Kapitel 2

Berlin, Deutsches Reich,
August 1914

»Ich muss hier raus, Lina. Ich bekomme es mit der Angst zu tun.« Margarete Groß ergriff ihre Freundin Halt suchend am Unterarm.

Lina Barna nickte, wenngleich ihr gerötetes Gesicht und die munter blitzenden Augen deutlich verrieten, wie beschwingt sie sich ihrerseits in der berauschten Menschenmenge fühlte.

Nachdem die Antikriegsdemonstrationen abgeflaut waren, die dem Ultimatum Österreich-Ungarns an Serbien gefolgt waren, hatte am Vortag die Verkündung des Zustands drohender Kriegsgefahr erneut eine gewaltige Welle Menschen auf die Berliner Straßen und Plätze gespült. Dieses Mal schrien sie ihre Begeisterung für eine nahende kriegerische Auseinandersetzung hinaus.

An diesem ersten Augusttag nun hatten die reißerischen Worte in der Presse und die Plakate an den Berliner Litfaßsäulen den Pulsschlag der Stadt für einen Moment zum Stillstand gebracht: Das Deutsche Kaiserreich hatte die Mobilmachung ausgerufen, nachdem eineinhalb Stunden zuvor die Aufbietung der Truppen in Frankreich erklärt worden war.

Das deutsche Volk fand, es sei an der Zeit, dass dem ewigen Geplänkel zwischen dem Balkan und Österreich-Ungarn, Russland, England und Frankreich ein Ende gesetzt wurde. Die Zeit war reif! Das Deutsche Reich war eine Wirtschaftsmacht auf dem europäischen Kontinent, den anderen Ländern in so gut wie allen Bereichen überlegen. Wen oder was sollten sie fürchten?

Vor dem Stadtschloss versammelten sich Zigtausend singende und jubelnde Bürger, und auch Lina spürte Erleichterung darüber, dass die Anspannung der vergangenen Wochen endlich endete, die sich angefühlt hatte, als tanzten sie alle auf einem Vulkan. Nun entluden sich die aufgestauten Emotionen auf den Straßen Berlins.

Lina winkte kräftig mit ihrem Taschentuch. Wie alle anderen um sie her ließ sie den Kaiser und die deutschen Soldaten hochleben, die bald in einen ehrenvollen Kampf gegen die Feinde ins Feld ziehen wollten. Sie fühlte sich einfach großartig!

Über das Jauchzen der Menschen hinweg hörte Lina Margaretes erstickten Aufschrei. Erschrocken drehte sie sich nach ihr um. Ihre Freundin hielt sich die rechte Wange. Ob sie einen Schlag ins Gesicht bekommen hatte?

Tränen liefen Margarete über das blasse Gesicht. Der Hilfeschrei in ihren braunen Augen verleitete Lina endlich dazu, ihre zarte Freundin fest an der Hand zu nehmen und sich unter Einsatz ihrer Ellenbogen gegen die wogenden Massen anzustemmen. Sie stieß die dicht gedrängten Menschen rücksichtslos beiseite, um sich und Margarete eine Gasse zu schaffen.

Männer brüllten lauthals irgendwelche Parolen und schleuderten ihre hellen Strohhüte in die Höhe. Frauen winkten, jubelten, und ihre fast verzerrt wirkenden Gesichtszüge mussten einer zartbesaiteten Frau wie Margarete an grausige Fratzen erinnern und Angst einjagen.

Lina umklammerte die schmale Hand der Freundin noch kräftiger und zerrte sie nahezu gewaltsam hinter sich her. Die beiden traten auf Spitzentaschentücher, auf verbeulte, vom Straßendreck verschmutzte Canotiers5 und auf einen verlorenen Kinderschuh. In der Hoffnung, dass das Kind nicht ebenfalls irgendwo zwischen den Beinen der Menschenmenge lag, stieg Lina über ihn hinweg. Dabei verfinsterte sich ihr kantiges, nicht sehr weiblich anmutendes Gesicht.

