Kapitel 29
Paris, Frankreich,
April 1915
Philippe ballte die Hände zu Fäusten und gab es auf, Karl Roth weiterzuverfolgen. Während der vergangenen zwei Wochen hatte er gemeinsam mit zwei deutschen Spionen versucht, hinter das Geheimnis des Eindeckers zu gelangen, der durch den Propellerkreis feuern konnte und deshalb eine große Anzahl deutscher Jagdflieger auf dem Gewissen hatte. Dabei war er in den Straßen von Paris wieder über Roth gestolpert, der ihm in diesem Augenblick ein zweites Mal entwischt war.
Philippe war sich nicht im Klaren darüber, ob sein ehemaliger Unteroffizier für die Deutschen, für die Franzosen oder womöglich für beide Länder zugleich spionierte. Er hatte noch eine persönliche Rechnung mit ihm offen, denn sein Verdacht, Roth habe mit seiner Verwundung und dem Tod von Udako und ihrem Schützling zu tun, war nie ausgeräumt worden. Heute war Roth erneut vor ihm geflohen, nachdem Philippe ihn an einem geheimen Treffpunkt der Deutschen gesehen hatte. In Philippes Augen kam dieses Verhalten einem Schuldeingeständnis gleich!
Missgestimmt, weil der Kerl ihm in den Gassen von Paris erneut entwischt war, warf er einen Blick auf die Uhr und schrak zusammen. Er musste dringend zurück zu seinem versteckten Flugzeug, denn das Zeitfenster für seinen Rückflug durch den umkämpften Luftraum war eng gesteckt.
Der Oberleutnant, in diesen Tagen in Zivil und darauf bedacht, unerkannt zu agieren, stieg in den Fond des Wagens, der ihm für die Zeit seines Aufenthaltes in Paris zur Verfügung gestellt worden war. Er wies den kleinen Deutschfranzosen an, wohin er ihn chauffieren sollte. Kein bisschen unauffällig schoss der schwarze Peugeot durch die Straßen der französischen Metropole und dann durch die Vororte hinaus aufs Land. Mit einem wehmütigen Lächeln auf den Lippen betrachtete Philippe die vorbeihuschenden Ländereien der Duponts. Die Möglichkeit, seinem Freund Claude einen Besuch abzustatten, gab es leider nicht. Seine Anwesenheit in Frankreich war zu geheim, als dass er sich nach dem Ergehen der Familie Dupont erkundigen durfte.
Sein Chauffeur war ein schneidiger Fahrer, und so ließ Philippe ihn bereits eine Stunde später anhalten. Grinsend nahm der Mann die Bezahlung für seine Dienste entgegen.
Philippe schulterte seinen Rucksack und sah sich wachsam um. Links von ihm breitete sich die dunkle Erde frisch gepflügter Äcker aus, dazwischen erhoben sich blühende Obstbäume in den makellos blauen Himmel. Ein Bauernhaus lag inmitten der Idylle. Auf der gegenüberliegenden Seite bot die Landschaft durch vereinzelte Granattrichter, abgeholzte Bäume und die Ruinen zweier verbrannter Häuser ein Bild der Zerstörung, die von einer kurzen, sich schnell wieder verlagernden Schlacht zeugten. Dieser Krieg dauerte inzwischen deutlich länger an, als es der Bevölkerung beider Seiten vorhergesagt worden war.
Philippe sah sich ein weiteres Mal um. Wie erhofft machte er weder bei dem intakten Bauernhof noch in dessen Umfeld eine Person aus, sodass er gemeinsam mit dem Chauffeur einen Schafstall betrat. Dort zerrten sie die inzwischen verdorrten, zur Tarnung angebrachten Äste beiseite und legten sein selbst gebautes Flugzeug frei. Erleichtert, dass es unentdeckt geblieben war, zog Philippe sich seine Fliegermontur über. Dazu gehörte noch immer der inzwischen verwaschene, leicht ausgeleierte Pullover, den Jennifer Howell, die Schwester eines britischen Freundes, ihm in Afrika geschenkt hatte.
Philippe schnallte den Rucksack auf dem zweiten Sitz fest, ehe er sich in den Pilotensitz hievte und den Motor mithilfe des Chauffeurs startete. Gleich darauf sprang der wieder in den Wagen und schoss in einer braunen Staubwolke über den Feldweg in Richtung Paris davon.
In eine Nebelwand aus Abgasen gehüllt lenkte Philippe das Flugzeug den flach abfallenden Hügel hinunter. Er erhöhte die Geschwindigkeit und sein Eigenbau hob gehorsam ab, ehe er die aufgewühlte Erde des einstigen Schlachtfelds erreicht hatte.
