Kapitel 30

Bei Gorlice, österreichisches Kronland Galizien, Polen,
April 1915

Dichte Nebelschwaden, von der tief im Osten stehenden Sonne in lichtes Weiß getaucht, lagen über der sanft gewellten Hügellandschaft, verhüllten das üppige Grün der Auen und Bäume und das Blau der Weichselzuflüsse. Nicht verbergen konnte der Bodennebel die Schützengräben entlang des Frontabschnittes, die notdürftig erbauten Unterstände und die Zelte neben dem ehemaligen Rathaus, in dem ein Frontlazarett eingerichtet worden war. Während die ersten Sonnenstrahlen über die Bäume strichen und den Frühnebel aufzulösen begannen, erhoben immer mehr Vögel ihre Stimmen zu einem fröhlichen Morgengruß. Der würzige Duft feuchter Erde und morastiger Wiesen breitete sich aus.

Robert stand auf der obersten Stufe der halbrunden Freitreppe, atmete tief den würzigen Geruch ein und schloss die Augen, als die Sonnenstrahlen sein Gesicht streichelten. Für einen Moment vergaß er all das Elend um sich herum und den Schmerz in seinem Herzen. Er genoss die wohltuende Frische des jungfräulichen Tages.

Eine Bewegung neben ihm ließ ihn die Augen wieder öffnen. Sein Vorgesetzter trat zu ihm, verschränkte die Arme in der blutdurchtränkten Uniformjacke vor seiner Brust und sah zu, wie die Farbintensität der Landschaft zunahm, sobald sie von der Sonne liebkost wurde.

»Sie dürfen sich nicht zu sehr reinhängen, Busch.«

»Ich hatte eine reelle Chance, den Artilleristen zu retten.«

»Und in dieser Zeit brauchten zwei andere Männer ebenfalls Ihre ärztliche Hilfe! Hören Sie, Sie sind ein junger Arzt; erst seit ein paar Wochen an der Front. Dass Sie alles richtig machen und dem Soldaten auf Ihrem Tisch alle Aufmerksamkeit zukommen lassen wollen, die seine Verletzung im Friedensfall bräuchte, ist völlig normal. Dennoch bin ich gezwungen, Sie darauf hinzuweisen, dass Sie nicht so viel Zeit mit einem einzigen Patienten vertändeln dürfen. Arbeiten Sie schneller, sortieren Sie gezielter aus, wer zu schlechte Chancen hat, den Tag oder eine Verlegung in Richtung Heimat zu überleben.«

»Das ist grausam und entwürdigend.«

»Aber unsere einzige Möglichkeit, dem Ansturm an Verletzten halbwegs gerecht zu werden. Sie zählen die Toten mittlerweile nicht mehr einzeln, sondern geben sie in Tausenderzahlen an. Busch, dieser Krieg ist die Hölle, und Sie und ich stecken mittendrin.«

Robert nickte. Die Hand des Oberarztes fiel schwer auf seine Schulter. »Sie werden das lernen. Ansonsten gibt es an Ihrer Arbeit nichts auszusetzen. Sie sind ein hervorragend ausgebildeter, präzise arbeitender Arzt!«

Wieder nickte Robert und drehte sich um. Dabei ignorierte er den wachsenden Berg abgeschnittener Gliedmaßen zwischen dem Rathaus und einem angrenzenden Gebäude, der neben Fliegenschwärmen auch streunende Hunde und sich selbst überlassene Schweine anlockte.

Mit der Schulter drückte er den schweren, mit Intarsien versehenen Türflügel des Eingangsportals auf. Sonnenstrahlen fielen durch die hohen, wunderschön verzierten Schmuckfenster auf die in Reih und Glied aufgestellten Feldbetten. Die Verletzten lagen entweder in desillusionierter Ergebenheit still, wanden sich laut jammernd vor Schmerz oder stießen wüste Flüche aus.

Robert verharrte, umgeben von dem immer gleichen Geräuschpegel und dem penetranten Gestank, in dem sich seine Kollegen und einige tapfere Rotkreuzschwestern mit müden, verhärmten Gesichtern um die Soldaten bemühten.

