Kapitel 18

Petrograd, Russland,
September 1914

Mehr als zwei Wochen waren seit dem Tag vergangen, an dem Robert und Anki Ljudmila aus Rasputins Haus geholt hatten. Doch noch immer lag die junge Frau in ihrem Bett, sprach kaum mit jemandem und aß nur zaghaft. Die offizielle Version von Ljudmilas Zustand lautete, dass sie »schwer erkrankt« sei.

Anki wurde nun endlich Zutritt zum Haus der Zoraws gewährt. Sie war darüber informiert worden, dass ihre Freundin in jener Nacht Geschlechtsverkehr gehabt hatte. Allerdings ließ sich nicht rekonstruieren, ob dieser gegen oder mit Ljudmilas Willen stattgefunden hatte. Anki vermutete, dass die Komtess in diesen Stunden überhaupt nicht in der Verfassung gewesen war, irgendwelche Entscheidungen zu treffen. Außerdem erinnerte sie sich an Roberts Verdacht, dass ein Betäubungsmittel im Spiel gewesen sei. Zudem kannte sie Rasputins Begabung, Menschen allein durch seinen durchdringenden Blick in seinen Bann zu ziehen und ihnen förmlich den eigenen Willen aus dem Leib zu saugen.

Der Starez wurde ihr immer unheimlicher. Sie wusste von Ljudmila, die ein Hofdamenamt bei den älteren Zarentöchtern ausübte, von den Spontanheilungen des erkrankten Zarewitsch, nachdem Rasputin in dessen Krankenzimmer gewesen war. Diese Begebenheit verwirrte sie umso mehr, als dass sie sich einerseits für die Zarenfamilie freute, andererseits die Macht nicht verstehen konnte, die von diesem ungehobelten Bauern aus dem Gouvernement Tobolsk ausging. Ihr war jeglicher Glaube daran, dass Rasputin ein Mann Gottes sei, abhandengekommen. Und hatten nicht schon zu Zeiten Moses die Zauberer des Pharao ebenfalls Unerklärliches getan? Wie viel Kraft lag in einer bösen Macht, die ihre Hände nach den Menschen ausstreckte und die gemeinhin als der Durcheinanderbringer oder als Teufel bezeichnet wurde? Kam sie nicht allzu gern in harmloser Verkleidung daher?

Anki schrak aus ihren düsteren Überlegungen auf, als Ljudmila sich in ihrem mit weißem Damast überzogenen Bett bewegte. Sie legte das kyrillische Lehrbuch, in dem sie ohnehin nicht gelesen hatte, beiseite und beugte sich über das blasse, eingefallene Gesicht ihrer Freundin.

»Bist du das, Anki?«

»Ich bin da, Ludatschka.«

»Mir ist kalt.«

»Du bist bereits mit unzähligen Decken zugedeckt. Ich fürchte, wenn ich noch eine auf dich lege, wirst du erdrückt.«

»Ich will über die Brücke gehen, aber ich darf nicht.«

»Bitte?« Anki blinzelte irritiert. »Von welcher Brücke sprichst du?«

»Als ich noch bei ihm war, träumte ich von einer Brücke. Ich wollte hinübergehen, aber ich konnte es nicht. Vergangene Nacht sah ich die Brücke erneut.«

In Anki wuchs die Angst um ihre Freundin. Hitzewellen jagten durch ihren Körper. Wünschte Ljudmila ihren Tod herbei? Aufgewühlt erhob sich das Kindermädchen und trat an eines der vier Fenster. Durch die zugezogenen weinroten Vorhänge fiel nur gedämpftes Licht in den Raum.

»Die einzige Brücke, über die du gehen wirst, ist die über den Fontanka-Kanal, wenn wir einen deiner heiß geliebten Einkaufsbummel unternehmen.« Anki griff in die Vorhänge und zog sie energisch zurück. »Sieh nur, wie schön die Sonne scheint«, rief Anki mit mehr Enthusiasmus, als sie empfand. Sie eilte an das nächste Fenster und zog auch dort die Stoffbahnen mit viel Schwung auseinander. Mit Freude sah sie, wie die warmen Farben in Ljudmilas exquisit eingerichtetes Gemach zurückkehrten. Dieser Raum bestach, anders als die gold- und stucküberladenen Räume vieler Paläste, durch seine herrliche Schlichtheit. Nur der Übergang zwischen den Wänden und der Decke war durch fragiles Stuckwerk geschmückt und oberhalb der Fenster zeigten sich ebenfalls sanft geschwungene Stuckbänder.

