Kapitel 37

Schwerin-Görries, Deutsches Reich,
April 1915

Das Knattern von Motoren, der Geruch nach Benzin und aufgeregtes Stimmengewirr ließen Demy vor einer der Fabrikhallen innehalten. Vorsichtig trat sie durch das Tor und sah sich um. Inmitten einer Menschenmenge aus Uniformierten, lässig gekleideten Piloten und Männern in viel zu warmen Gehröcken und schwarzen Zylindern entdeckte sie den breit grinsenden Anthony. Der trug zwar für diesen offenbar offiziellen Termin eine modische Anzughose, ein weißes Hemd und eine Weste, jedoch baumelte ihm die Krawatte schief am Hals und er hatte – obwohl Fotos geschossen wurden – seine Hemdsärmel weit nach oben gekrempelt. Es war nicht zu übersehen, dass Anthony den Rummel um seine Person genoss; dabei kam das Grübchen in seinem rundlichen Kinn noch deutlicher als sonst zur Geltung.

Demy hingegen missfiel die große Menge aufgeregter Menschen, wollte sie doch mit Philippe sprechen, der sich laut Anthonys Telegramm seit dem Vortag wieder in Schwerin aufhielt.

»Fräulein van Campen?«

Demy drehte sich um und benötigte einen Augenblick, ehe sie in dem jungen Mann Ernst Würth erkannte, einen der Männer vom Straßburger Flugplatz. Dieser trug nun eine Uniform, die ihn als Unteroffizier auswies, und hatte trotz der Hitze einen Pilotenschal lässig über der Schulter hängen.

»Wieder nüchtern?«, rutschte es Demy heraus und Ernst lachte schallend, was ihnen die Aufmerksamkeit von einigen Vertretern der Presse sowie Anthony einbrachte. Dieser grinste Demy an und deutete mit dem Daumen über seine Schulter in die Werkshalle, wohl um ihr zu signalisieren, dass sich Philippe irgendwo dort hinten versteckt hatte. Ob vor ihr oder der bunt gemischten Versammlung rund um eine eigenwillige Konstruktion mit einem Maschinengewehr und einem Flugzeugpropeller, blieb unklar.

»Meine Güte, war das damals ein Kater. Ich erwachte übrigens Stunden später in diesem Auto, als es zu regnen begann.«

»Und was tun Sie hier in Schwerin?«

»Ich bin einer von Philippes Flugschülern! Endlich!« Die Begeisterung war dem jungen Mann deutlich anzusehen. »Sie suchen Ihren Verlobten, nicht?«

»Richtig, Herr Unteroffizier.«

»Bitte, Fräulein van Campen. Für Sie nur Ernst.«

»Dann müssen Sie mich aber auch beim Vornamen nennen.«

»Darauf hatte ich spekuliert!«, lachte Ernst, bot ihr seinen Arm und brachte sie zu einem Nebeneingang, durch den sie die gewaltige Halle betraten. Auf dem Weg bemerkte Demy, dass sich seit ihrem letzten Aufenthalt die Anzahl der Werkshallen erneut erhöht hatte. Fokker baute ständig neu, sowohl hier in Görries als auch in Schwerin. Er kaufte Zuliefererfirmen wie Pianohersteller, die ihm seine Holzzuschnitte anfertigten, dazu Waffenfabriken, und streckte inzwischen die Finger auch in Richtung Motorengesellschaften aus.

Demy entdeckte Philippe, der sich mit im Nacken verschränkten Händen, einer typischen Körperhaltung von ihm, an einen Stützpfeiler der Halle lehnte und die Aufregung um Fokker gelassen beobachtete. Bei ihm befanden sich einige Mechaniker und Ingenieure, von denen Demy den einen oder anderen zumindest vom Sehen kannte. Einer von ihnen boxte Philippe in die Seite und deutete mit dem schmutzigen Lappen in seiner Linken in ihre Richtung.

Philippe musterte sie ausführlich, wobei sein Blick wieder einmal bedrohlich und düster wirkte, ehe er sich abstieß und ohne Eile auf sie zukam.

»Wen hast du denn da aus einer der Maschinen ziehen müssen?«, wendete er sich an seinen Flugschüler.

