Kapitel 46

Berlin, Deutsches Reich,
Dezember 1916

Demy trug einen Stapel Teller an den Tischreihen entlang und stellte sie neben Henny ab, die soeben die Tischdecke glatt strich. Prüfend ließ diese ihren Blick über die im Foyer aufgestellten Tische und Stühle schweifen, ehe sie sich zweifelnd Demy zuwandte. »Bist du dir sicher, dass wir das tun können?«

»Das bin ich. Und es ist richtig, die Familien der Angestellten in dieser düsteren und grauen Weihnachtszeit zum Essen einzuladen.«

Henny lächelte, wenngleich der Zwiespalt ihrer Gefühle in ihrem Gesicht abzulesen war. Auch ihre Familie kam in den Genuss dieses Weihnachtsessens; gleichzeitig wusste sie um die prekäre finanzielle Lage der Meindorffs.

Lina und Anton balancierten Tabletts mit Geschirr zu ihnen, gefolgt von Margarete mit dem Besteck und ihrer Tochter Klara im Schlepptau, die mittlerweile auf ihren eigenen Beinen unterwegs war.

»Demy, schau bitte einmal in die Küche«, sagte Margarete. »Dieser Kutscher streitet wieder mit Maria. Er sieht diese Verschwendung nicht ein.«

»Er verteidigt die letzte Bastion der Herrschaft des Rittmeisters«, entgegnete Demy, nicht eben begeistert von der Aussicht, sich mit dem brummigen Bruno anlegen zu müssen. Sie war ihm dankbar, hatte er doch die Hilfestellungen für den Hausherrn übernommen, der nur noch für wenige Stunden am Tag sein Bett verließ. Bruno, seinem Dienstherrn sehr zugetan, machte deutlich, wie sehr es ihm gegen den Strich ging, dass drei Frauen das Regiment in diesem Haus führten, zumal zwei davon Bedienstete waren und die dritte eine Art Eindringling, wenn auch mit dem Pflegesohn Meindorffs verlobt.

»Ich könnte Hannes schicken, aber der schläft vermutlich«, murmelte Demy halblaut vor sich hin. Für sie war es die größte Weihnachtsüberraschung, dass Hannes seinen Heimaturlaub gemeinsam mit Edith und ihren Töchtern in diesem Haus verbrachte, das zu betreten ihm seit Jahren verwehrt gewesen war. Leichtgefallen war ihm diese Entscheidung nicht, das wusste Demy, umso mehr freute sie sich, ihn ein paar Tage hier zu haben.

Henny winkte ab und ergriff den Stapel Teller. »Bruno lässt sich auch von Hannes nichts sagen«, raunte sie ihr zu.

»Lassen Sie mich bitte die Teller tragen!«, tönte die tiefe Stimme von Theodor durch die Halle und ließ die beiden Frauen zusammenzucken. Selbst Demy hatte vergessen, dass Hannes seinen Freund am Vortag mitgebracht hatte.

Der Hauptmann eilte herbei und nahm der hilflos dreinblickenden Henny die Teller ab. »Ich möchte mich gern helfend einbringen, aber diese Maria hat mich förmlich aus der Küche gejagt!«

Demy und Henny lachten bei der Vorstellung, dass Maria einen Hauptmann und Adjutanten der kaiserlichen Armee aus ihrem Reich vertrieb, und Theodor sah die beiden fasziniert an. »Wie schön, Sie lachen zu hören«, meinte er und fügte hinzu: »Maria könnte natürlich auch diesen Kutscher gemeint haben, aber ich schloss mich seinem Rückzug aus strategischen Gründen an.«

»Eine weise Entscheidung«, pflichtete Henny bei, nahm die obersten zwei Teller und begann, die Tische einzudecken.

Demy verließ den Saal und betrat die Treppe in den ersten Stock. Ihr schwerster Gang stand ihr noch bevor, denn sie wollte den alten Meindorff bitten, an diesem Heiligabend mit ihnen allen gemeinsam zu speisen. Seit Tagen schob sie das Gespräch vor sich her, doch nun musste sie sich ihrem Wunsch stellen, den Rittmeister bei der Feierlichkeit dabeizuhaben.