Endlich sah sie die schmiedeeisernen Begrenzungen der Schlossbrücke vor sich, konnte sie aber nicht erreichen. Es war wie in einem Albtraum! Sie wollte weitergehen, doch unsichtbare Hände schienen sie zurückzuhalten, hinderten sie am Vorankommen. Zwei wild winkende Männer und eine Dame, die ihren matronenhaften Körper in ein hellgelbes Lampenschirmkleid mit Pelzverbrämung gezwängt hatte, versperrten ihr den Weg.

»Lassen Sie uns durch! Bitte lassen Sie uns durch«, schrie Lina gegen den Lärm an, fand jedoch keine Beachtung. Tosender Jubel brandete auf und setzte sich in den Kehlen der Menschen fort, wie eine Welle auf See, die unaufhaltsam vorwärtsschwappte. War der Kaiser beim Schloss vor die Menge getreten?

Noch mehr Neugierige stürmten herbei, drängten in den überfüllten Lustgarten und die an diesem Tag plötzlich viel zu engen Prachtstraßen Berlins. Die füllige Frau im gelben Kleid drückte sich gegen Lina, und der Knauf ihres Spazierstocks, aus weiß schimmerndem Elfenbein gefertigt und in Form eines Pferdekopfes, traf Lina unvorbereitet an der Schläfe. Fast zeitgleich stieß ihr jemand den Ellenbogen rüde zwischen die Schulterblätter. Der Schmerz, der in ihren Kopf schoss, zwang sie, Margarete loszulassen. Zwar nahm Lina den entsetzen Ruf der Freundin wahr, konnte aber nichts für sie tun. Ihre Knie gaben nach. Vor ihren Augen drehte sich alles. Sie taumelte zwei Schritte vorwärts und prallte gegen das rote Brückengemäuer. Weitere Personen rückten von hinten nach, pressten sie förmlich gegen den rauen, von der Augustsonne aufgeheizten Stein.

Lina war nicht in der Lage, einen Hilfeschrei auszustoßen. Heiße Schauer jagten durch ihren Körper. Sie wurde erdrückt! Ihr fehlte die Luft zum Atmen!

***

Anton Daul kletterte auf die Brüstung der Schlossbrücke und lehnte sich mit der Schulter an den weißen Marmorblock, auf dem eine von acht Statuen thronte. Von oben wirkte die versammelte Menschenmenge wie eine eingepferchte Viehherde, wobei ihr Brüllen diesen Eindruck noch verstärkte. Als Kaiser Wilhelm auf einen Balkon des Stadtschlosses trat, steigerten sich die Begeisterungsrufe der Umstehenden ins Unermessliche. Anton ahnte, dass sich unter die Feiernden auch diejenigen mischten, die zuvor noch gegen das Kriegstreiben protestiert, sich zumindest aber abneigend geäußert hatten. Die Geschehnisse überrollten die Menschen, formten sie zu einer Einheit und peitschten sie zu Begeisterungsstürmen auf, aus denen sie womöglich erst viel zu spät wieder erwachen würden.

Der Kaiser winkte und erntete tausendfache Zurufe, erneut in die Höhe geworfene Hüte, auch vonseiten der Damen, obwohl die es sich in diesem heißen Sommer nicht nehmen ließen, auch einmal ohne Hut ins Freie zu gehen. Gestandene Männer zollten der Hitze durch fehlende Jacketts und gar in aller Öffentlichkeit hochgekrempelte Hemdsärmel Tribut. Eine Freizügigkeit beiderlei Geschlechts, die noch vor ein, zwei Jahren undenkbar gewesen wäre. Die Gesellschaft befand sich im Wandel, doch die in diesen Tagen stattfindende Veränderung fühlte sich für Anton bedrohlich an.

Der Kaiser bemühte sich, die Menge zu beschwichtigen, indem er mit seinem nicht verkrüppelten Arm winkte. Schließlich drang seine Stimme bis zu Anton durch: » … danke ich euch für den Ausdruck eurer Liebe, eurer Treue. In dem jetzt bevorstehenden Kampfe kenne ich in meinem Volke keine Parteien mehr. Es gibt unter uns nur noch Deutsche. Und welche von den Parteien auch im Laufe des Meinungskampfes sich gegen mich gewandt haben sollten, ich verzeihe ihnen allen.«

Anton runzelte die Stirn. Wie wohl Vertreter der SPD diese Worte aufnahmen? Verflogen ihre politischen Erfolge der letzten Jahre und ihr Bestreben nach einem friedlichen Deutschland mit dem an Russland gestellten Ultimatum zur Einstellung der Mobilmachung, das in nicht ganz drei Stunden auslief? Allerdings war nicht einmal der Deutsche Reichstag zusammengetreten. Weder dem Kanzler noch dem Kaiser war es bisher ein Anliegen gewesen, die gewählten Volksvertreter zu befragen, was sie von einem Krieg hielten.