»Du hast ein wunderschönes Zimmer, Ludatschka«, sagte Anki.

»Findest du?«

Sie drehte sich nicht um, obwohl sie hörte, dass Ljudmila sich aufrichtete. Als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt, öffnete sie die Tür von Ljudmilas begehbarem Kleiderschrank und betrat ihn. »Meine Güte! Diese vielen Kleider, Schuhe und Hüte wirst du dein Leben lang nicht auftragen können.« Fast erschrocken blickte sie auf Ballroben, deren erlesenen Stoffe, die Spitze und die eingearbeiteten Edelsteine allein viele Tausend Rubel gekostet haben mussten.

»Ludatschka, ich wünschte, ich dürfte dich einmal in einer dieser Roben tanzen sehen. Hier, dieses weiße Kleid mit dem durchsichtigen, grünen Organzastoff darüber; welch ein Traum!« Anki trat zurück in Ljudmilas Zimmer und tat, als bemerke sie nicht, dass diese inzwischen die Beine aus dem Bett gehoben hatte.

Eilig trat sie an das nächstgelegene Fenster und blickte über den großzügig angelegten Park zur Fontanka. »Ich sehe Boote auf dem Kanal. Du weißt doch, wie gern die Töchter der Chabenskis mit dem Dampfer auf der Neva fahren? In ein paar Tagen reisen wir zum Landsitz der Familie nach Zarskoje Selo. Die Fürstin will ihre Kinder aus der noch immer mit Soldaten überfüllten Stadt heraushaben. Warst du schon einmal auf dem Sommersitz der Chabenskis? Ich leider erst zweimal. Ich freue mich darauf, den Katharinenpalast und den Alexanderpalast wiederzusehen. Was hältst du davon, dich uns anzuschließen?« Anki drehte sich um und unterdrückte ein Lächeln.

Ljudmila stand in ihrem langen, himmelblauen Seidennachthemd barfüßig vor dem Fenster, lehnte sich zitternd an das Marmorfenstersims und blickte hinaus auf die sich sanft im Wind wiegenden Bäume. »Würdest du bitte nach meiner Zofe läuten, damit sie mir beim Ankleiden behilflich ist?«

»Ich kann dir doch zur Hand gehen.«

»Du bist meine Freundin, nicht meine Zofe.«

»Aber wenn ich dir doch gern helfe!«

»Das tust du eigentlich ununterbrochen, nicht?«

Bevor die Komtess es sich anders überlegte, betrat Anki erneut den Kleiderschrank und suchte Unterkleider, eine hübsche weiße Bluse und einen hellblauen Rock heraus, der dem ihren sehr ähnlich war.

Zurück im Zimmer fand sie die Freundin hinter dem dreiteiligen schwarzen Paravent, auf dem weinrote Rosen mit überdeutlich applizierten Stacheln prangten. Ljudmilas Nachthemd hing über der mittleren Bespannung.

Anki reichte ihr die Kleidungsstücke und machte sich anschließend auf die Suche nach bequemen Schuhen und einer leichten Jacke, da Ljudmila noch immer fror. Auf einen Hut verzichtete Anki, stattdessen band sie der jungen Frau die langen, roten Haare mit einem weißen Band zu einer unkomplizierten Frisur auf.

Daraufhin betrachtete Ljudmila sich im Spiegel und zog eine Grimasse. »Ich sehe aus wie ein Gespenst.«

Anki wäre wegen der Fratze und der Worte beinahe vor Freude in Tränen ausgebrochen. Sie lief zu Ljudmila und umarmte sie stürmisch. »Wir gehen jetzt in die Sonne hinaus, dann ändert sich das schnell.«

»Richtig, ich werde grässliche Sommersprossen bekommen.«

»Sommersprossen sind hübsch.«

Abwehrend schüttelte Ljudmila den Kopf und bat Anki, ihr einen Sonnenschirm zu holen. Auch die Anzahl der verschiedenfarbigen Schirme und Spazierstöcke, ausgestattet mit Kristall-, Elfenbein-, Silber- und Goldköpfen, teils in Tierform, teils mit wertvollen Steinen geschmückt, faszinierte Anki, zumal sie ihre Freundin noch nie mit einem dieser modischen Accessoires gesehen hatte. Wahllos griff sie nach einem blauen Sonnenschirm, lief voller Vorfreude zu Ljudmila zurück und betrat kurz darauf mit ihr die wuchtige Eingangshalle des Palais.