»Ich konnte sie gerade noch davon abhalten, die Startbahn entlangzubrausen!«, gab der zurück, warf Demy dabei aber einen entschuldigenden Blick zu. Diese reagierte mit einem übertrieben breiten Lächeln. »Ich verschwinde mal lieber. War nett, Sie getroffen zu haben, Demy!«

»Was führt Sie hierher?«, lautete Philippes wenig freundliche Begrüßung.

»Wird der Junge sich demnächst ebenfalls in den Luftkrieg stürzen?«

»Er macht auf eigenen Wunsch die Pilotenprüfung und später dann die Prüfung zum Feldpiloten. Ich zwinge ihn nicht dazu, falls Sie diesen Verdacht hegen.«

»Das nahm ich nicht an«, meinte Demy versöhnlicher gestimmt. »Gut, dass Sie wieder hier sind.«

Über Philippes Gesicht huschte ein freches Grinsen. »Sie haben mich doch nicht etwa vermisst?«

»Vermisst ist ein starkes Wort, Herr Oberleutnant«, gab Demy zurück und beobachtete erfreut, wie er zusammenzuckte, als sie ihn mit seinem Rang ansprach. Offenbar reichte das noch immer aus, um den Mann zu ärgern. Sie nahm ihren schweren Rucksack von den Schultern und drückte ihn Philippe mit viel Schwung gegen die Brust, sodass dieser gar nicht anders konnte, als nach ihm zu greifen. »Was ist das?«

»Die Korrespondenz von Meindorff-Elektrik und der MeindorffBrauerei.«

»Soll ich damit meinen Kamin anheizen?«

»Das hätte ich selbst tun können. Glauben Sie mir, aus diesem Grund schleppe ich die Briefe und Akten nicht von Berlin bis nach Schwerin.«

»Was ist geschehen?«

Demy erzählte Philippe vom erneuten Zusammenbruch des Rittmeisters, von Tillas Abwesenheit, dem durchaus begründeten Desinteresse von Hannes an den geschäftlichen Angelegenheiten und der ausbleibenden Reaktion Josephs auf ihre Briefe. In dieser Zeit lehnte Philippe sich erneut mit hinter dem Kopf verschränkten Armen gegen einen Hallenpfeiler und hörte ihr schweigend zu, obwohl er seine Augen auf die Versammlung um Anthony gerichtet hielt. Auch als sie geendet hatte, dauerte sein Schweigen geraume Zeit an, bis er sich endlich von dem Holzpfeiler abstieß.

»Ihr Landsmann präsentiert den Militärs gerade seine neue Erfindung«, erklärte Philippe der irritierten Demy. »Bereits seit Wochen bereiten französische Flugzeuge unseren Kampfpiloten Probleme. Ein paar Flieger der Aéronautique Militaire können durch den Propellerkreis feuern, ohne ihre eigenen Propeller zu Brennholz zu schießen. Ich trieb mich zwei Wochen in Frankreich herum, um herauszufinden, ob irgendwo Pläne über den Mechanismus oder die Konstruktion selbst aufzutreiben sind, doch ohne nennenswerten Erfolg. Dann kam der Durchbruch: Ein französischer Pilot musste hinter der Front notlanden und kam nicht mehr dazu, seine Maschine zu verbrennen. Das Flugzeug, speziell aber diese Vorrichtung, wurde zu Fokker gebracht und voilà – innerhalb von nur zwei Tagen präsentiert Fokker ein synchronisiertes Maschinengewehr, das immer nur dann schießt, wenn der präparierte, schnell drehende Propeller ein Durchschießen erlaubt30

Demys Blick ruhte verwirrt auf Philippe, da sie die Geschichte zwar durchaus faszinierte, vor allem die Tatsache, dass er es gewagt haben musste, mit einem Flugzeug durch den deutschen und französischen Luftraum zu brechen. Andererseits verstand sie seinen plötzlichen Themenwechsel nicht.

»Fräulein Demy«, fuhr der Pilot fort, ohne die aufgeregt diskutierenden Militärs und Anthony aus den Augen zu lassen. »Fokker heckte diese bahnbrechende Erfindung keineswegs in zwei Tagen aus. Sehen Sie dort hinten den Mann mit der karierten Schirmmütze?« Automatisch folgte Demy Philippes Blick und bemerkte etwas abseits einen Arbeiter, der sich keinen Deut für das Geschehen vorn in der Halle zu interessieren schien.

