Kapitel 16

St. Petersburg, Russland,
August 1914

Ein kräftiger Regen, vom Wind über den Finnischen Meerbusen in die Stadt getragen, prasselte gegen die Fenster. Um der düsteren, trostlosen Atmosphäre ein Schnippchen zu schlagen, waren im Weißen Salon der Kamin und mehrere Kandelaber auf Kommoden, Tischen und entlang der Wände angezündet worden. Ihr flackernder, warmer Lichtschein ließ das Dunkelgrün der Vorhänge, Polster und Teppiche intensiver wirken und beleuchtete die Ahnenbilder unterschiedlicher Größen und Epochen zwischen den Fenstern, neben den Regalen und entlang der Türfront. Details, die man sonst oft übersah, traten nun hervor, darunter die Porzellantiere auf einem weißen Regalbrett, eine Tabakdosensammlung aus der ganzen Welt auf dem Kaminsims wie auch andere Reisemitbringsel oder Geschenke ausländischer Besucher. Dazu gehörten exotische Musikinstrumente, kolorierte Ansichtskarten, gerahmte Fotografien, gravierte Zinnteller, wertvolle Schmucksteine und zu Ankis Missfallen auch ein abstoßend hässlicher Schrumpfkopf aus Afrika.

Anki liebte diesen Raum – bis auf den Schrumpfkopf, dem sie demonstrativ den Rücken zukehrte –, weil er wenig von dem sonst im Chabenski-Haus vorherrschenden Prunk besaß. Er war schlicht eingerichtet und durch die weißen und grünen Farbtöne hübsch und heimelig.

Ihr ältester Zögling und sie hatten auf dem Parkettboden ein Puzzle ausgebreitet. Das Mädchen lag bäuchlings auf einem hochflorigen Teppich, und ihre Füße schwangen in einem monotonen Rhythmus auf und ab. Anki saß ihr gegenüber auf einem Kissen, suchte nach passenden Pappteilen für das farbige Blumenbild und bewegte mit der anderen Hand einen weiß lackierten Schaukelstuhl, in dem die achtjährige Katja eingedöst war, die sich seit dem Morgen mit einer Erkältung herumplagte.

Sowohl Nina als auch die Njanja wandten ihre Blicke der Tür zu, als sich diese öffnete, begleitet von einem metallischen Knacken. Jelena kehrte an der Hand von Robert Busch von ihrer Untersuchung zurück.

»Ich war ganz tapfer«, berichtete die Elfjährige stolz und strahlte den Medizinstudenten an. Der zwinkerte ihr zu und ließ das zappelnde Mädchen los. Jelena kuschelte sich an Anki und begann ebenfalls, passende Puzzleteilchen einzufügen.

»Gemütlich haben Sie es hier.« Sichtlich angetan sah der Mann sich um.

»Für mich ist dies der schönste Raum im Haus«, gestand Anki und freute sich an Roberts belustigtem Schmunzeln. »Nur dieser widerliche Kopf, der mich da hinter meinem Rücken anstarrt, an den gewöhne ich mich wohl nie.«

Robert suchte mit den Augen die Regale ab und ging, nachdem er den Schrumpfkopf entdeckt hatte, zu ihm hinüber. »Medizinisch gesehen ein äußerst faszinierendes Stück«, sagte er.

»Was halten Sie davon, wenn wir den Hausherrn bitten, Ihnen dieses medizinisch faszinierende Stück für Forschungszwecke zu überlassen?«, schlug Anki vergnügt vor.

Nina und Jelena fielen in Roberts Lachen mit ein.

»Darf ich mich zu Ihnen setzen, Prinzessin Nina Iljichna?«

»Wenn Sie uns bei dem schwierigen Puzzle helfen, gern.«

»Vielen Dank. Ich versuche mein Bestes!« Der Student stellte seine Tasche ab und ließ sich neben Nina auf dem Boden nieder. Die Mädchen beobachteten erstaunt, mit welcher Treffsicherheit der Mann ein Puzzleteil nach dem anderen an der passenden Stelle einfügte.