Die Bediensteten staunten gehörig, als die kurz zuvor noch so schwach wirkende Herrin das Haus verließ. Schon wenig später saßen die beiden jungen Frauen auf einer Holzbank inmitten blühender Margeriten, Rosensträucher, weißem Sommerflieder und überschwänglich rankender Clematis und atmeten tief den herrlichen Duft der Blütenvielfalt ein. Eine Voliere aus schwarzen, gedrehten Eisenstäben thronte neben ihnen. Hinter dem Gitter flatterten kleine Vögel in so vielen bunten Farben wild durcheinander, wie Anki sie niemals zuvor gesehen hatte. Sie vermutete, dass sie aus exotischen, weit entfernten Ländern stammten.

Ljudmila schwieg und platzierte ihren zierlichen Schirm geschickt so, dass die Sonne ihr nicht ins Gesicht schien. Sie schloss die Augen und genoss die Wärme, den Duft und den fröhlichen Gesang der Vögel in ihrem Käfig und in den Zweigen der Bäume.

Zufrieden über ihren kleinen Sieg ließ Anki sie gewähren, obwohl sie viele Fragen beschäftigten, vor allem nach diesem eigentümlichen Satz mit der Brücke. Im Moment war sie glücklich, ihre Freundin aus ihrer düsteren Melancholie gelockt zu haben.

»Anki? Was ist mit Jevgenia Ivanowna?«

Diese Frage hatte Anki tief in ihrem Herzen gefürchtet. Ob die Komtess die Wahrheit bereits ertrug? Sie zögerte und wog ab, wie viel sie preisgeben und welche Details sie besser verschweigen sollte.

»Anki, bitte. Seit Tagen liege ich in diesem Bett, höre die Menschen im Haus murmeln und weinen. Ich denke nicht, dass Herzogin Bobow bei ihrem Besuch meinetwegen weinte oder Herzog Bobows mühsam unterdrückter Zorn an meinem Zustand lag«, sagte Ljudmila mit bebender Stimme. Sie legte den Schirm achtlos ins Gras und ergriff Ankis Hände.

»Jevgenia Ivanowna wurde noch immer nicht gefunden«, begann Anki zögernd. »Ihre Eltern und Geschwister sind verzweifelt – und wütend. Zwei Damen, die sich damals mit dir und Jevgenia im Nowaja Derewnja-Rajon in diesem Zigeunerlokal aufhielten, haben ausgesagt, Jevgenia und du hätten die Villa Rhoda gemeinsam mit Rasputin verlassen. Das war das letzte Mal, dass jemand die Herzogin sah.«

»Die Brücke …« Ljudmilas Worte waren nicht mehr als ein Hauch.

»Eine Brücke? Die aus deinen Träumen, von der du mir erzählt hast?«

Ljudmila schüttelte heftig den Kopf, wobei die Sonne goldene Reflexe über ihr kupferfarbenes Haar tanzen ließ. »Nein, eine andere Brücke. Die Erinnerung daran ist irgendwo …« Ljudmila schlug sich mehrmals mit den flachen Händen gegen ihre Stirn. »Irgendwo hier drin.« Sie stieß die Worte keuchend aus und zog dabei ein verzweifeltes Gesicht, das verdeutlichte, wie fieberhaft die Russin nach Antworten suchte. »Es war dunkel. Die Brücke war ein schwarzes Etwas über ein genauso schwarzes Gewässer …« Sie brach ab und vergrub ihr Gesicht hinter ihren bebenden Händen.

