häufig Gäste oder Geschäftspartner, so genau könne man das nicht auseinanderhalten.

Ihre Abendmahlzeit bestand aus gekochtem Reis, gewürzt mit Salz und Kurkuma, dazu aßen sie eine Mango, die Charlotte einer Straßenhändlerin abgekauft hatte und die köstlich wie reifer Pfirsich schmeckte. In Ermangelung von Tisch und Stühlen saßen sie nebeneinander auf der Truhe, hielten die Teller auf dem Schoß und lauschten dem Regen, der heftig aufs Dach trommelte. Es war ein großartiges Gefühl, in einer eigenen Wohnung zu leben und sich bei niemandem für seine Anwesenheit entschuldigen zu müssen.

»Wenn wir erst eine Nähmaschine haben, kannst du aus den Stoffen hübsche Gewänder herstellen«, murmelte Charlotte, als sie neben Klara auf dem Bett lag.

»Aber ich habe noch nie auf einer Maschine genäht, Charlotte!«

Die Großmutter hatte der neuen Technik immer misstraut, solch teuren Schnickschnack brauchte man nicht, solange genügend Frauen im Haus waren, die die Nadel führen konnten.

»Das lernst du schnell. Sogar die Männer können es hier – hast du nicht gesehen, wie sie vor ihren Läden sitzen und die Nähte heruntersurren?«

So schläfrig Klara auch war – ihre Bedenken waren riesengroß, und sie musste sie loswerden.

»Aber ich kann mich doch nicht auf die Straße setzen, wo mir alle Leute bei der Arbeit zuschauen, Charlotte. Wenn ich schon nähe, dann will ich es still für mich irgendwo hinten im Laden tun.«

»Da ist es zu dunkel, Klara. Und außerdem sollen die Leute doch wissen, dass wir Kleider nähen, sonst bekommen wir keine Bestellungen.«

»Wir könnten doch ein Schild aufstellen …«

»Ein Schild?«, fragte Charlotte kichernd. »Und was willst du darauf schreiben? In welcher Sprache? Wo die meisten sowieso nicht lesen können …«

Sie hatten die Fenster im großen Zimmer offen gelassen. Es hatte jetzt aufgehört zu regnen, und die frische Luft war angenehm. Ein seltsamer Laut drang von draußen zu ihnen herein, ein Scharren und Kratzen, dann ein dumpfer Schlag.

»Was war das?«, flüsterte Klara verängstigt. »Doch wohl kein Dieb, der in unseren Laden einbrechen will?«

»Das war nicht bei uns, es ist weiter vorn …«

Holz splitterte, sie vernahmen ein Fauchen, dann ein tiefes, rasselndes Knurren, das ihnen das Blut in den Adern gefrieren ließ. Charlotte sprang von ihrem Lager auf und lief zum Fenster. Unten auf der Straße war jetzt Lärm, Fackeln wurden geschwenkt, Männer fuchtelten mit Knüppeln herum, brüllten, schalten, fluchten in allerlei Sprachen.

»Simba! Simba!«

Im Zwielicht sah Charlotte den hin- und herirrenden Schatten eines großen Tieres, ein dumpfes Grollen ertönte, dann ein tiefes, drohendes Brüllen. Die Männer wichen zurück, einer warf die brennende Fackel nach der Bestie, und im Lichtschein erkannte Charlotte das aufgerissene Maul und die wilden, glitzernden Augen einer Löwin. Sie fauchte zornig, dann drehte sie ab und trottete die Straße entlang, bis sie in der Dunkelheit verschwunden war.

Deshalb also sollten sie in der Nacht nicht auf die Straße gehen! Löwen drangen bei Dunkelheit bis in die Stadt hinein und versuchten, in Wohnungen und Geschäften allerlei Fressbares zu stehlen. Sie dachte wehmütig an den ausgestopften Löwenkopf, der vor vielen Jahren in Ohlsens Schaufenster gehangen hatte. Damals hatte sie geglaubt, der König der Savanne sei ein freier, edler Herrscher der afrikanischen Wildnis. Aber wie es schien, war diese große Katze nicht mehr als ein gemeiner Dieb und Aasfresser.

Himmel über dem Kilimandscharo
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