»Das ist Heinrich Lübbe. Er ist Fokkers Waffenfachmann und arbeitet mit Kurt Heber seit Wochen an einem Unterbrechergetriebe. Angesichts dieser Vorlagen und dem erbeuteten Flugzeug gelang es ihnen gemeinsam mit Fokker, die Apparatur fertigzustellen.« Philippe deutete mit dem Kinn auf das Synchronisationsmaschinengewehr, um das sich die Neugierigen noch immer scharten.

»Anthony schmückt sich mit fremden Federn?«

»Fokker ist ein Tüftler, ein Arbeitstier, dazu Geschäftsmann und nicht wenig eitel. Dies ist sein Unternehmen. Er wird hofiert, hat vor Kurzem sogar die deutsche Staatsbürgerschaft aufgedrängt bekommen und ist vermutlich nicht verpflichtet, Lübbe und Heber zu erwähnen.«

»Und?«

Philippe wandte sich ihr zu. »Ich bin Pilot, Flugzeugbauer, Ingenieur, zwangsweise wieder Soldat und wohl noch einiges mehr. Aber ich bin kein Buchhalter, kein Unternehmer, nicht der Erbe des Rittmeisters und schon gar nicht Josephs Kindermädchen. Fokker konnte verbessern, was Lübbe und Heber ausgetüftelt haben. Ich kann nur verschlechtern, was die Meindorff-Männer ins Leben riefen.«

Mit diesen Worten bückte er sich und wollte ihr den Rucksack zurückreichen. Doch Demy, die das geahnt hatte, wich zwei Schritte nach hinten aus und hob abwehrend die Hände. »Und ich bin in diesen Tagen zuständig dafür, aus dem Nichts Lebensmittel und Gebrauchsgüter aufzutreiben und die Dame des Hauses zu vertreten. Ich bin es, bei der auf alle Fragen Antworten eingefordert werden. Ich trage die Verantwortung für Angestellte und Gäste, bin Überlebenskämpferin an allerlei Fronten und dabei nicht einmal willkommen dort, wo ich alle diese Tätigkeiten ausführe.«

Demy holte tief Luft und fuhr fort, ehe Philippe ihr ins Wort fallen konnte: »Womöglich könnte ich mich auch noch um diesen Papierkrieg kümmern, mich in die Betriebsstrukturen einarbeiten und die rechtlichen Hintergründe erlernen, wenn es nötig wäre. Aber man lässt mich nicht! Deshalb fordere ich Sie auf, irgendetwas zu unternehmen! Und sei es nur, dass Sie in Ihr Flugzeug steigen und den Mut aufbringen, statt in ein verfeindetes Land zu Joseph dem Jüngeren zu fliegen. Sie könnten ihn fesseln, meinetwegen auch knebeln und ihn in Ihrer fliegenden Kiste nach Berlin schaffen, damit nicht alles vor die Hunde geht!«

»Ihr Vorschlag könnte mir gefallen«, spottete Philippe und deutete mit der Hand in Richtung Tür.

Das breite Grinsen auf den Gesichtern von Philippes Kollegen machte Demy darauf aufmerksam, dass sie etwas zu laut gesprochen hatte. Während sie neben Philippe in Richtung Ausgang eilte, sagte er an sie gewandt: »Und wie schnell stehen Sie dann wieder vor mir und fordern mich auf, Joseph zurück an die Front zu schaffen, weil er Ihre Freiheiten beschneidet und Sie in Ihrem Tatendrang hindert, vielleicht sogar Ihre heimlichen Gäste des Hauses verweist?«

Demy zog eine Grimasse. Ihr Gesprächspartner wusste um die Anwesenheit von Luisa und Leni und ahnte wohl, wie oft Edith sich ohne Erlaubnis des Rittmeisters in dessen Haus aufhielt. Vermutlich nahm er an, dass auch die Zwillingsjungen noch immer bei Demy Unterschlupf fanden. Von den restlichen inzwischen im Nebentrakt einquartierten Kindern und Erwachsenen fehlte ihm aber jede Kenntnis – zumindest hoffte sie das!

»Ich kann Ihnen Ihr schlechtes Gewissen an der Nasenspitze ablesen«, foppte Philippe sie, woraufhin sie versuchte, die verräterischen Falten verschwinden zu lassen.

Demy blinzelte, als sie in den Sonnenschein eines wunderschönen Apriltages hinaustraten. Wie bei ihrem letzten Besuch führte Philippe sie vom Flugfeld in Richtung der Seen. Den Rucksack hatte er in der Halle gelassen, er war sich offenbar sehr sicher, dass niemand für seinen Inhalt Interesse zeigen würde.

