Kapitel 32

Bei Gorlice, österreichisches Kronland Galizien, Polen,
April 1915

Robert hatte zwei Dutzend andere Verletzte unter dem Messer gehabt, ehe sich ihm die Möglichkeit bot, zu dem russischen Oberst zurückzukehren.

Dieser lag inzwischen außerhalb des Rathauses in einem der lang gestreckten Zelte. Der Teil seines Gesichts, der nicht hinter Mull verborgen war, war von einer unnatürlichen Röte überzogen und glänzte vor Schweiß. Das vernehmliche Knirschen seiner Zähne verriet seine schrecklichen Schmerzen.

Robert setzte sich auf einen Holzhocker neben das Feldbett und fühlte nach dem rasenden Puls. Chabenskis Augen wanderten zu ihm und wieder sah Robert das Erkennen in ihnen aufleuchten.

»Ich gebe Ihnen noch mal etwas gegen die Schmerzen, Oberst Chabenski«, sagte Robert leise. Dann beugte er sich über ihn und fügte hinzu: »Darf ich Ihnen einen Brief an Anki zustecken? Womöglich kommen Sie bald in Ihre Heimat!«

Chabenski schloss kurz die Augen, was Robert als Zustimmung verstand. Er schob seinen nicht adressierten Brief in den Beutel am Bettende, in dem sich die Habseligkeiten des Obersts befanden, die man ihm gelassen hatte. Als Robert seine Aufmerksamkeit wieder auf den Offizier richtete, flüsterte dieser: »Falls ich es nicht schaffe … schreiben Sie an meine Frau … und die Kinder.«

Robert bejahte, wenngleich es bis Kriegsende dauern würde, bis sich ihm die Möglichkeit dazu bot.

»Ich habe einen begonnenen Brief«, raunte der Mann mit vor Schmerzen kaum verständlicher Stimme.

»Den soll ich Ihrer Familie schicken?«

Chabenski schloss, um seine Zustimmung zu signalisieren, erneut die wimpernlosen Lider. »In Bibel.« Seine Worte kamen zunehmend bruchstückhaft.

»Soll ich ihn gleich an mich nehmen, für den Fall …« Robert schluckte. Wenn Chabenski außerhalb seiner Dienstzeit starb, wusste er nicht, was mit dessen Eigentum geschehen würde.

Wieder erteilte Chabenski durch das Schließen seiner Augen seine Zustimmung. Robert nahm eine kyrillisch gedruckte Bibel heraus, eine Rarität, und zog zwischen ihren leise raschelnden Seiten ein eng beschriebenes Blatt hervor. Dieses hielt er so, dass der Russe es sehen konnte, der erneut die Lider senkte.

Sorgfältig steckte Robert die Zeilen des Schwerverletzten an Frau und Töchter in die Brusttasche seines Uniformrockes und klopfte mit der flachen Hand dagegen, zum Zeichen, dass er gut auf sie achten würde. Der Russe beobachtete es mit rot unterlaufenen Augen und verzog das größtenteils verbundene Gesicht zu einem Lächeln, bei dem sich jedoch ein gequältes Stöhnen über seine Lippen schlich.

»Ich gebe Ihnen jetzt Ihr Medikament, Herr Oberst.«

Der Mann streckte Zeige- und Mittelfinger, was Robert innehalten ließ. Aufmerksam betrachtete er den einst so stattlichen, nun zerschlagenen Körper des Adeligen. Mühsam formte der Verletzte die Worte, die sich im Gemurmel und den Schmerzenslauten der Umliegenden beinahe verloren. »Es gibt noch immer Menschlichkeit in diesem Inferno, Dr. Busch. Vergessen … Sie das nicht.«

»Das werde ich nicht.«

Chabenski hob erneut die beiden Finger, bat ihn mit dieser winzigen Bewegung zu schweigen, damit er Gehör fand. »Es wird Zeiten geben … in denen Sie das vergessen … So ist die menschliche … Natur. Der Krieg bringt viele hässliche Seiten … in einem Menschen zum … Vorschein. Halten Sie an Gott fest. Nur er … kann Ihr Herz und Ihre Seele beschützen …« Chabenskis Stimme brach und diesmal schloss er vor Erschöpfung und Schmerz die Augen.