Anki blies die Wangen auf und ließ die Luft langsam wieder entweichen. War Jevgenia in einem angeheiterten oder ebenfalls umnebelten Zustand von einer Brücke gestürzt? Die Mauern entlang der Kanäle boten keinen Halt. Zu später Stunde, wenn die Straßen menschenleer im Dunkeln lagen, war es durchaus möglich, dass niemand sie im Wasser treiben sehen hatte, was zwangsläufig ihr Todesurteil bedeutet hätte. Mehrere Hundert Brücken spannten sich über die Wasserstraßen zwischen den 42 Inseln hinweg, auf denen die Stadt im sumpfigen Neva-Delta erbaut worden war. Nicht umsonst nannte man St. Petersburg das Venedig des Nordens. Der Nowaja Derewnja-Rajon, in dem sich das Zigeunerlokal Villa Rhoda befand, war unter der Bezeichnung Die Insel bekannt. Er war von einer Vielzahl von Kanälen durchzogen, die alle in die Neva mündeten. Es würde nahezu unmöglich sein, die betreffende Brücke und somit Jevgenias Leichnam zu finden.

Anki wollte ihre Freundin nicht drängen, in ihrem angeschlagenen Gedächtnis nach Erinnerungen zu forschen. Ihre Angst, sie könnte daraufhin wieder in apathisches Schweigen verfallen, hielt sie davon ab.

»Liebes? Ist das nicht zu anstrengend für dich?« Ljudmilas Mutter, in einem federleichten Traum von einem sommerlich-weißen Teekleid, näherte sich ihrer Parkbank.

Sofort sprang Anki auf und sank in einen Knicks, wurde von der Gräfin aber ignoriert. »Ob dieser Ausflug ein guter Gedanke war, Luda?«

»Ein guter Gedanke, Mutter? Der allerbeste, den Anki je hatte. Ich bin aufgestanden, obwohl ich dachte, mein Leben sei bereits vorüber.« Ljudmila klang längst nicht so fröhlich, wie es ihre Worte vermuten ließen. Doch der Versuch, ihre überbesorgte Mutter zu besänftigen, gelang. Sie setzte sich neben ihre Tochter und legte fürsorglich den Arm um sie. Aus dem Blick der Mutter sprach tiefer Kummer. Offenbar hielt sie Ljudmilas Leben sehr wohl für beendet. Ob die Aristokratin damit haderte, einem zukünftigen, gesellschaftlich hochstehenden Schwiegersohn keine unversehrte Braut mehr zuführen zu können?

»Mutter, stell dir vor: Die Chabenskis haben mich eingeladen, sie in ihr Landhaus in Zarskoje Selo zu begleiten.«

Anki konnte ihre demütige Haltung nicht länger beibehalten. Sie wich mit gerunzelter Stirn hinter ein paar Sonnenblumen und einen Strauch Sommerflieder zurück, die mit ihren leuchtend gelben und weißen Blüten die pure Lebenslust verkündeten. Ihre Freundin musste doch wissen, dass ihr Vorschlag keiner Einladung der Familie Chabenski gleichkam!

»Das ist eine freundliche Geste, mein Kind. Vielleicht wäre es gut, das großmütige Angebot Fürstin Chabenskis anzunehmen. Du kannst dich in ihrer Sommerresidenz erholen, und Dr. Botkin wird in deiner Nähe sein. Soweit ich unterrichtet bin, pflegen die Chabenskis in Zarskoje Selo Kontakte mit anderen Adelshäusern, auch mit Familien außerhalb Petersburgs. Besuchten nicht vor ein paar Jahren sogar Delegationen der niederländischen und englischen Königshäuser eine Matinee im Sommerhaus?«

Für Gräfin Zoraw war Ljudmilas Besuch bei den Chabenskis wohl eine ausgemachte Sache, und Anki würde zusehen müssen, wie sie dies ihrer Arbeitgeberin vermittelte.