Ihre Schritte wurden immer zögerlicher, je weiter sie sich dem Wohnzimmer der einstigen Hausherrin näherte. Vor der Tür, die Hand bereits auf der Klinke, verharrte sie, um ihre Entscheidung noch einmal zu überdenken. Ihre Beine fühlten sich schwach an, ihr Herz schlug schnell. Der Hausherr betrat kaum mehr das Erdgeschoss; für ihn wäre es also nichts Ungewöhnliches, seine Abendmahlzeit allein hier oben einzunehmen. Aber sollten er, Hannes, Edith und die Kinder nicht die Gelegenheit nutzen, endlich aufeinander zuzugehen, Versöhnung zu erleben und Frieden zu finden? Welcher Tag sollte dazu besser geeignet sein als der, an dem die Welt die Geburt des Friedensfürsten feierte?

Nach einem fahrigen Stoßgebet klopfte Demy an, drückte die Klinke hinunter und trat ein. Trotz des vom Arzt ausgesprochenen Rauchverbots hing der Geruch von Tabak im Raum, der seit dem Tod von Frau Meindorff keinerlei Veränderung erfahren hatte. Obwohl nun der Rittmeister das Zimmer als Aufenthaltsraum nutzte, saß er inmitten von Blümchentapeten, roséfarbenen Vorhängen und Spitzentischdecken.

»Was gibt es jetzt wieder?«, brummte der Mann, ohne sie anzusehen.

Demy trat über die knarrenden Parkettdielen zum Tisch, zog sich dort unaufgefordert einen hochbeinigen Stuhl heran und setzte sich dem Hausherrn gegenüber. »Heute ist Heiligabend, Herr Rittmeister. Wir haben unten im Foyer eine Festtafel vorbereitet und ich möchte Sie jetzt hinunterbegleiten.«

»Weshalb im Foyer?«, knurrte der Mann und blinzelte. Offenbar hatte er gedöst, als sie hereingekommen war.

»Die Familien der Angestellten sind heute zu Gast.«

»Die gehören in den Seitenflügel. Aber zumindest besitzt du den Anstand, sie von den Herrschaften zu trennen.«

Demy seufzte leise, ehe sie widersprach: »Nein, Herr Rittmeister. Für die Familie ist nicht im Speiseraum gedeckt, vielmehr sitzen wir alle zusammen. Zudem sind Hauptmann Theodor Birk, Ihr Sohn Hannes, seine Frau Edith und Ihre bezaubernden Enkelinnen Leni und Luisa anwesend. Von Joseph habe ich leider erneut keine Antwort auf meinen Brief erhalten, von Philippe und Albert …«

Die linke Faust des Mannes donnerte erstaunlich kräftig auf die breite Stuhllehne, wo er sie zitternd beließ. »Denkst du, mir entgeht, was du hinter meinem Rücken treibst? Diese vielen Fremden in meinem Haus, diese Edith und ihre Kinder. Ich sah sie oft genug im Garten oder hörte sie im Haus.«

»Es ist Ihre Familie, Herr Rittmeister. Edith ist eine wunderbare und warmherzige Frau und Ihre Enkelinnen würden Sie so gern kennenlernen!«

»Das mag sein«, erwiderte der Mann zu Demys Verwunderung erstaunlich milde.

»Dann darf ich Sie hinunterbegleiten?«

Sein Blick lag geraume Zeit auf ihrem Gesicht, und diesmal hielt Demy seinem durchdringenden Blick stand, wagte sogar ein Lächeln.

»Du imponierst mir jeden Tag mehr«, sagte er plötzlich und schaute dann zum Fenster hinaus, wo die Wolken am abendlichen Himmel weiteren Schneefall ankündigten. Demy hielt es für das Beste zu schweigen.

»Ich komme nicht, auch wenn du jetzt ein enttäuschtes Gesicht machst und die Nase in Falten legst. Ich habe Hannes und seine Familie aus gutem Grund aus diesem Haus und meiner Gegenwart verbannt, und diese Entscheidung bin ich nicht gewillt zurückzunehmen.«

»Seien Sie barmherzig, Herr Rittmeister. Ihrer Familie, vor allem aber sich selbst gegenüber. Sie berauben sich …«

»Halt den Mund!«, fuhr der Mann sie derb an und Demy zuckte zusammen. »Ich war mein Leben lang erfolgreich, weil meine Geschäftspartner wussten, dass ich zu meinem Wort stehe. Ich ziehe nichts zurück, was ich gesagt oder veranlasst habe!«

»Hier geht es nicht um eine geschäftliche Transaktion, sondern um Ihre Familie und die letzten Jahre Ihres Lebens!«

»Raus!«, brüllte Meindorff. Er hob seine zitternde Hand und deutete unmissverständlich in Richtung Tür.