Robert spürte etwas in seinem Inneren anklingen, das er fast schon verloren geglaubt hatte, obwohl er sich erst seit wenigen Wochen an der Front befand: Liebe. Liebe zu seinen Patienten, zu seinem Feind. Dieser ihm eigentlich fremde Mann, der sich um sein Wohlergehen sorgte, erteilte ihm eine wichtige Lektion, obwohl sein Leben wahrscheinlich in ein paar Stunden enden würde. Chabenski sprach von der Liebe Gottes an einem Ort, an dem sich Hass in seiner schrecklichsten Form entlud. Aber genau dieser Gott hatte versprochen, auch inmitten des Chaos nicht von seiner Seite zu weichen. Zwar ließ er Schmerz, Trauer und Tod zu, aber er hatte versprochen, dabei an seiner Seite zu sein.

Robert legte seine Hand auf die des Obersts und drückte die beiden nicht verbundenen Finger, ehe er sich wieder seinen anderen Aufgaben zuwandte.

Obwohl die Schmerzensschreie und der penetrante Gestank an seinen Nerven zerrten wie ein Hund an dem Hosenbein eines unerwünschten Eindringlings, war er wieder mit mehr Aufmerksamkeit und Fürsorge für den Einzelnen bei seiner Aufgabe – wohl wissend, dass er nie schnell genug arbeiten konnte.

***

Fünf Stunden später wurde Robert endlich abgelöst. Er überließ den Operationstisch einem älteren Herrn mit Glatze und runder Brille und begab sich in das notdürftig eingerichtete Badezimmer, um sich das Blut von Händen, Armen und aus dem Gesicht zu waschen. Bevor er zu seiner Unterkunft im ersten Stock hinaufwechselte, wollte er kurz nach Chabenski sehen.

Mit langsamen, erschöpften Schritten betrat er das Lazarettzelt und ging über die am Boden ausgelegten Holzplanken die lange Reihe dicht an dicht stehender Notbetten ab, bis er bei den Gefangenen ankam, für die man hier Platz geschaffen hatte.

Auf der Pritsche, auf der Chabenski gelegen hatte, kauerte ein junger Mann mit verbundenen Augen. Alarmiert huschte Roberts Blick über die restlichen verletzten Russen hinweg, doch er fand den Oberst nicht unter ihnen.

»Schwester!?«, rief er in den vorderen Bereich und ausgerechnet Rosalie gesellte sich an seine Seite. Sie sah ebenso abgekämpft aus wie Robert oder die am Lazarett vorbei zu ihren Ruhestellungen schlurfenden Soldaten.

»Sie suchen den russischen Oberst? Der wurde weggebracht.«

»Weggebracht? In seinem Zustand?«

»Nein, wegen seines Zustands«, lautete ihre schroffe Antwort, ehe sie davoneilte.

Wieder einmal hatte der Tod die Ernte eingeholt, die die Menschen gesät hatten. Robert fasste an seine Brusttasche, in der sich Chabenskis Brief befand. Nun war es an ihm, den letzten Willen des Mannes zu erfüllen. An die Trauer und das Entsetzen, das über die Familie hereinbrechen würde, wagte er nicht zu denken. Sie waren eine der unzählbar vielen Familien, denen dieser Krieg Ehemann und Vater raubte, völlig unabhängig davon, ob sie einfache Bauern oder Aristokraten waren. Selbst bei dem Gedanken daran, dass den drei Töchtern zumindest die Mutter und ein liebevolles Kindermädchen blieb, wollte sich keine Erleichterung einstellen.