Anki, deren Hilfe nicht mehr vonnöten war, richtete sich auf. »Herr Busch, haben Sie heute keine Termine mehr?«

»Mit meinen Aufgaben bin ich fertig. Ich vernachlässige also weder mein Studium noch Dr. Botkins Patienten.« Der Student warf ihr einen fröhlichen Blick zu und widmete sich wieder den Pappteilchen.

Schließlich fügten sie das letzte Puzzleteilchen ein, und Nina rief nach Marfa, damit sie ein neues Puzzle aus ihrem Kinderzimmer brachte, auf das sich die beiden Mädchen und ihr Gast mit Begeisterung stürzten.

Anki erhob sich, streckte ihre schmerzenden Knie und verließ den Raum. Wenig später betrat sie den Speisesaal, in dem ein spätabendlicher Imbiss vorbereitet worden war. Sie nahm ein Tablett von der Anrichte, stellte Tassen, Teller, dazu den Tee und die süßen Stückchen darauf und trug alles in den Weißen Salon hinauf.

»Wir nehmen unseren Abendtee heute hier ein?«, fragte Jelena verwundert.

»Genau hier! Auf dem Boden!«

»Wie die Chinesen! Weißt du noch, Jelena, wie Vater uns erzählte, dass sie an niedrigen Tischen auf dem Boden sitzen?«

»Dann ist das Tablett jetzt unser Tisch«, entschied Jelena und wollte das silberne Oval an sich ziehen, was ihr aufgrund ihres eingebundenen Arms jedoch nicht gelang.

»Warte bitte, ich reiche dir deinen Tee«, bat Anki, schenkte die dampfende Flüssigkeit in die filigranen weißen Tassen mit dem Goldrand und reichte je eine den Prinzessinnen und anschließend Robert.

Während die drei auf dem Boden saßen, an dem Gebäck knabberten, Tee tranken und mit Feuereifer puzzelten, weckte Anki Katja. Sie geleitete das Mädchen zu ihrer Zofe Marfa, damit sie das kränkelnde Kind zu Bett brachte. Im Nachbarraum schlug die massive Standuhr erst zwölf-, daraufhin neunmal.

Kurz darauf öffnete Fürstin Chabenski die Tür, blieb aber auf der Galerie stehen. Sowohl Anki als auch Herr Busch wollten sich höflich erheben, aber die Dame winkte ab. »Bleiben Sie bitte sitzen. Das ist so ein schönes Bild. Ich möchte es gern noch ein paar Augenblicke genießen. Meine Mädchen sehen so glücklich aus!«

Anki nahm das Erscheinen der Fürstin zum Anlass, um Jelena davon zu überzeugen, dass sie an der Reihe war, zu Bett zu gehen. Zuerst aber stellten sie rasch das zweite Puzzle fertig. Die Mädchen klatschten begeistert, als das gewaltige Gemälde des mintfarben-weißen Katharinenpalasts von Zarskoje Selo14 mit seinen goldenen Zwiebeltürmen vollständig vor ihnen lag.

Fürstin Chabenski brachte sich in Erinnerung, indem sie Anki ansprach: »Fräulein Anki, ich bräuchte für einen Moment Ihre Hilfe.«

Umgehend erhob Anki sich und trat zu der Fürstin in die nur schwach beleuchtete Galerie hinaus. Das Gesicht der Frau war nun ernst, und sie rang nervös die Hände. Eine ungute Vorahnung ließ Anki frösteln.