Demy gingen eine Menge Argumente, Bitten und Drohungen durch den Kopf, doch sie unterdrückte sie. Diesem halsstarrigen Mann war mit nichts beizukommen, das ahnte sie. »Es tut mir sehr leid. Für Sie und für Hannes’ Familie. Sie alle hätten Besseres verdient.« Demy erhob sich und trat zur Tür. Dort angekommen drehte sie sich noch mal um und musterte das Profil des Hausherrn, der stur aus dem Fenster sah. »Bruno wird Ihnen Ihr Essen bringen.«

Sie verließ das Zimmer, schloss die Tür und lehnte sich von außen dagegen. Ihre Gedanken, schwer und kalt wie Steine, wanderten zu ihrem Vater, den sie geliebt und bewundert hatte, bis Tilla ihr die schreckliche Wahrheit über ihn offenbart hatte. Ob er eines Tages in der Lage gewesen wäre, sich zu entschuldigen?

Demy stieß sich von der Tür ab und betrat die seit über einem Jahr leer stehenden Zimmer von Tilla. Sie konnte nicht behaupten, dass sie ihre verstorbene Schwester in ihrem übervollen arbeitsamen Alltag sehr vermisste. In den letzten Jahren hatten sie sich nicht sonderlich gut verstanden, und zuletzt hatte Tilla sich in diesem Haus auffällig rargemacht. Aber in Momenten wie diesen, wenn sie unsicher war, Kummer hatte oder ein besonderer Festtag anstand, dann sehnte sie sich schrecklich nach Tilla und Anki. Am meisten vermisste sie ein aufmunterndes Wort, eine tröstende Geste und eine Umarmung. Aber es war wohl ihr Schicksal, sich allein durchschlagen zu müssen.

Demys Hand glitt über die Bibel auf Tillas Nachttisch. Das Buch mit dem wertvollen Goldschnitt hatte dort gelegen, als sie Tilla tot aufgefunden hatte, was ein großer Trost für sie gewesen war. Am Ende ihres Lebens, das Tilla zu einer von Verletzungen und Schuld geprägten Gejagten gemacht hatte, mochte sie bei Gott Frieden gefunden haben. Demy sah weder in Tilla noch in ihrem Vater Verbrecher, sondern Menschen, deren Lebenspfade von tiefen Schluchten durchzogen gewesen waren, ohne dass sie einen Weg hinübergefunden hatten. Tilla jedoch hatte hoffentlich am Ende ihres Lebens die einzig wichtige Brücke entdeckt: die hinüber in Gottes liebende und vergebende Arme.

In der offen stehenden Tür bewegte sich etwas, was Demy veranlasste sich umzudrehen. Hannes lehnte an der Zarge, hatte die Arme vor seinem Uniformrock verschränkt und schien sie bereits längere Zeit zu beobachten. »Na, meine Kleine, was beschäftigt dich?«

»Die Menschen.«

»Und ihre Abgründe?«

Demy lächelte. Als Soldat hatte er vermutlich tagtäglich in viele schreckliche Abgründe geblickt, ohne dass sie ihn bisher mit in die Tiefe ziehen konnten. Er war aber von einem leichtlebigen, nur auf sich selbst konzentrierten Burschen zu einem verantwortungsbewussten Ehemann, Vater und Leutnant gereift.

»Vielmehr denke ich an die Gelegenheiten, die diese Abgründe bergen, und ob wir sie wahrnehmen oder ungenutzt verstreichen lassen.«

»Du kannst niemanden zu seinem Glück zwingen. Dir bleibt nur die Möglichkeit, dem anderen so lange deine Liebe zu schenken, bis er sie akzeptiert und sich dadurch verändern lässt.«

Demy rümpfte die Nase und fragte sich, ob Hannes ihr Gespräch mit dem Rittmeister mitgehört hatte oder ob er zumindest ahnte, woher sie kam.

»Und jetzt komm, zwei sehr aufgeregte junge Damen waren auf der Suche nach Edith, dir und mir, da inzwischen fast alle Gäste eingetroffen sind.« Hannes bot ihr galant seinen Arm, und so ließ sie sich von ihm die Stufen hinab ins Foyer geleiten.