Robert hatte sich freiwillig für die Ostfront gemeldet, weil er damit Anki deutlich näher war als an einem westlichen Frontabschnitt. Dennoch blieb sie unerreichbar weit von ihm entfernt. Er wollte sich ihre schön geschnittenen Gesichtszüge und ihre schlanke Figur vorstellen, aber sein inneres Bild von ihr wurde von Tag zu Tag unschärfer, als verflüchtigten sich seine Erinnerungen an die geliebte Frau mit jeder Stunde, die er von ihr getrennt war, mehr. Es schmerzte ihn, sich ihre Stimme mit dem leichten niederländischen Akzent nicht mehr ins Gedächtnis rufen zu können, und er fragte sich, ob die Liebe zwischen ihnen ebenso rasch schwand wie seine Vorstellungskraft. Aber warum spürte er dann diesen brennenden, bohrenden Schmerz in seinem Herzen?

Es tröstete ihn nicht, dass viele der Männer um ihn her ein ähnliches Schicksal teilten. Auch sie waren getrennt von ihren Freundinnen, Verlobten und Ehefrauen. Allerdings befanden sie sich immerhin in der glücklichen Lage, dass sie ihnen schreiben konnten. Sie erhielten Briefe und kleine Pakete. Er besaß nichts dergleichen, nicht einmal mehr Ankis Abschiedsgruß, den sie seiner Mutter zugesteckt hatte. Der Brief war ihm mitsamt seiner Brieftasche gleich am ersten Tag seiner Anwesenheit in diesem Lazarett entwendet worden. Robert fühlte sich, als wolle jemand jede Erinnerung an Anki, selbst den letzten Beweis ihrer Existenz vernichten.

Das knirschende Geräusch sich nähernder Pferdefuhrwerke, begleitet von unmenschlichen Schreien, verriet Robert die Ankunft neuer Verletzter von der nur wenige Kilometer entfernt gelegenen Front. Er drehte sich um, stemmte auch den zweiten Türflügel auf und rief ein paar Sanitäter zu sich, die ihm beim Ausladen der menschlichen Fracht zur Hand gehen sollten. Unterdessen schleppten andere Männer eilig die jüngst Verstorbenen heraus, während zusätzliche Feldbetten in den ohnehin engen Durchgängen zwischen den Reihen aufgestellt wurden. In einem angrenzenden Zimmer, in dem zwischen Stuck, Ahnenbildern, wertvollem Nussparkett und Kronleuchtern ein Operationssaal eingerichtet worden war, entstand Hektik.

Der leitende Sanitätsoffizier bellte Roberts Name durch die Halle und fügte hinzu, als er sich vorschriftsmäßig anwesend meldete: »Sie bekommen momentan nur einen Patienten unters Messer. Er könnte wichtig für uns sein. Ein russischer Offizier!«

Robert drückte sich an den hektisch agierenden Menschen vorbei und betrat den Operationssaal. Alle bittersüßen Gedanken an Anki schloss er tief in seinem Herzen ein. Jetzt galt es zu handeln, zu funktionieren.

***

Dem stämmigen Verletzten hing die Uniform in Fetzen vom Körper. Gesicht, Hände und Oberkörper waren auf dem Verbandsplatz notdürftig versorgt worden. Als Robert den Mull entfernte, blieben verkohlte Hautfetzen an diesem hängen. Rohes Fleisch, zum Teil schwarz verbrannt, kam darunter zum Vorschein.

Robert gelang es kaum, einen der üblen Flüche zu unterdrücken, die er tagein, tagaus zu hören bekam. Er verachtete sowohl die neuerdings stattfindenden Versuche, mit verschiedenen toxischen Gasen eine hochwirksame, aber zutiefst menschenverachtende Waffe herzustellen, wie auch den Einsatz von Flammenwerfern als Kriegsinstrument.

»Mein Gott«, murmelte Schwester Rosalie beim Anblick des Verletzten und fügte bissig hinzu: »Der soll den Kerl besser gleich holen! Oder meinetwegen auch der Teufel!«

Robert ignorierte die zierliche blasse Rotkreuzschwester, die ihr Entsetzen einmal mehr in beißenden Zynismus packte.