»Was erwarten Sie von mir?«, nahm Philippe das Gespräch wieder auf, während im Hintergrund das Stakkato eines MGs zu hören war.

Die Niederländerin drehte sich der Wasserfläche zu, wobei ein leichter Windstoß an ihrer weißen Bluse zerrte und ihr einzelne Haarsträhnen aus der nachlässig aufgesteckten Frisur zog. Sie fühlte sich unwohl in ihrer Haut. Was hatte sie erwartet? Dass dieser freiheitsliebende, ihr gegenüber oft so mürrische Mann mit Begeisterung eine Aufgabe übernahm, mit der der Rittmeister zeitlebens seine Tage gefüllt hatte, zu der Philippe aber nicht ausgebildet war? Das war wahrlich zu viel erwartet, zumal Philippe bisher keinerlei Ambitionen gezeigt hatte, ein Teil dieser Dynastie zu werden, obwohl ihm womöglich sogar ein Erbe zugedacht war.

»Es war dumm von mir herzukommen. Verzeihen Sie bitte«, stieß sie mehr verzweifelt als entschuldigend hervor und strich sich mit beiden Händen die kitzelnden Locken aus dem Gesicht.

»Es war richtig. Ich versprach, Ihnen beizustehen, falls Sie Hilfe benötigen … wobei ich annehme, die Familie Meindorff steckt in Schwierigkeiten und nicht Sie selbst.«

»Ich sage es ungern, aber Fakt ist, dass ich mit drinstecke, obwohl ich das eigentlich nie gewollt habe.«

»Aus welchem Grund brachte Tilla Sie damals eigentlich mit nach Berlin?«, fragte Philippe plötzlich und für Demy völlig unvorbereitet, weshalb sie erneut ihre Nase krauszog. Verblüfft betrachtete sie ihren Begleiter, der sie auffordernd ansah und dabei die Arme vor der Brust verschränkte. Diese Frage war schon lange nicht mehr Gegenstand ihrer Überlegungen gewesen.

Philippe, der sie mit gerunzelter Stirn musterte, schickte gleich eine zweite Frage hinterher: »Und warum involvieren Sie sich so sehr? Weder die Angestellten der Meindorffs noch Ihre Schützlinge müssten Sie in dem Maße kümmern, um sich in diesen unruhigen Zeiten allein hierherzuwagen. Zudem könnte Ihr Interesse an den finanziellen Angelegenheiten von einem missgelaunten Rittmeister und seinem ältesten Sohn als ungerechtfertigte und verwerfliche Einmischung angesehen werden. Ganz zu schweigen davon, dass Sie schon wieder versuchen, sich mit mir anzulegen.«

»Aber irgendjemand …« Demy stockte und wandte sich von dem bedrohlich auf sie herunterblickenden Mann ab. Auf dieser Seite ihres Wegs wuchsen Weiden und Birken, die sich sanft im Wind wiegten, dahinter lag das glitzernde Wasser des Flusslaufs.

Wie einfach könnte das Leben für sie sein, wenn sie sich ausschließlich auf sich selbst konzentrieren würde, statt sich um die Angelegenheiten ihrer erwachsenen Schwester zu kümmern! Oder um die einer Familie, die sie nichts anging, bei der sie nicht einmal Akzeptanz fand; ganz abgesehen von ihrer Fürsorge für die ihr wildfremden Menschen!

Aber sie wollte nicht untätig zusehen, wie andere hungerten, froren oder jeder Lebensgrundlage beraubt wurden. Sie liebte ihre Geschwister, auch Tilla, obwohl sie deren Verhalten längst nicht mehr verstand. Und sie mochte Henny, Maria, die Zwillinge und alle die anderen, die das Schicksal wie eine kräftige Windbö in das Meindorff-Haus geweht hatte. Oder nahm sie sich zu wichtig? Würden diese Menschen ohne sie ebenso zurechtkommen, ihren eigenen Weg gehen?

»Sie wissen nicht, weshalb Tilla vor Jahren auf Ihrer Begleitung bestand und deshalb mit Ihrem Alter schummelte, nicht wahr?«, brachte Philippe sich in Erinnerung. »Sie wissen es genauso wenig, wie ich nicht weiß, warum meine Mutter mich im Alter von fünf Jahren in Berlin zurückließ.« Philippes Stimme war leise, nahezu sanft.