Mit vor Staunen aufgerissenen Augen blieb Demy in der Tür stehen. Zum ersten Mal seit Langem waren die Kronleuchter wieder mit Kerzen bestückt worden, wenngleich an ihrer Anzahl gespart worden war. Der Raum erstrahlte in feierlichem Licht, selbst die Kerzen an dem schlanken, großen Weihnachtsbaum waren bereits angezündet worden. Entlang der Tischreihen saßen festlich herausgeputzte Gäste, einige von ihnen standen noch an der Treppe zum Vorfoyer und unterhielten sich fröhlich. Demy überkam ein berauschendes Gefühl. Es war eine Freude, das Ehepaar Anton und Lina Daul gemeinsam mit Margarete und ihrer Tochter im Gespräch mit den Angestellten zu sehen. Maria, Theodor und Edith bemühten sich gemeinsam um ihre Findlingsgäste.

Demy versuchte sich an die längst vergangenen Festlichkeiten in diesem Saal zurückzuerinnern, doch es gelang ihr nur schwer. Damals hatte sie sich völlig fehl am Platz gefühlt, denn die Herrschaften in ihren steifen Fracks und kostbaren Kleidern hatten sie eingeschüchtert. Heute war alles ganz anders.

Wilhelmine, Hennys jüngere Schwester und eine von Demys Schülerinnen, lief auf sie zu und umarmte sie stürmisch zur Begrüßung. Dabei fiel Demys Blick auf Willi und Peter. Die Brüder lungerten im kleinen Foyer nahe der Tür herum und warteten auf ihre Schwester Lieselotte. Allerdings vergeblich, so befürchtete Demy. Ihre einstige Freundin hatte die Zwillinge, seit sie diese hier abgeliefert hatte, nur jeweils an ihrem Geburtstag für ein paar Stunden auf einen Ausflug mitgenommen, um anschließend wieder in ihrer eigenen Welt unterzutauchen.

Hannes, den Demy gebeten hatte, die Regie zu übernehmen, klatschte mehrmals in die Hände und bat die Gäste auf ihre Plätze. Wilhelmine huschte schnell zwischen ihre Eltern und Henny, während Peter und Willi sich mit enttäuschten Gesichtern zu Nathanael, Pauline und Irma, Monika und ihrem Kind und dem alten Viktor Müller setzten.

»Ich will es kurz machen, immerhin haben wir eine von Maria Degenhardt und ihren Helfern wunderbar zubereitete Mahlzeit vor uns«, begann Hannes seine Ansprache.

Demy lächelte Edith zu. Ihr Mann machte sich gut als Hausherr.

»Herzlichen Dank an diese Küchenmannschaft, vor allem aber an meine kleine Schwester Demy für die großartige Idee, Heiligabend gemeinsam zu begehen. Und nun bitte ich Demys Pflegesohn Nathanael darum, das Tischgebet mit uns zu sprechen.«

Noch ehe Beifall aufbranden konnte, drang das vernehmliche Verschieben eines Stuhls durch die Halle und der Achtjährige erhob sich. Ohne Scheu dankte er für die Speisen und setzte sich ebenso geräuschvoll wieder, wie er aufgestanden war.

Für einen Moment herrschte Stille, doch dann nahm man die zuvor unterbrochenen Gespräche wieder auf und genoss das einfache, aber herrlich deftig schmeckende Kartoffelgericht.

***

Philippe folgte Albert in einigem Abstand die Stufen hinauf. Sein Blick blieb an einer zusammengekauerten Gestalt neben dem Portal hängen, und während Albert die Tür aufriss und sein Zuhause betrat, wandte der Pilot sich der einsamen Person zu. Als er vor ihr in die Hocke ging, bemerkte er zum einen, dass es sich um ein junges Mädchen handelte, zum anderen, dass ihre Lippen vor Kälte blau waren und sie wie Espenlaub zitterte.

»Wie lange sitzt du schon hier?«

»Nicht lange.«

»Wie heißt du?«

»Grete.«

»Und was tust du hier?«

»Ich weiß, dass man hier manchmal etwas zu essen bekommt. Ich dachte, ich warte und vielleicht wirft nachher jemand etwas in den Müll.«

Philippe runzelte die Stirn, betrachtete die beiden unterschiedlichen Stiefel des Mädchens, den fadenscheinigen Rock und den viel zu langen, schäbigen Mantel, in den sie sich gehüllt hatte.