»Zivilisierte Anarchie« hatte sein Gönner, Professor Barna, wenige Stunden zuvor das momentane Geschehen in Berlin genannt. Kaiser Wilhelm fuhr langsam und deutlich akzentuiert fort: »Es handelt sich jetzt nur darum, dass alle wie Brüder zusammenstehen, und dann wird dem deutschen Volk Gott zum Siege verhelfen.«

Der Student blies die Wangen auf. In diesem Augenblick war sein Ruf als Friedenskaiser dahin.

»Anton, Anton, Hilfe!«

Angesichts der hysterisch klingenden Rufe runzelte Anton die Stirn. War er gemeint? Sein Blick glitt über die Köpfe der Menge unterhalb seines Standplatzes, dabei entdeckte er Margaretes rotblonde Locken und ihr zartes Gesicht.

Lina!, schoss ihm durch den Sinn. Wo Margarete sich aufhielt, war meist die Tochter von Professor Barna nicht fern. Margaretes von Kopf bis zu den Füßen ramponiertes Äußeres ließ ihn schnell reagieren. Er hangelte sich am Geländer entlang, bis er sich ihr genähert hatte. Tränen liefen über ihr schmutziges Gesicht und ihre aufgerissenen Augen sprachen von der Angst, die sie empfand.

»Ich habe Lina verloren! Sie ist gestürzt, gleich hier auf der Brücke!«, rief Margarete ihm gegen den erneut aufbrandenden Jubel der Menschen zu.

Anton beugte sich nach vorn, um an dem Marmorsockel vorbei in die Richtung zu schauen, aus der Margarete gekommen war. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Seit er vor rund sechs Jahren in die Dachkammer im Haus Barna einziehen durfte, liebte er Lina. Geraume Zeit hatte er seine Zuneigung für Dankbarkeit gehalten, da Lina ihm ermöglicht hatte, aus dem heruntergekommenen Scheunenviertel und einer schweren, aber brotlosen Arbeit in der Fabrik zu entkommen, um unter den Fittichen ihres Vaters Physik zu studieren. Obwohl er eines Tages erkannt hatte, wie tief seine Gefühle für sie gingen, hatte er es nie gewagt, sie darauf anzusprechen. Lina mochte fröhlich und unkompliziert sein, doch sie blieb die Tochter seines Gönners und dazu ein Mädchen aus der gehobenen Bürgerschicht. Sie war tabu für ihn, den einfachen Burschen, der früher nicht einmal eine eigene Wohnung besessen hatte, sondern gegen ein Entgelt als Schlafbursche bei einer Familie untergekommen war.

Kalte Angst griff nach seinem Herzen. Die Menschenmenge bewegte sich von links nach rechts, von vorne nach hinten, und immer mehr Berliner drängten herbei. Inzwischen versuchten Polizisten Ordnung in den unaufhaltsamen Strom eintreffender Bürger zu bringen, aber wie schnell konnte unter den Füßen der aufgepeitschten Menge ein Mensch zu Tode kommen?

Die Feiernden begannen zu singen. Während Tausende Kehlen Nun danket alle Gott6 intonierten, stockte Anton der Atem. An dem Sockel des nächsten Brückenpfeilers drängten sich mehrere Menschen und hinter ihnen, so eng an den Stein gepresst, als wolle sie mit ihm verschmelzen, glaubte er Lina zu sehen.

»Bleiben Sie hier, Frau Groß, direkt am Pfeiler. Notfalls klettern Sie hinüber, auf die andere Seite des Geländers«, rief er und sprang von der Brüstung mitten zwischen die Passanten. Dabei streifte er einen bulligen Mann derb an der Schulter. Dieser drehte sich mit wütendem Gesichtsausdruck nach ihm um und griff nach dem Störenfried.