Demy hob verwundert die Augenbrauen. Sie kannte ihn nur raubeinig, dominant, vorwurfsvoll oder frech. Diese neue Seite an ihm war ihr gänzlich unbekannt.

»Aber für Ihre jüngeren Geschwister, für Degenhardt, Henny und all die anderen, und dazu zähle ich auch Hannes, Edith und deren Töchter, ist Ihre Anwesenheit das reinste Glück. Sie sind unersetzlich, selbst wenn Sie das vermutlich nicht einmal so sehen.« Er hob die Hand, damit sie ihn nicht unterbrach, was sie allerdings auch nicht vorgehabt hatte. Sie versuchte lediglich von seinem Gesicht abzulesen, ob er sich über sie lustig machte. Doch seine blauen Augen waren ernst, aber freundlich auf sie gerichtet, ohne eine Spur von Spott oder Hochmut, der ihm sonst zu eigen zu sein schien.

»Dann helfen Sie mir also?« Ihre Stimme klang verzagt.

»Die Fabriken der Meindorffs stecken in finanziellen Schwierigkeiten. Das ist eine Entwicklung, die vor Monaten, wenn nicht sogar Jahren begann. Ich kann sie nicht retten. Aber um Ihretwillen sehe ich mir die Papiere durch. Immerhin haben Sie diese so nett verpackt mitgebracht.« Er zwinkerte ihr fröhlich zu und hatte offenbar vergessen, dass er Demys Anwesenheit zuvor noch missbilligt hatte. »Wenn ich eine Möglichkeit zum Eingreifen sehe, tue ich es, ansonsten kann ich versuchen, Joseph aus seinem kriegerischen Tiefschlaf zu wecken.«

»Mehr wollte ich doch gar nicht.«

»Ach!« Das spitzbübische Funkeln war in seine Augen zurückgekehrt. Demy erkannte zum ersten Mal eine gewisse familiäre Ähnlichkeit mit Hannes. »Und ich dachte, ich muss die beiden Unternehmen auf Vordermann bringen, die Meindorff-Josephs zur Arbeit zerren, den Krieg beenden und am besten die Familienzwistigkeiten noch gleich mit!«

»Lassen Sie sich nicht von mir aufhalten!«, gab Demy zurück und fühlte sich ein bisschen leichter.

Philippe jedoch wurde ernst: »Wenn ich Sie da raushauen soll, Fräulein Demy: Ein Wort genügt. Ich halte mein Versprechen.«

»Und ich lasse niemanden im Stich!«

»Das dachte ich mir nun wiederum.«

»Deshalb also Ihr großzügiges Angebot? Weil Sie ohnehin keine Gefahr sahen, dass ich es annehmen könnte?«, forderte sie ihn heraus und brachte ihn damit zum Schmunzeln. Ein Gesichtsausdruck, den sie an ihm noch nicht häufig gesehen hatte.

»Man darf Sie nicht unterschätzen. Aber das sagte Tilla damals schon, als Sie dem alten Meindorff vorgestellt wurden.« Mit einer Handbewegung bedeutete er ihr, dass er den Weg zurück einschlagen wollte.

Gemeinsam schlenderten sie zwischen den Wasserflächen hindurch Richtung Flugplatz, auf dem ein paar Männer Tragflächen aufbauten. Anthony stürmte mit weit ausholenden Schritten auf sie zu, während zwei Männer einen Eindecker aus einem Unterstand in Richtung Startplatz zogen. »Ich hätte mit der geistigen Schwerfälligkeit der Militärs rechnen müssen!«, wetterte er vor sich hin, ehe er seine Landsmännin formvollendet begrüßte und sich dann an Philippe wandte. »Ich habe das synchronisierte MG auf dem Eindecker montiert und werde den Burschen jetzt mal zeigen, dass die Vorrichtung auch in der Luft funktioniert.«

Demy ließ die beiden Männer stehen und trat neugierig zu dem Steinhaufen, auf dem das Paar Flugzeugflügel befestigt worden war. Die stramm gespannte Leinwand reflektierte das Sonnenlicht, und in ihrem Rücken näherten sich die Militärs und Zivilpersonen.

Fokker kletterte unterdessen in sein Flugzeug, ließ auf Philippes Zuruf »Zündung« und das Andrehen des Propellers die Maschine an und hob zügig ab. Daraufhin trat Philippe zu Demy und zog sie ein paar Schritte beiseite, bis sie sich schließlich gegen ihn zur Wehr setzte. »Ich wollte mir das ansehen!«, erklärte sie Philippe.