»Du wirst erfrieren, wenn du bei dieser Kälte draußen hockst«, merkte Philippe an. Zwei dunkelbraune Augen mit kleinen, hellen Sprenkeln darin sahen ihn gleichgültig an. Es waren diese Augen, die Philippe faszinierten. Sie glichen Udakos. Es dauerte geraume Zeit, bis er realisierte, dass der Schmerz, der über Jahre bei jedem Gedanken an seine verstorbene Verlobte sein Herz ergriffen und darin getobt hatte, einer sanften Traurigkeit gewichen war. »Komm mit hinein«, forderte er das Mädchen auf.

»Das kann ich nicht.«

»Ich lade dich ein.«

»Wer sind Sie denn?«

»Ich bin in diesem Haus aufgewachsen. Ich darf also getrost einen Gast mitbringen.«

»Ich bin nicht so fein angezogen wie die anderen.«

»Das stört niemanden, glaub mir.«

»Nein.«

Philippe erhob sich. Er wollte nicht weiter auf das Mädchen einreden, da er fürchtete, es könne weglaufen. »Dann warte hier, in Ordnung?« Er verharrte, bis die etwa Zehnjährige zustimmend genickt hatte, ehe er durch die nur angelehnte Tür das Haus betrat.

Fröhliches Gelächter und angenehme Wärme, dazu würziger Essensduft schlugen ihm entgegen. Die Garderobe quoll von einfachen, aber gepflegten Mänteln und Jacken über. Mützen, Schals und selbst gestrickte Handschuhe vervollkommneten Philippes Verdacht, dass Demy zu einer in diesem Haus eher ungewöhnlichen Gesellschaft geladen hatte.

Ohne seine fellgefütterte Fliegerjacke auszuziehen durchschritt er das Vorfoyer und sprang die Stufen in die Halle hinauf. Sein Erstaunen war groß, als er sowohl Hannes als auch Edith unter den Gästen entdeckte. Ob Demy die Dreistigkeit besessen hatte, den Rittmeister in seinem Zimmer einzusperren?

Philippes Augen suchten die junge Frau und fanden sie im Gespräch mit einem stattlichen, ihm unbekannten Stabsoffizier mit Adjutantenschärpe. In diesem Augenblick lachte sie fröhlich auf, und der Mann legte seinen Arm hinter ihrem Rücken auf ihre Stuhllehne.

Philippe runzelte die Stirn. Als verlobte Frau sollte sie Zuneigungsbekundungen dieser Art eigentlich unterbinden. Mit festem Schritt ging er auf sie zu und stützte sich auf die Rückenlehne ihres Stuhls, sodass der Fremde seinen Arm zurückziehen musste. Der erstaunlich junge Hauptmann zog sich höflich zurück, um Demy mehr Raum zu geben, und sie erhob sich.

»Sie?«, fragte sie erstaunt und lächelte dann Albert an, der in diesem Augenblick Hannes, seine Ehefrau und die beiden Mädchen begrüßte.

»Mein Flugschüler und ich dachten, es sei eine gute Idee, die Feiertage hier zu verbringen«, erklärte er und warf dem Fremden einen argwöhnischen Blick zu.

»Ihr Flugschüler?« Demys Nase kräuselte sich missbilligend.

»Das war nicht meine Idee. Sie brauchen also nicht sofort über mich herzufallen. Aber ich möchte Sie bitten, mich einen Moment vor die Tür zu begleiten.«

Der Hauptmann, der unfreiwillig Zeuge ihres Gesprächs wurde, räusperte sich vernehmlich, was Philippe veranlasste, die Augenbrauen in die Höhe zu ziehen und sich dem Mann zuzuwenden.

»Entschuldigung«, stammelte Demy, und Philippe fragte sich, ob er die Spur eines schlechten Gewissens aus ihrer Stimme heraushörte. »Darf ich vorstellen: Hauptmann Theodor Birk, der Trauzeuge von Hannes. Dies ist Oberleutnant Philippe Meindorff.«

Philippe grüßte den Ranghöheren militärisch, weshalb Birk es ihm gleichtat, ehe er ihm auch noch die Hand anbot. Mit keinem Wort ließ der Hauptmann durchblicken, ob ihm das Verhältnis zwischen Demy und Philippe bekannt war.