»Sie sind doch noch immer mit Komtess Ljudmila Sergejewna Zoraw befreundet?«

»Ja, Hoheit.«

»Die Zoraws und die Bobows haben Boten zu den Anwesen ausgesandt, die, wie auch wir, nicht über einen Telefonanschluss verfügen. Ihre Töchter, Ljudmila Sergejewna und Jevgenia Ivanowna brachen gestern am frühen Abend zu einer der in Mode gekommenen Partys in einen Club auf und sind nicht zurückgekehrt. Bestimmt können Sie sich die Sorge der Eltern ausmalen.«

»Ljudmila?« Ankis Gedanken überschlugen sich, während sie ihre Hand hob und in einer erschrockenen Geste an ihren Mund führte. Jevgenia hatte Ljudmila vor ein paar Tagen bedrängt, wieder Kontakt zu Rasputin aufzunehmen. Der genaue Inhalt der Unterhaltung war Anki zwar entgangen, doch sie hatte sich ihren Teil zusammengereimt. Falls Ljudmila am Vorabend gemeinsam mit Jevgenia zu einem Club aufgebrochen war, war der Schritt, Rasputin zu treffen, sicher nur ein kleiner gewesen.

»Wissen Sie vielleicht etwas über ihren Verbleib?« Mit ihrer Frage riss die Fürstin Anki aus ihren Überlegungen.

Angst um ihre Freundin stieg in ihr auf wie siedendes Wasser. Was mochte am vergangenen Abend geschehen sein? Wie konnten zwei junge Damen aus der aristokratischen Gesellschaftsschicht einfach spurlos verschwinden? Die Unsicherheit darüber, welche Details aus dem Gespräch, das sie nur in Teilen gehört hatte, sie preisgeben sollte, damit sie und Ljudmila nicht noch mehr mit Rasputin in Zusammenhang gebracht wurden, trieb ihr den Schweiß aus den Poren.

Fürstin Chabenski und ihr Mann hielten nichts von dem Starez; tatsächlich hatte Fürst Chabenski ihr schon vor Jahren deutlich gesagt, dass er sie fortschicken würde, wenn sie Kontakt zu Rasputin aufnehme. Und dann gab es da ja noch die Nachforschungen des Staatssicherheitsdienstes …

Ankis Gedanken und ihre Fantasie drehten sich wild im Kreis. Sie sah Ljudmila und Jevgenia in einer Umarmung mit Rasputin, Kosaken mit gezückten Waffen griffen die drei an und im Hintergrund hörte sie die Zariza schreien.

Gewaltsam zwang Anki sich in die Realität zurück, die nicht weniger beunruhigend war. »Entschuldigen Sie bitte, Hoheit. Wie kann ich helfen?«, bot sie an, obwohl sich ihre Knie anfühlten, als wollten sie unter ihr nachgeben. Halt suchend streckte sie ihre Hand aus und bekam den Arm von Robert zu fassen, der mittlerweile neben sie getreten war. Ihre Finger krallten sich in sein weißes Hemd.

»Dass die Sorge um ihre Freundin Sie so mitnehmen würde, ahnte ich nicht.« Fürstin Chabenski ging selbst ein paar Schritte und holte für ihr Kindermädchen einen Stuhl, auf den Anki sich dankbar fallen ließ. Robert hockte sich vor sie und fühlte an ihrem Handgelenk den rasend schnellen Puls.

»Ich lasse ein Glas Wasser bringen«, schlug Fürstin Chabenski vor und rief nach Nadezhda. Das Dienstmädchen kam dem Wunsch ihrer Herrin eilig nach und drückte Anki ein Kristallglas in die Hand.

Das Wasser schwappte ebenso aufgeregt umher wie ihre Gedanken, bis Anki das Glas in beide Hände nahm und einige Schlucke trank. Das Getränk und Roberts warme Hand auf ihrem Arm ließen ihre flatternden Nerven ein bisschen zur Ruhe kommen. Endlich gelang es ihr, wieder gleichmäßig zu atmen – und klarer zu denken. Energisch setzte sie sich auf und reichte der besorgt dreinblickenden Nadezhda das Glas zurück.

»Am besten, ich suche ein paar der Plätze auf, die Ljudmila gern aufsucht, Hoheit. Und Herr Busch könnte vielleicht den Schwestern und Ärzten im nahe gelegenen Krankenhaus vom Verschwinden der Damen berichten, falls sie …«

Diesmal war es an Fürstin Chabenski, auf ihren unvollendeten Satz hin einen erschrockenen Ruf auszustoßen.