Von oben betrachtete der Pilot den geschundenen Landstrich. Vereinzelt zeigte sich frisches Grün zwischen den notdürftig angelegten Befestigungen und entlang der Einschlagkrater, in denen nach dem regnerischen Frühjahr noch Wasser stand. Die von den Armeen in die Landschaft gerissenen Narben würden sich bald wieder schließen. Doch wie war das in den Gegenden, in die die Soldaten inzwischen ein wahres Labyrinth an Laufgräben, Schützengräben und Unterständen gebuddelt hatten? Sicher würde auch dort die Erde in Friedenszeiten wieder zum Leben erwachen, aber Philippe nahm an, dass die Spuren des Krieges noch über viele Generationen hinweg gut sichtbar erhalten bleiben würden.
»Gut so«, murmelte er vor sich hin. Diese Narben konnten als warnendes Mahnmal dazu dienen, was Menschen einander anzutun fähig waren.
Während sich östlich von ihm neue Regenwolken zusammenballten, flog er durch gleißenden Sonnenschein und stieg immer höher hinauf. Er behielt den Horizont aufmerksam im Auge, weshalb er sie frühzeitig auf sich zukommen sah: zwei französische Eindecker! Sie stießen von unten herauf und schwenkten in seine Richtung. Trotz der in dieser Höhe herrschenden eisigen Kälte breiteten sich Hitzewellen in seinem Körper aus.
Die sich schnell drehenden Flugzeugpropeller lagen wie zwei graue Scheiben vor ihm. Zumindest einige Flugzeuge der Aéronautique Militaire verfügten über eine Vorrichtung, die es ihnen erlaubte, durch die zerbrechlichen Propellerflügel zu schießen. Er war demnach nicht vor einem Beschuss gefeit, wenn er frontal auf sie zuflog.
Philippe baute mit Begeisterung Flugzeuge und eroberte mit ihnen die Lüfte. Noch immer bildete er Leutnants zu Piloten aus, von denen inzwischen die meisten an die Front geschickt und dort früher oder später in lebensgefährliche Luftkämpfe verwickelt wurden. Allerdings hatte er sich nicht dazu durchringen können, Jagdflieger zu werden, und so trug die Maschine, die eigentlich Claude gehörte, keine Bewaffnung mit sich. Ob das Fehlen eines MGs die französischen Flieger davon abhalten würde, das Feuer auf ihn zu eröffnen?
Mit gleichbleibender Geschwindigkeit jagten die drei Maschinen aufeinander zu. Es war Philippe, der wie ein unterwürfiger Hund nach unten abdriftete, bereit, dem Kampf auszuweichen und dabei den beiden Franzosen zu zeigen, dass er ohne Waffen flog. Doch die Chancen, dass sie einen Beobachter so weit im Hinterland Frankreichs ungeschoren davonkommen ließen, lagen praktisch bei null.
Die Morane-Saulniers donnerten über ihn hinweg. Philippe spürte ihren Luftwirbel, vernahm trotz der Ohrenschützer und des Lärms seiner eigenen Maschine das Dröhnen ihrer Motoren. Er hob den Kopf und gewann den Eindruck, die Kokarde mit den französischen Farben auf ihren Tragflächenunterseiten mit der Hand berühren zu können.
Die dünne, kalte Luft heftig ein- und ausatmend schwenkte er etwas nach links. Damit kam er zwar leicht von seiner Route ab, behielt aber die feindlichen Flugzeuge im Blick. Zu seinem Erstaunen schwenkte einer der Piloten in Richtung Norden ab, der andere jedoch zog eine enge Schleife und plante offenbar, sich an sein Heck zu kleben.
Ruckartig ließ Philippe den Atem entweichen. Er kondensierte vor seinem Gesicht. Sein Pulsschlag erhöhte sich. Seine Hände krallten sich um das Steuer. Erneut drehte er den Kopf. Der Verfolger befand sich knapp hinter ihm. Ob ihm eine Chance zur Flucht blieb? Philippe riss seine Maschine nach oben. Sie strafte das abrupte Manöver mit einem unruhigen Vibrieren, zog aber an. Dadurch stieg sie direkt der grellweißen Sonne entgegen und war für den Piloten hinter ihm kaum noch auszumachen.
Das Maschinengewehr seines Gegners blieb stumm. Philippe biss die Zähne zusammen. War er entwischt? Zumindest für den Moment! Er musste weiter in Richtung Osten auf die deutsche Seite hinüber. Vielleicht würde der Franzose dort von ihm ablassen!
Philippe stieß einen unartikulierten Laut aus, als die Morane-Saulnier plötzlich zu seiner Linken auftauchte. Vermutlich war sie nicht mit der Vorrichtung ausgestattet, die es dem Piloten erlaubte, durch den Propellerkreis zu schießen. Doch nun genügte ein winziger Schwenk des Piloten, um sich auch ohne diese raffinierte Neuerrungenschaft auf ihn einzuschießen …