Nach dieser eher unterkühlten Vorstellung wandte sich Demy Philippe zu. »Warum soll ich mit Ihnen hinausgehen?«, fragte sie. Philippe runzelte die Stirn und überlegte, ob sie neuerdings in seiner Gegenwart doch Furcht empfand. Immerhin war er gerade nicht sehr freundlich aufgetreten. Doch ihre nächsten Worte wischten seine Bedenken beiseite.

»Sie haben doch nicht etwa ein Geschenk für mich?«

Philippe starrte sie einen Augenblick irritiert an, bevor er den Kopf schüttelte. Tatsächlich hatte er überlegt, ihr als seiner Verlobten ein Geschenk mitzubringen, doch ihm war nichts Passendes eingefallen. Letztendlich hatte er seine Überlegungen mit der Begründung beiseitegeschoben, dass sie ein Präsent von ihm vermutlich nicht einmal annehmen würde.

»Kommen Sie bitte.« Er drehte sich um, vergewisserte sich aber nach einigen Schritten, ob die eigenwillige junge Frau ihm auch folgte. Gemeinsam verließen sie das Gebäude. Im Freien empfing sie eine unangenehme Eiseskälte, die Demy die Arme um ihren Oberkörper schlingen ließ.

»Gleich rechts von Ihnen«, flüsterte Philippe und deutete mit einer Kopfbewegung zu der zusammengekauerten Gestalt. Er beobachtete, wie Demy sich ungeachtet ihres guten Kleides neben Grete setzte, den Arm um sie legte und über einen langen Zeitraum leise mit ihr sprach. Schließlich erhoben sie sich, und Demy öffnete für Grete die Tür. Auf der Schwelle drehte die junge Frau sich zu Philippe um und kam ihm sehr nahe, als sie ihm zuraunte: »Das ist das schönste Geschenk, das Sie mir machen konnten, Philippe. Ein Kind weniger, das in dieser Nacht in den Straßen Berlins verhungert oder erfriert!«

Die Tür fiel vor ihm ins Schloss, als Demy ihrem neuesten Schützling folgte. Philippe starrte auf die Schmuckverzierungen und die vereisten Glasfenster. Sie hatte ihn das erste Mal bei seinem Vornamen genannt und dabei die französische Aussprache gewählt, die mit ihrem niederländischen Akzent einen beinahe zärtlichen Klang enthielt. Beides gefiel ihm.

Er lächelte in die eisige Nacht hinein und folgte Demy und Grete in den Festsaal. Dort beobachtete er, wie Demy, den Arm um die verschüchterte Grete gelegt, Henny energisch zu ihrer Familie zurückschickte und allein mit dem Findling in den Seitenflügel verschwand. Eigentlich wollte er ihnen folgen, doch Hannes und seine Familie entdeckten ihn und hielten ihn auf, anschließend nahm Maria ihn in Beschlag. Er versprach der Haushälterin, ihren herrlich duftenden Kartoffelauflauf zu probieren, sobald er aus dem Seitenflügel zurück war. Maria, der man die schmalen Essensrationen ansah, entließ ihn, und er betrat den Anbau.

Eine wütende männliche Stimme ließ ihn aufhorchen. Sie war unschwer dem Kutscher Bruno zuzuordnen, allerdings fragte Philippe sich, wen dieser so lautstark der Verschwendung und der Herrschsucht bezichtigte. Er näherte sich der Küche und entdeckte dort Grete, die ängstlich in einer Ecke kauerte. Vor ihr stand Demy wie ein Racheengel mit rotem Gesicht und energisch in die Hüfte gestemmten Händen. Sie versuchte offensichtlich dem Kutscher klarzumachen, dass er ohne die landwirtschaftlichen Bemühungen von Maria, Henny und ihrer Wenigkeit überhaupt keinen Bissen Essen mehr zwischen den Zähnen hätte.