»Aus ärztlicher Sicht möchte ich Ihnen von der Suche abraten. Sie erlitten soeben einen kleinen Schwächeanfall«, äußerte Robert besorgt.

Anki bedachte den Medizinstudenten mit einem vorwurfsvollen Blick. »Das war kein Schwächeanfall, sondern lediglich der Schreck über das Verschwinden meiner besten Freundin. Ich sitze nicht untätig herum, während sie vielleicht meine Hilfe benötigt!«

Robert verbeugte sich knapp in ihre Richtung, als wolle er damit eine Entschuldigung und gleichzeitig sein Einverständnis für ihr Vorhaben kundtun. Fürstin Chabenski legte ihre zarte Hand auf Ankis Arm. »Die Familien der beiden Damen werden es Ihnen danken. Aber Sie gehen nicht zu Fuß. Es regnet in Strömen und ist dunkel. Da möchte ich Sie nicht ohne eine Kutsche und einen aufmerksamen Begleiter wissen. Ich lasse Alex rufen. Er wird Sie fahren.«

»Danke, Hoheit«, sagte Anki, froh darüber, den gleichaltrigen Alex als Fahrer zur Seite gestellt zu bekommen, denn sie hatte ihn als treu und verschwiegen kennengelernt.

»Ich ziehe mir feste Schuhe und den Wettermantel an. Herr Busch, bitte vergessen Sie nicht, sich im Krankenhaus nach den beiden Damen umzuhören, ja?«

»Ich vergesse es nicht. Aber bitte geben Sie auf sich acht.«

Bei seinen Worten war Anki schon auf der Galerie, die in einem Halbbogen oberhalb des Foyers und des Festsaals verlief. Sie raffte ihr dunkelblaues Hauskleid und eilte die Stufen hinunter. Falls die Komtess Rasputin besucht hatte und ihr dort etwas zugestoßen war, zählte jeder Augenblick.

***

Das Pferd scharrte mit den Hufen über die nass glänzenden Pflastersteine, auf die der Lichtschein aus den Fenstern helle Flecke warf. Der Regen platschte auf den Reiter herunter, durchnässte seine Kleidung und schwappte schwallartig über die Krempe seines Hutes hinweg, wann immer er den Kopf bewegte.

Zwischen den Palästen herrschte schummriges Licht, da die dunklen, schwer über den Dächern hängenden Regenwolken jegliche Farbe aus der Küstenstadt gesaugt zu haben schienen.

Das Geräusch einer schnell fahrenden Kutsche ließ ihn den Blick heben. Der Regen rann ihm in die Augen, und er blinzelte mehrmals, dann erkannte er das Wappen der Chabenskis auf dem Schlag. Mit einem Schnalzen und einem Schenkeldruck trieb er sein Reittier an. Die Stute reagierte unverzüglich, geriet aber auf den nassen Steinen gefährlich ins Rutschen. Nachdem das Tier sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, trug es ihn hinter dem komfortablen Gefährt her.

Ihr Weg führte sie am Kanal entlang bis zum Nevskij Prospekt und von dort hinab in Richtung Admiralität und Neva. Ratternd rollte die Kutsche über die noch junge Troickij-Brücke auf die St. Petersburger Seite. Hinter der Regenwand war die Haseninsel mit der gewaltigen Peter-und-Paul-Festung nur ein unscharfer, grauer Fleck. Eine Zeit lang folgte der Reiter dem Wagen über den Kamennoostrovskij Prospekt, bis dieser in die deutlich schmalere Gorokovskaja-Straße einbog.

Der Verfolger hielt sein Pferd zurück, sorgfältig darauf bedacht, einen ausreichenden Abstand zur Kutsche einzuhalten. Die Hufschläge hallten zwischen den einfachen Mietshäusern wider. Nahe dem Haus mit der Nummer 64 hielt der Fahrer hinter einigen dort geparkten wertvollen Kutschen und Automobilen. Die Fahrzeuge muteten in der ansonsten eher leeren, bei diesem Wetter sehr unwirtlichen Straße seltsam fehl am Platz an.