»Im Augenblick möchte ich dich gern hineinbegleiten. Ich fürchte, es ist hier draußen zu kühl. Und zudem haben wir eine Menge für deinen Aufenthalt in Zarskoje Selo vorzubereiten.«

»Ich will mich noch von Anki verabschieden, Mutter.«

»Ja, richtig. Das deutsche Fräulein.«

Ljudmila erhob sich und trat zu Anki unter den Sommerfliederbusch. »Entschuldige bitte. Ich hoffe, ich bringe dich jetzt nicht in Verlegenheit. Aber deine Idee, meiner Mutter eine Weile zu entkommen, war zu verlockend. Sie wird mich nur in Daunen packen, und ich zerbreche dennoch. Du tust mir gut.«

»Ist schon gut«, beschwichtigte Anki. »Fürstin Chabenski hat ein gutes Herz. Sie war außer sich, als sie von deinem und Jevgenia Ivanownas Verschwinden erfuhr, und sie ist in großer Sorge um deine Gesundheit. Bestimmt freut sie sich über deine Genesung und nimmt meinen Vorschlag gern auf, dir das bessere Klima auf dem Land zugutekommen zu lassen.«

»Ich freue mich so.«

Anki suchte in Ljudmilas Gesicht ein Zeichen dafür, ob ihre Worte wirklich das ausdrückten, was sie empfand. Aber sie forschte vergebens nach einem Lächeln oder dem früher so unternehmungslustigen Aufblitzen in den grünen Augen.

»Ich lasse dir eine Nachricht zukommen«, versprach sie und wartete, bis Ljdumila und ihre Mutter im Haus verschwunden waren. Unter einigen Mühen brach sie einen Zweig mit mehreren weißen Fliederblüten ab, bevor sie zum Tor spazierte. Von dort trat sie auf die Straße, die zum Nevskij Prospekt führte.

Der Weg zur Mojka war weit, aber Anki war nicht in Eile. Fürstin Chabenski hatte ihr den gesamten Nachmittag und Abend freigegeben, damit sie sich um ihre kranke Freundin kümmern konnte.

Sie hatte erst ein paar Meter zurückgelegt, als hinter ihr schnelle Schritte erklangen. In der Annahme, einer der Bediensteten laufe ihr nach, da sie noch eine Nachricht an die Fürstin überbringen sollte, wandte sie sich um.

Zu ihrem Erstaunen stand sie Robert gegenüber. Er lächelte fröhlich, zog den Canotier und verbeugte sich galant. »Fräulein van Campen, wie schön, Sie zu treffen. Guten Tag.«

Anki benötigte einen Moment, bevor sie von der russischen auf die deutsche Sprache umschalten konnte, erwiderte dann aber seinen Gruß.

»Darf ich Sie begleiten?«, fragte er und deutete mit der Hand die Straße hinab.

»Gern, sofern Sie in die gleiche Richtung möchten.«

»Die Richtung, in die Sie gehen, erscheint mir als die richtige.«

Anki lachte leise und setzte ihren Weg fort, dabei streifte der Zweig über Roberts Jackett. »Entschuldigen Sie bitte«, beeilte sie sich zu sagen.

»Meine Schuld. Ich müsste eigentlich wissen, dass man einer Dame, die einen Baum durch die Straßen trägt, nicht zu nahe kommen darf.«

Erneut lachte Anki fröhlich auf. In ihrem Inneren schienen sich die Fesseln zu lösen, die seit dem Verschwinden der beiden Adelstöchter ihr Herz umschlungen hatten. Ljudmila würde es sicher bald bessergehen. Deshalb gestattete sie es sich, die heitere Aufmerksamkeit des charmanten Mannes in ihrer Begleitung zu genießen.

»Wäre ich dazu in der Lage, würde ich tatsächlich den ganzen Baum mitnehmen«, erklärte sie ihm. »Die Chabenskis haben bei ihrem Stadthaus keinen Garten, und ich finde diesen weißen Sommerflieder wunderschön.«

Robert blickte auf die Blüten und wieder zurück zu ihrem Gesicht. Obwohl sie das Gefühl hegte, er wolle etwas sagen, schwieg er. Allerdings jagte die Intensität seines Blickes ihr einen aufregenden, warmen Schauer über den Rücken. Für einen Augenblick schien die Welt stillzustehen. Dann wandte Robert sich ab, und sie schritten in einem Schweigen, das sie keineswegs als unangenehm empfand, nebeneinanderher in Richtung Admiralität.