»Verstehen Sie denn nicht? Seit wir verschenken, bekommen wir umso mehr geschenkt. Zwei reiche Ernten hintereinander auf unseren kleinen und nur von Laien bewirtschafteten Anbauflächen kommen einem Wunder gleich. Gott wird auch dieses Kind durchfüttern und …«

»Halten Sie doch endlich den Mund!«, brüllte Bruno die junge Frau an. »Ich würde ja Herrn Hans auf Sie ansetzen, wenn ich nicht wüsste, dass das nichts bringt. Vielleicht ist der junge Herr Albert Manns genug, Sie und Ihre Brut aus dem Haus zu schmeißen!«

»Sie könnten es mit Joseph versuchen, Bruno! Er hat sicher nichts dagegen, die van Campens zu verjagen. Aber der hat sich mit Müh und Not zur Beerdigung seiner Frau eingefunden und ist seitdem wieder untergetaucht«, funkelte Demy den Kutscher wütend an.

»Ich lasse nicht zu, dass Sie noch länger Ihr Unwesen in diesem Haus treiben und alles zerstören, was Generationen der Meindorffs …«

»Und ich lasse nicht zu, dass Sie meine Verlobte noch länger beschimpfen!«

Sowohl Bruno als auch Demy fuhren erschrocken zu Philippe herum.

Grete rutschte zu ihm und klammerte sich Schutz suchend an sein rechtes Bein.

»Packen Sie Ihre Sachen und verlassen Sie das Haus!«, befahl Philippe. Seine Wut auf den Mann wuchs zunehmend. Was fiel dem Kerl ein, eine Frau dermaßen unhöflich anzugehen, zumal es sich auch noch um Demy handelte …

»Nein, Bruno soll bleiben«, fiel Demy ihm in den Rücken. »Der Herr Rittmeister braucht einen Freund an seiner Seite«, versuchte sie zu erklären. Im Licht der elektrischen Deckenlampe entdeckte er die Spuren harter Arbeit an ihren bittend erhobenen Händen.

Bruno nahm Demys Widerspruch zum Anlass, um die Küche zu verlassen. Er ging nicht zurück zu den Feiernden, sondern verschwand in die entgegengesetzte Richtung. Vermutlich war er auf dem Weg in seine Kammer.

»Ich werde schon mit ihm fertig«, sagte Demy erstaunlich gelassen. »Er regt sich immer schnell auf, aber er vertritt die Interessen des Rittmeisters. Und er pflegt ihn. Ich möchte ungern auf seine Hilfe verzichten, zumal er – außer dem Herrn Rittmeister – der einzige Mann im Haus ist.«

Philippe presste unwillig die Lippen zusammen. »Sie haben genug um die Ohren, auch ohne dass Ihnen jemand Steine in den Weg legt und womöglich irgendwann in den Rücken fällt.«

»Bruno ist nicht dumm. Er weiß, wenn er das jetzige System zerstört, wird auch er untergehen.«

»So hörte sich seine Argumentation für mich aber nicht an.«

»Vielleicht kenne ich ihn inzwischen besser als Sie.«

Aus Sorge um sie und weil sie ihn so herausfordernd anblitzte, nahm er, wie er es bereits einmal getan hatte, ihr Gesicht in seine Hände. So konnte sie wenigstens nicht weglaufen und musste ihm zuhören. »Ich weiß längst nicht alles, was hier geschieht und welchen Kämpfen Sie ausgesetzt sind, schwarzes Schäfchen. Aber ich möchte nochmals ausdrücklich darauf hinweisen, dass Sie sich jederzeit an mich wenden können, falls Sie Hilfe benötigen.«

»Das weiß ich, und ich werde es beherzigen.«

»Davon bin ich nicht überzeugt.«

»Das dürfte aber Ihr Problem sein.« Damit entzog sie sich seiner Berührung und ging vor der verstörten kleinen Grete in die Knie.

Noch immer zögerte er, sich endgültig abzuwenden, aber letztlich rang er sich dazu durch. Langsam stieg er die Stufen in den ersten Stock zu seinem Pflegevater hinauf. Seine Gedanken jedoch blieben bei Demy. Er fühlte eine angenehme Zufriedenheit in sich; eine neugeborene Vorfreude auf ein Wiedersehen mit ihr. Bei der Erinnerung daran, wie nah sie ihm gewesen war, wie stark ihr Blick ihn aufgewühlt, wie intensiv er die Berührung empfunden hatte, als er ihr Gesicht berührt hatte, spürte er ein verloren geglaubtes Feuer in sich aufflackern.

Philippe lächelte. Er war mit einer aufregenden Frau verlobt, und sein Herz war bereit, sich nach dem Verlust von Udako wieder neu zu verlieben.