Der junge Mann schwang sich aus dem Sattel und band die Stute an einer nicht funktionierenden Gasstraßenlampe fest. Der Regen hatte aufgehört; dafür kroch von der Kleinen und der Großen Neva, die alle vier Inseln der St. Petersburger Seite umschlossen, ein zäher, dichter Nebel in die Straßen hinein und ergriff von ihnen Besitz.

Der Kutscher öffnete die Tür und klappte den Tritt aus. Einen Moment lang kämpfte die aussteigende Frau mit ihrem langen Mantel, bevor sie auf die Pflastersteine trat. Von seinem Beobachtungsposten aus sah er zu, wie die Njanja die Kapuze des Umhangs zurückschob und dabei an der Vorderfront des Hauses hinaufsah. Ob dieses Gebäude ihr Ziel war? Täuschte er sich, oder sprach ihre Körperhaltung von Zweifel und Furcht?

Ihr Fahrer redete auf sie ein und für einen Augenblick schien es, als gelänge es dem jungen Mann, das Mädchen von ihrem Vorhaben abzubringen. Doch sie hob energisch den Kopf und ging auf eine Gruppe von Frauen zu, die unter dem überstehenden Dach neben dem Einlass notdürftig Schutz vor dem Regen suchten.

Das Kindermädchen beachtete die Wartenden nicht, sondern huschte an ihnen vorbei und öffnete die Tür. Nachdem auch der letzte Zipfel ihres Mantels, der um ihre Beine flatterte, aus seinem Blickfeld entschwunden war, stieß er sich von der Hauswand ab und näherte sich den jetzt aufgebracht schimpfenden Frauen. Offenbar fühlten sie sich durch das rücksichtlose Eindringen der Frau übergangen.

***

Mit festem Schritt trat Robert zu der keifenden Gruppe. Er erkannte zwei der Damen und wunderte sich, weshalb sie um diese Uhrzeit im Regen vor einem heruntergekommenen Haus ausharrten. Eine war die Tochter eines reichen englischen Kaufmanns, die andere eine Frau von gut 60 Jahren, die aus der höchsten Gesellschaftsschicht St. Petersburgs stammte und die er bereits wegen ihres erhöhten Blutzuckerspiegels behandelt hatte. Die beiden umklammerten je ein gerahmtes Bild, das sie an ihre Brüste drückten, als hielten sie die Fotografien ihrer verschollenen Kinder oder aber die Ikone eines Heiligen in ihren Händen.

Für einen Sekundenbruchteil gelang es Robert, einen Blick auf eines der Bilder zu erhaschen. Er zuckte angewidert zurück.

Rasputin!

War dies sein Haus? Was suchte ein bodenständiges, liebenswertes Mädchen wie Anki bei diesem großspurigen und anmaßenden Rüpel?

Robert war ein Mann mit klaren Zielen, festen Moralvorstellungen und präzise arbeitendem Verstand. Sein Entschluss stand fest: Er würde Anki nicht mehr wiedersehen, gleichgültig, wie sehr sie in den vergangenen Tagen sein Herz erobert hatte.

Ruckartig drehte er sich um und kehrte zu seinem Pferd zurück, wobei ihm jeder Schritt schwerer fiel als der vorherige.

***

Anki bemerkte den kaum unterdrückten Zorn der Frauen, an denen sie sich in dem winzigen Eingangsbereich und auf den Stufen bis zum dritten Stockwerk vorbeizwängte.