»Versuchen Sie, den Oberst durchzubekommen, Busch. Man möchte ihm einige Fragen stellen. Außerdem könnte er für einen etwaigen Austausch nützlich sein. Die russischen Offiziere entstammen alle ausnahmslos dem Hochadel«, rief sein Vorgesetzter herüber, ehe er den Raum durch eine Verandatür verließ.

»Ist das bei uns anders?«, fauchte Rosalie und ging Robert routiniert zur Hand. »Hier steckt eine Kugel in der Brust. Der Kerl gehört offenbar zur ganz zähen Sorte.«

»Sie reinigen die verbrannten Stellen, entfernen abgestorbenes Gewebe und decken alles schnell und möglichst sauber ab. Ich kümmere mich um die Kugel«, wies Robert an, da er sich von der kleinen, resoluten Schwester nicht vollständig das Heft aus der Hand nehmen lassen wollte. Zudem würde sie, war sie erst beschäftigt, hoffentlich auch den Mund halten.

Die nächsten zwei Stunden arbeiteten sie schweigend zusammen. Nachdem es Robert gelungen war, die Kugel zu entfernen, landete sie klappernd in einer blutigen Auffangschale. Zügig schloss er die Wunde und fragte sich mit einem Blick auf den wüst zugerichteten Körper des Mannes, ob seine Bemühungen nicht sinnlos waren. Seine bisherigen Erfahrungen sagten ihm, dass kein Mensch derartige Verbrennungen überlebte. Und die Soldaten, die das ein paar Stunden lang taten, wünschten sich unter fürchterlichen Qualen ihren Tod herbei.

Nachdem der Offizier versorgt war, verschwand Schwester Rosalie und Robert gönnte sich eine Pause, indem er sich auf einem Stuhl am Kopfende des Tisches niederließ. An zwei anderen Operationstischen arbeiteten seine Kollegen unermüdlich weiter. Wie von weit her hörte Robert ihre Anweisungen, vernahm das Stöhnen der Verletzten aus dem Nebenraum und die Ankunftsgeräusche neuer Verwundetentransporte. Inzwischen erwärmte die Sonne den Raum, dessen ausladende Fenster ihr ausreichend Gelegenheit boten, ihn mit ihren Strahlen zu durchfluten.

In seiner Erschöpfung glaubte Robert das Lachen von Kindern, die fröhlichen Stimmen von Erwachsenen und die gespenstischen Klänge eines Klaviers und einer Geige zu hören. Hatte so das Leben in diesem Rathaus mit angrenzendem Festsaal ausgesehen, bevor die Länder in blinder Wut übereinander hergefallen waren?

Das Zucken der Finger seines Patienten ließ Robert auf die Füße springen. Unter dem Kopfverband blickten ihn zwei dunkle Augen mit leicht apathischem Blick an. Sein spezieller Patient war wach, aber mit Sicherheit nicht in der Lage, sich der Befragung deutscher Offiziere zu stellen. Der Russe bewegte die aufgeplatzten, verbrannten Lippen, doch die Worte, die er murmelte, waren für Robert nicht zu verstehen, obwohl er des Russischen mächtig war. Das flüchtige Lächeln des Obersts, angesichts seiner Verbrennungen mehr eine hässliche Fratze, ließ ihn die Stirn runzeln. Wie kam der Verletzte dazu, einen deutschen Armeearzt anzulächeln? Wieder versuchte der es mit dem Sprechen, und Roberts Augen weiteten sich, als er in den undeutlich artikulierten Lauten seinen eigenen Namen verstand.

Dieser Mann kannte ihn!

Sofort schoss Robert der Gedanke durch den Kopf, dass der adelige Offizier aus Petrograd stammen musste und ihn in seiner Assistenztätigkeit bei Dr. Botkin kennengelernt hatte.

»Wer sind Sie?«, fragte er und beugte sich tief zu dem Verletzten herunter.

»Chabenski«, lautete die mühsam hervorgestoßene Antwort.