Anton, zwar groß gewachsen, aber als ausschließlich mit dem Geiste arbeitender Mensch nicht gerade mit viel Muskelkraft ausgestattet, duckte sich und zwängte sich zwischen anderen Anwesenden hindurch. Zielsicher steuerte er den nächstgelegenen Brückenpfeiler an, obwohl er, eingekeilt in der Menge, nicht mehr sehen konnte, was dort vor sich ging. Sein langsames Vorankommen ließ ihn zunehmend verzweifelter, aber auch wütender werden. Schließlich stellte sich ihm ein kräftiger Jugendlicher mit herausforderndem Blick in den Weg. Offensichtlich war er dem rücksichtslos drängelnden Studenten gegenüber auf Streit aus.

Ohne lange nachzudenken schlug Anton dem Kerl die geballte Faust ins Gesicht. Aus der Nase seines Gegners schoss Blut, und noch ehe dieser seine Hände an den Quell des Schmerzes legen konnte, huschte Anton an ihm vorbei. Endlich erreichte er erneut das Geländer, hangelte sich an diesem entlang und entdeckte Lina, kaum zwei Schritte entfernt. Eingekeilt zwischen mehreren Männern schien sie den rötlichen Sockel zu umarmen. Ihre Augen waren geschlossen, und die bläuliche Farbe ihrer Lippen steigerte seine Angst um sie.

»Lina!«, rief er und boxte wild um sich, bis es ihm gelang, zu ihr vorzudringen. Anton rammte dem Hünen, der sie an die Brüstung quetschte, den Ellenbogen in die Seite, und als der Mann sich ihm eher verwundert als aufgebracht zuwandte, sackte Lina wie eine leblose Puppe in sich zusammen. Entsetzt sah der große Fremde sie an und bemühte sich, sie wieder auf die Beine zu stellen, dabei rief er aus: »Mein Gott, ich habe sie gar nicht bemerkt!«

Wieder drängte die Menge in ihre Richtung. Sowohl Anton als auch der erschrockene Mann mit der schlaffen Lina im Arm wurden rücksichtslos gegen die verzierte und mit Figuren bestückte Brüstung gedrückt.

Beherzt sprang Anton auf die Querverstrebung und kletterte auf die gegenüberliegende Seite der Absperrung.

»Geben Sie sie mir herüber!«, schrie er den bulligen Mann an.

»Aber …?«

»Los doch! Die Frau ist ohne Bewusstsein und muss hier weg!«

Der Hüne nickte, hob Lina hoch, als wiege sie nicht mehr als ein Kätzchen, und setzte sie rücklings auf der Brüstung ab, sodass ihr Rücken an Antons Brust lehnte. Der löste seine Hände zeitgleich vom Gatter, umgriff schnell Linas Körper und ließ sich mit ihr im Arm nach hinten fallen. Sekunden später schlugen die Fluten des Kupfergrabens über ihnen zusammen.

***

Anton blieb zum Schwimmen nur eine Hand und die Beine. Er versuchte, sich und Lina mit der Strömung an den Uferrand zu manövrieren. Rechts von ihnen erhoben sich die Museen majestätisch in die Höhe. Er wusste, gleich würde eine Brücke den Kupfergraben überspannen. Das war ihre Chance! Noch kräftiger arbeitete er mit den Beinen, obwohl der nasse Stoff seiner Hose jede Bewegung erschwerte. Seine Schuhe hatte er längst abgestreift.

Unsanft prallte er mit dem Rücken gegen ein Hindernis und schrammte an diesem entlang. Er griff mit seiner freien Hand nach der glitschigen, von grünen Algen bedeckten Steinwand und ließ sich bis unter der Brücke hindurch treiben, wo ihn die Strömung fast wie von selbst an einige in den Kupfergraben führende Stufen schwemmte.

Der Student setzte sich und zog Lina aus dem Wasser auf seinen Schoß. Mit einer hastigen Bewegung strich er ihr die nassen Strähnen ihres hellen Haars aus dem Gesicht und atmete befreit auf, als er sah, dass sie bei Bewusstsein war und die Augen geöffnet hatte.