Entlang des Gostinyj Dvor mussten sie sich zwischen den dort wartenden Droschken, Landauern und Wankas, den kleinen Kutschen des Personals, hindurchzwängen. Unbehaglich sah Anki sich um. Ihr missfiel das Gefühl, zwischen all diesen Fahrzeugen eingesperrt zu sein wie die Vögel in Ljudmilas Voliere. Sie raubten ihr den Überblick und als Folge davon auch ein bisschen den Atem. Um der Enge zu entkommen, drückte sie sich eilig an den zwei letzten dicht nebeneinanderstehenden Kutschen vorbei. Endlich erreichten sie die Dumskaja Straße.

Mit aufheulendem Motor schoss ein dunkelgrünes Automobil direkt auf sie zu. Der Fahrer, entweder unaufmerksam oder von der Sonne geblendet, wollte ohne abzubremsen den Nevskij Prospekt überqueren. Ein Landauer rollte ihm in den Weg. Geistesgegenwärtig riss der Kutscher seine Pferde herum, um diese vor dem Zusammenprall mit dem motorisierten Fahrzeug zu bewahren. Die aufgeschreckten Tiere drängten gegen Anki. Diese stieß einen erschrockenen Schrei aus. Vor sich sah sie nur die weit aufgerissenen Augen der Pferde und hörte ihr aufgeregtes Schnauben. Die dunklen, massigen Körper bedrängten sie immer vehementer. Anki war unfähig, sich von der Stelle zu rühren. Die Tiere würden sie zerquetschen! Oder zertrampeln! Der Fliederzweig entglitt ihrer Hand und fiel zu Boden. Hektisch stampfende Hufe zertraten die Blüten.

Plötzlich umgriff ein starker Arm Anki und schob sie zurück. Mit seiner freien Hand schlug Robert nach dem schwarzen Pferd, das noch immer in ihre Richtung drängte. Es warf sich zur Seite, soweit dies das zweite Kutschpferd neben ihm zuließ.

Anki, die von Robert noch immer rückwärts vor ihm hergeschoben wurde, stolperte über einen losen Pflasterstein. Verzweifelt klammerte sie sich mit beiden Händen an seinem Arm fest. Doch nichts konnte verhindern, dass sie das Gleichgewicht verlor. Sie stürzte und schlug hart mit dem Hinterkopf auf dem Boden auf.

***

Mühsam, da ihre Lider ihr nicht gehorchen wollten, öffnete Anki die Augen. Ein dumpfer Schmerz in ihrem Kopf ließ sie die Stirn runzeln. Was war geschehen? Weshalb lag sie auf den Pflastersteinen?

Die Erinnerungen kehrten schnell zurück: Sie war gestürzt! Aber wo war das Pferd, das sie bedrängt hatte? Anki wollte sich eilends aufrichten und sehen, ob sie vor dem wuchtigen Tier fliehen musste, doch zwei starke Hände drückten sie an den Schultern zu Boden. Roberts besorgt dreinblickendes Gesicht erschien über ihr. Sein sonst immer sorgfältig frisiertes Haar hing ihm wild in die Stirn.

Anki kämpfte gegen die Versuchung an, die in Roberts Stirn fallenden Strähnen zurückzustreichen. Irritiert darüber und von einem zunehmenden Kopfschmerz übermannt schloss sie die Augen wieder.

»Sehen Sie mich bitte an.« Roberts Worte klangen beinahe wie ein Befehl, was Anki sofort gehorchen ließ. Ganz im Gegensatz zu seiner Stimme zeugten seine braunen Augen von großer Besorgnis. »Wie heißen Sie?«

»Anki van Campen. Mir geht es ganz gut, bis auf die Kopfschmerzen.«

»Noch liegen Sie«, winkte der Medizinstudent knapp ab.

»Das Pferd hat Sie nicht getroffen?«, fragte sie besorgt und erschauerte bei der Erinnerung an den großen Kopf, den massigen Körper und die eisenbeschlagenen Hufe des Zugtieres.

Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Mannes, und die Grübchen in seinen Wangen wirkten eigenartig beruhigend auf sie. »Mir ist nichts geschehen und den Pferden auch nicht. Der Kutscher ist ein bisschen verstört, weil er glaubte, Sie seien unter die Räder gekommen. Allerdings brauste der rücksichtslose Automobilfahrer einfach davon.«

»Meine Schwester schrieb mir, dass in Berlin inzwischen Polizisten zum Regeln des Verkehrs auf den Straßen stehen.«

»Das kann ich mir lebhaft vorstellen! Berlin ist neben einer dauerhaften, beinahe größenwahnsinnigen Großbaustelle eine absolut automobilverrückte Stadt.«

»Ich möchte mich aufsetzen«, wagte Anki zu sagen, obwohl die Schmerzen in ihrem Kopf ständig zunahmen. Aber sie konnte ja nicht ewig auf dem Boden liegen und Roberts Grübchen und die freche Haarlocke betrachten, die in seine Stirn fiel.

»Ich stütze Sie. Aber bitte seien Sie ganz behutsam. Falls Ihnen schwindelig wird, legen Sie sich sofort wieder hin.«

Anki spürte seinen Arm unter ihrer Schulter und richtete sich mit seiner Hilfe auf. Erst jetzt bemerkte sie die um sie versammelte Menschenmenge. Männer, Frauen, Kinder und sogar ein paar Soldaten starrten sie, Robert und den aufgeregten Kutscher neugierig an, der sich um seine Pferde kümmerte.

Einem Reflex folgend presste sie ihr Gesicht in Roberts Weste.

»Ist schon gut«, versuchte Robert sie zu beruhigen und drückte sie schützend an sich. Sie ließ es geschehen und fühlte eine wohlige Geborgenheit mit einem Funken prickelnder Aufregung in sich.

»Meine Rösser sind jetzt wieder ganz ruhig. Wenn die junge Dame möchte, könnte ich sie nach Hause fahren«, bot der Kutscher an, dessen Stimme zerknirscht klang.

Anki drehte den Kopf, um an Roberts Arm vorbei einen Blick auf das bärtige Gesicht des Droschkenkutschers zu werfen. Der verbeugte sich in ihre Richtung und meinte: »Entschuldigen Sie bitte den Schrecken, den meine Pferde Ihnen eingejagt haben.«

»Sie triff keine Schuld. Es war dieses Automobil …« Das Sprechen fiel Anki schwer, so penetrant fiel das Dröhnen in ihrem Kopf aus. Widerstrebend löste sie sich von Robert und bat ihn schüchtern um Verzeihung.

»Ich trage Sie in die Kutsche«, schlug er leise vor.

»Ich kann bestimmt gehen.«

»Keine Widerrede, bitte. Sie sind hart auf den Hinterkopf gefallen und sehen sehr blass aus.« Ohne weitere Widerworte abzuwarten hob Robert sie hoch. Dabei kam ihr Kopf an seiner Schulter zu liegen, sodass sie mit jedem Atemzug den Duft seines Rasierwassers einatmete. Er trug sie behutsamen Schrittes zur Droschke, während der Kutscher ihnen eine Gasse durch die Menge der Schaulustigen bahnte und die Tür aufhielt.

»Lehnen Sie sich am besten in die Ecke. Ich gebe dem Fahrer die Adresse der Chabenskis und setze mich anschließend neben Sie.«

Anki folgte seinem Vorschlag und setzte sich in eine Ecke der Kutsche, froh darüber, dass sie ihren Kopf anlehnen durfte. Jede noch so leichte Bewegung schmerzte sie unerträglich. Deshalb gelang es ihr beim ersten Anrucken des Gefährts auch nicht, ein gequältes Aufstöhnen zu unterdrücken.

Robert beugte sich ihr entgegen und ergriff ihre verkrampften Hände. »Der Weg zu den Chabenskis ist Gott sei Dank nicht weit.«

»Ja.« Anki flehte im Stillen Gott an, dass sie diese Fahrt überleben würde, so stark empfand sie ihre Schmerzen.

***

Die Kutsche stand still. Nur das Schnauben der Pferde und das Knarren des Geschirrs drangen ungewohnt laut in das Wageninnere. Waren sie bereits an ihrem Ziel angelangt? Irritiert öffnete Anki die Augen und bemerkte zu ihrer Überraschung, dass sie in Roberts Armen lag. Sie hörte sein kräftig schlagendes Herz, sein Atem strich über ihren Nacken, da ihr Kopf an seiner Brust ruhte, während sein linker Arm sie stützte. Sie musste erneut das Bewusstsein verloren haben, dieses Mal über einen längeren Zeitraum.