»An einer Maschinengewehrsalve gibt es nicht viel Schönes zu sehen.«

»Ist es nicht leichtsinnig, diese Apparatur in einem in der Luft befindlichen Flugzeug auszuprobieren?«

»Hätten Männer wie Fokker immer vorsichtig gehandelt, würde heute noch kein einziges Flugzeug am Himmel seine Kreise drehen. Außerdem kann er wohl kaum neue Erfindungen an Frontflieger ausliefern, ohne sie vorher auf ihre Tauglichkeit getestet zu haben. Die Burschen leben gefährlich genug, auch ohne dass sie sich den eigenen Propeller zerschießen.«

»Dennoch möchte ich es sehen«, beharrte Demy.

»Aber nicht von hier aus. Das MG wird die Flügel durchschießen, die Kugeln werden auf den darunterliegenden Steinen abprallen und Ihnen um die Ohren pfeifen, wenn Sie hier stehen bleiben.«

»Aber die anderen Zuschauer …«

»Das sind Militärs. Sie müssen das wissen.«

»Hat Fokker sie nicht vor der Gefahr gewarnt?«

»Sie haben ihn verärgert. Er wird sich hüten, sie auf etwas hinzuweisen, das sie von Berufs wegen besser wissen sollten als er!«

»Ihr Piloten seid doch irgendwie alle Halunken, oder?«

Philippe lächelte, schob sie vor sich her, bis sie eine der Flugzeughallen erreichten, und lehnte sich dort in gewohnter Pose an die Holzwand.

»Ich bin heute auch hier, weil ich Saatgut für Kartoffeln, Karotten, Kohl und Salat auftreiben will«, erklärte ihm Demy, während sie mit beiden Händen ihre Augen beschattete und das von oben herunter auf sie zu jagende Flugzeug beobachtete.

»Was haben Sie vor?«

»Henny hat beobachtet, dass in den Stadtgärten Berlins vermehrt Gemüse angepflanzt wird. Sie kam auf den Gedanken, dass wir dasselbe im Garten der Meindorffs versuchen könnten.«

»Und was meint der Rittmeister zu diesem Einfall?«

»Nichts. Er wird nicht gefragt. Wenn er etwas dagegen einzuwenden hat, wird er ein paar Tage hungern, dann ändert sich bestimmt seine Meinung über die Nutzung seines Gartens, den er ohnehin nie betritt«, erklärte Demy kämpferisch.

»Das klingt nach einer Revolution!«

»Das klingt nach einem vernünftigen Vorschlag, um dem Verhungern zu entgehen.«

»Und wie wollen Sie das Saatgut nach Berlin schaffen? In Ihrem Rucksack?«

»Machen Sie sich nicht andauernd lustig über mich, Herr Oberleutnant.«

»Wenn Sie aber doch so ein lustiges schwarzes Schäfchen sind!«

In diesem Moment donnerte Fokker in seinem Eindecker über sie hinweg, sank noch tiefer und feuerte auf die ausgelegten Flügel. Die Bespannung bewegte sich in ruckartigen Wellen unter dem Dauerbeschuss. Wie von Philippe angedroht jagten die Geschosse als Querschläger in alle Richtungen davon, sodass die Militärs und Zylinderträger in wilder Flucht Schutz hinter der nächstgelegenen Flugzeughalle suchten31.

»Ich glaube, ich höre Anthonys Lachen bis hierher«, flüsterte Demy, die sich ein Grinsen über die wie flüchtende Hasen davonspringenden Ehrenmänner ebenfalls nicht verkneifen konnte.

»Jedenfalls werden die Herren nicht darum herumkommen, ihm dieses Synchronisationsgewehr abzukaufen und in die Jagdflieger einbauen zu lassen. Immelmann wird sich freuen! Wie ich Fokker und die Militärs kenne, die ihre Helden gerne in Szene setzen, wird er der Erste sein, der es zum Einsatz an der Front bringen wird!«

Demy verging das Lachen, als sie in dem Moment, als Fokker zur Landung ansetzte, zu den Flügeln trat, die als Zielscheibe hatten herhalten müssen. Nur noch Fetzen waren von dem übrig, was ein Flugzeug sicher in der Luft hielt.