Ihr Blick wanderte von den bemoosten Brückensteinen über die steil ansteigende betonierte Böschung zu seinem Gesicht. »Anton«, flüsterte sie und ihr Lächeln setzte sein Herz in Flammen. Er warf alle Vorbehalte über Bord, zog sie noch fester an seine noch immer von der Anstrengung kräftig arbeitende Brust und legte seine Hand an ihre nasse, kalte Wange.

»Als ich dich dort an dem Pfeiler sah … mein Gott, ich dachte, ich hätte dich verloren«, stieß er hervor.

»Du … mich verloren?« Lina schaute ihm prüfend in die Augen. Als er nickte, ergoss sich aus seinem Haar ein Tropfenregen über die Frau in seinen Armen. Behutsam wischte er ihr das Flusswasser aus dem Gesicht.

»Dann magst du mich also doch ein bisschen?« Sie hob die Hand, zögerte dann aber. Allerdings wäre sie nicht Lina Barna gewesen, wenn sie nicht mutig zu Ende gebracht hätte, was sie vorgehabt hatte. »Ich dachte immer, du machst dir nichts aus mir.« Federleicht legte sie ihre Hand an seine Wange.

Ihre Berührung schien seine Haut zu verbrennen und er stöhnte innerlich auf. Sechs endlos erscheinende Jahre hatte er seine Gefühle für Lina tief in seinem Herzen vergraben. Und nun war sie ihm so herrlich nah und offenbar bereit, seine Zuneigung zuzulassen.

»Du hast mir das Leben gerettet«, flüsterte sie. Er zuckte lediglich mit der rechten Schulter. Wusste sie nicht, dass er alles für sie tun würde? Langsam beugte er sich nach vorn und näherte sich mit seinem Gesicht dem ihren. Er wollte sie küssen; ausprobieren, wie ihre Lippen schmeckten.

»Margarete!«, stieß Lina in diesem Augenblick erschrocken hervor, ließ ihn dabei aber nicht aus den Augen.

»Sie hat mich auf deine missliche Lage aufmerksam gemacht. Es geht ihr bestimmt gut«, raunte Anton heiser und senkte seine Lippen auf die ihren. Die Intensität, mit der sie den Kuss erwiderte, erfüllte ihn mit unbändiger Freude, doch als er seine Hand über den nass an ihr klebenden Blusenstoff gleiten ließ, schob sie ihn von sich. Ihr Atem ging schwer, aber ihre Augen blitzten ihn nicht etwa vorwurfsvoll, sondern gewohnt heiter an. »Damit lassen wir uns noch etwas Zeit.«

Er nickte, unfähig zu sprechen, ahnte jedoch, dass ihre Zweisamkeit jetzt ein jähes Ende finden würde. Ob er heute noch den Mut aufbringen würde, Professor Barna seine Gefühle für Lina einzugestehen?

»Leihst du mir bitte dein Jackett? Ich denke, wir können von der Museumspforte aus Vater anrufen, und ihn bitten, uns mit dem Automobil abzuholen.«

Fürsorglich half Anton Lina auf und achtete darauf, dass sie auf den glitschigen Stufen nicht ausrutschte und zurück in den Fluss stürzte. Erst als sie sicher auf beiden Beinen stand, erhob er sich, entledigte sich seines Jacketts und legte es Lina um die schmalen Schultern. Die wegen der Nässe durchsichtige weiße Bluse machte das zwingend nötig.

»Geht es dir auch wirklich gut?«, forschte er besorgt nach.

»Mein Rücken schmerzt. Vater wird sicher auf einen Arztbesuch drängen. Und mir ist etwas schwindelig, deshalb bestehe ich auf deinem Arm.« Ihr Lächeln geriet leicht schief, weil sie tatsächlich unter Schmerzen und einem unangenehmen Schwindelgefühl litt.

Nur zu gern legte er seinen rechten Arm um sie und stützte sie, als sie langsam die Stufen erklommen und sich von dort hinüber zum Eingangsbereich des Museums wandten. Auch hier bevölkerten diskutierende und feiernde Menschentrauben den Platz.

Anton warf einen kritischen Blick über die Schulter in Richtung der Stadtschlosskuppel. Er konnte nur hoffen, dass es Margarete gelungen war, die Brücke und die verstopften Straßen unbehelligt zu verlassen.

5 Herrenstrohhut

6 Evangelisches Gesangbuch Nr. 321