Vorsichtig richtete sie sich auf, wobei ihr Gesicht dem seinen sehr nahe kam. »Entschuldigen Sie bitte.« Mehr als ein Flüstern brachte sie nicht zustande.

Robert sah sie lange ernst an und hielt ihren Blick dabei mühelos gefangen. In seinen Augen schienen Sorge und Freude zugleich zu liegen. Erneut bescherte seine Nähe ihr dieses aufgeregte, nahezu berauschende Gefühl.

»Es ist an mir, um Verzeihung zu bitten. Als Ihr Begleiter habe ich nicht gut genug auf Sie achtgegeben.«

Bevor Anki ihm widersprechen konnte, legte er seinen Zeigefinger zart auf ihre Lippen und entließ sie aus seinen Armen, indem er sie überaus vorsichtig aufrichtete.

Von draußen drangen eilige Schritte und erregte Stimmen in das Kutscheninnere. Selbst diese Geräusche empfand Anki als viel zu laut und aufdringlich.

Der Kutscher öffnete die Tür, und sie blickte in das erschrockene Gesicht von Fürstin Chabenski. »Wie geht es Ihnen, Fräulein Anki? Der gute Mann hier hat mich mit seiner Nachricht furchtbar erschreckt. Sie sehen tatsächlich sehr mitgenommen aus. Herr Busch, ob Sie unsere Njanja hineintragen könnten?« Fürstin Chabenski rang nervös die Hände und trat beiseite, als der Student ausstieg. Er verbeugte sich, doch die Frau wehrte fast unwirsch ab. »Bringen Sie das Mädchen bitte in den Weißen Salon. Dort hält Fräulein Anki sich gern auf und wird sich wohlfühlen. Was ist denn nur geschehen?«, stammelte ihre Arbeitgeberin aufgeregt.

Robert wartete, bis Anki auf der Sitzbank an die Tür gerutscht war, bevor er sie erneut auf seine Arme nahm. Während er mit ihr durch das Foyer schritt, hörte sie zu ihrer Erleichterung, dass Fürstin Chabenski den Kutscher hereinbat, damit er eine Mahlzeit und eine Entlohnung für seine Dienste erhielt.

Behutsam stieg Robert die Stufen hinauf und bettete Anki überaus sanft auf die Chaiselongue des Weißen Salons. Er erhob sich, drehte sich um und schob mit einer flinken Handbewegung ein gerahmtes Bild vor den Schrumpfkopf, was Anki ein zaghaftes Lächeln entlockte.

»Wir wollen ja, dass es Ihnen rasch besser geht, wobei ich befürchte …« Robert kniete vor sie und betastete vorsichtig ihren Hinterkopf.

»Was ist mit Fräulein Anki?«, wollte die vom schnellen Treppensteigen atemlose Fürstin wissen. Mit besorgter Miene ließ sie sich auf einem Stuhl nahe Ankis Lager nieder.

»Eine Gehirnerschütterung, Hoheit. Mit viel Ruhe in einem abgedunkelten Raum dürfte Ihre Njanja bald wiederhergestellt sein.«

»Gott sei Dank! Ich stelle Nadezhda zu ihrer Pflege ab. Kommen Sie bitte, lassen wir Fräulein Anki schlafen, und Sie unterweisen währenddessen Nadezhda.«

Anki fühlte sich entsetzlich müde und der Schmerz in ihrem Kopf signalisierte ihr, möglichst jede unbedachte Bewegung zu vermeiden. Sie spürte, wie Robert seine Hand einen Wimpernschlag lang zärtlich auf ihre Wange legte, ehe er sich erhob und der Fürstin hinausfolgte. Sie ließ die beiden gehen, obwohl sie gern in ihr eigenes Zimmer gebracht worden wäre. Von draußen drangen die aufgeregten Stimmen der Mädchen herein. Ihre Schützlinge wollten wissen, was mit ihrer Njanja geschehen war. Die Antwort des Arztes und das Schließen der Tür nahm Anki nur noch wie durch einen dichten, alle Geräusche verschluckenden Nebel hindurch wahr, bevor sie einschlief.