»Gehen wir«, meinte Philippe trocken und führte sie an die Straße, wo er sie in seinem Automobil warten ließ, bis er den Rucksack geholt hatte.

Lange Zeit fuhren sie schweigend in Richtung Schwerin, bis Philippe das monotone Motorenknattern unterbrach. »Ich sehe zu, wo ich Saatgut für Sie auftreiben kann, und bringe es Ihnen entweder persönlich oder lasse es durch einen Boten anliefern.«

»Ich kann …«

»Sie bleiben schön brav in Berlin. Ihre Ausflüge ohne Begleitung sind nicht ungefährlich und Sie werden bei den Meindorffs doch gebraucht!«, knurrte er sie an.

Demy bedachte ihn mit einem belustigten Seitenblick. Philippe schien sich tatsächlich Sorgen um ihr Wohlergehen zu machen!

Am Schweriner Bahnhof geleitete Philippe sie zum Bahngleis, auf dem in absehbarer Zeit der Zug in Richtung Berlin eintreffen musste.

»Wie sind Sie eigentlich von hier zum Flugfeld gelangt?«, durchbrach Philippe erneut das Schweigen.

»Ein Mann, der demnächst in Freiburg seine Pilotenlizenz erhalten soll, nahm mich in seinem Automobil mit. Ich glaube, sein Name war Hermann Göring.«

Auf einen eigenartigen Brummlaut vonseiten Philippes sah Demy fragend zu ihm auf.

»Hannes hatte in der Kadettenanstalt Lichterfelde mit Göring zu tun. Er kam für die Oberstufe von der Kadettenanstalt Karlsruhe dorthin. Hannes beschrieb ihn als einen unangenehmen Zeitgenossen. Sie dürfen sich nicht einfach bei einem Unbekannten in ein Automobil setzen!«, rügte er und sah sie dabei vorwurfsvoll an.

Entrüstet stemmte Demy die Hände in die Hüfte. Glaubte er, sie unternehme ihre Ausflüge zu ihm zum Vergnügen? Sie hatte in Berlin wirklich ausreichend zu tun und erlebte auch dort genug Aufregungen, ohne sich neue suchen zu müssen! Zudem behagte ihr seine Bevormundung überhaupt nicht. Selbst wenn sie beide für ihr Umfeld als verlobt galten, so war dieser Umstand für sie nach wie vor eine rein praktische Abmachung. Ihr Ärger über ihn nahm überhand und so platzte sie heraus: »Was bilden Sie sich ein, mir Vorschriften zu machen? Bleiben Sie mal schön in Berlin! Setzen Sie sich nicht mit einem Fremden in ein Automobil! Nicht nur Sie müssen gelegentlich Risiken eingehen, um das verwirklichen zu können, was Sie sich vornehmen, Herr Oberleutnant!«

Das Eintreffen des Zuges enthob Philippe einer Antwort, doch der Blick aus seinen hellen Augen war eiskalt.

Quietschend und stampfend kam die Lok neben ihnen zum Stehen und hüllte sie in eine dichte graue Dampfwolke ein. Diesen Augenblick nutzte Philippe, indem er Demy derb an beiden Oberarmen packte und sich zu ihr hinabbeugte, um ihr über das Zischen der Lokomotive hinweg zuzuraunen: »Sie spielen gern mit dem Feuer, nicht wahr? Ein Erbe Ihres Vaters?«

Damit ließ er sie abrupt los. Sie taumelte zwei Schritte nach hinten, und noch ehe sie das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, war er von einer weiteren Dampfwolke verschluckt worden. Als die Schwaden sich allmählich verflüchtigten, hatte Philippe das kleine Bahnhofsgebäude längst verlassen.

Zurück blieb eine verwirrte Demy, die sich einmal mehr fragte, wo und warum ihr Vater und Philippe in Deutsch-Südwestafrika aufeinandergetroffen waren und was zwischen ihnen vorgefallen war. Und dabei rückte auch die Frage in den Vordergrund, ob Philippe mehr über den Tod ihres Vaters wusste, als er ihr damals in Paris angedeutet hatte …

30 Tatsächlich fand diese Vorführung in Berlin statt. Fokker montierte die MG auf einen seiner Eindecker, band das Flugzeug am Schwanz an seinen 80-PS-Peugeot-Tourenwagen und zog dieses in der Nacht die 200 Kilometer bis zum Berliner Militärflugplatz.

31 Siehe 29