»Versuch es erst gar nicht, Mädchen. Er lässt heute niemanden in seine Nähe.«

»Lass sie durch. Du weißt, Vater Rasputin hat seine eigenen Vorstellungen. Vielleicht ließ er sie kommen?«

»Wer ist das denn? Ich hole mir hier schmerzende Beine, und sie darf einfach hinauf?«

Anki richtete ihren Blick stur geradeaus auf die Tür, die es zu erreichen galt. Ein paar der Frauen wichen zurück und ließen sie passieren, andere stellten sich ihr herausfordernd in den Weg. Bei zweien von ihnen gelang es Anki, sie beiseitezudrücken, eine dritte Frau mit gewaltigem Körperumfang stemmte ihre fleischige Rechte in ihre nicht mehr erkennbare Taille. Mit bedrohlich zusammengezogenen, rotblonden Augenbrauen starrte sie auf Anki hinab. Erstaunlicherweise trat aber auch sie zurück, nachdem Anki sie ein drittes Mal freundlich gebeten hatte, sie vorbeizulassen. Die Frau drückte sich, so weit es ihre Körperfülle zuließ, an das Treppengeländer und presste den duftenden Kuchen in ihren Händen an ihre Brust.

Anki duckte sich und schob sich an ihr und gleich an zwei hinter ihr stehenden Frauen vorbei, bevor sie endlich direkt vor der Holztür stand. Verunsichert drehte sie den Kopf und schaute die Stufen hinunter. Im schlechten Licht einer einzelnen Lampe musterte sie die vielen zu ihr hinaufstarrenden Augenpaare. War es nur ihre Einbildung oder die Spiegelung der Deckenlampe, die sie den Eindruck gewinnen ließ, diese Augen glühten nahezu fanatisch? Jedenfalls war ihr der Weg zurück versperrt.

Die Befürchtung, dass die weibliche Rasputin-Anhängerschaft mit ihr in die Wohnung stürmen und sie dabei zu Boden reißen und niedertrampeln würde, war wohl nicht unbegründet. Die Angst kroch so unaufhaltsam in ihr hoch, wie draußen der Nebel dabei war, St. Petersburg für sich einzunehmen.

Anki blinzelte nervös. Wenn sie Ljudmila helfen wollte, musste sie hier zu suchen anfangen. Sie hob eine vor Unsicherheit bebende Hand, um anzuklopfen. In diesem Moment sprang die Tür auf und eine der Kleidung nach hochstehende adelige Dame trat hinaus.

»Er verlangt nach einer Anki van Campen. Der Starez sagt, sie sei jetzt endlich hier.«

Hatte Anki bis dahin aus Angst vor einer erneuten Begegnung mit Rasputin gezittert, so erbebte ihr Körper nun vor Grauen. Woher wusste Rasputin von ihrer Anwesenheit? »Ich bin Anki van Campen«, flüsterte sie mit brechender Stimme.

Die Adelige, die bis dahin die sich im Treppenhaus drängenden Frauen fragend angesehen hatte, senkte nach Ankis zaghaften Worten den Kopf. Zwischen ihren Augenbrauen entstand eine missbilligende Falte. »Du?«

»Ja. Mein Name ist Anki van Campen.«

»Beeil dich. Wie du siehst, warten noch viele, weitaus bedeutsamere Persönlichkeiten, als du eine bist, auf ein Gespräch mit dem Starez.«

Nun gab es für Anki kein Zurück mehr. Sie trat ein und zuckte zusammen, als die Frau die Tür hinter ihnen ins Schloss warf. Das Gefühl, in eine Falle getappt zu sein, ließ ihren Magen rumoren. Flüchtig nahm sie schwere Eichenmöbel, wertvolle Ikonen und die ansonsten üblichen, fast ärmlichen Gebrauchsgegenstände einer Wohnung wahr, während sie der Frau in einen Speiseraum folgte. Frische Blumen und Unmengen an Gebäck standen auf dem Tisch, dazu benutzte Teetassen. Auf den Sitzgelegenheiten, ebenfalls aus dunkler Eiche gefertigt, saß eine Handvoll Damen in moderner, teurer Garderobe.

Die Frau, die zum Öffnen der Tür geschickt worden war, huschte an Anki vorbei und ließ sich eilig auf dem letzten freien Stuhl nieder. An Ankis Wettermantel rannen Regentropfen hinunter und tropften auf den Boden. Sie knetete vor Verlegenheit und Unsicherheit die Hände und trat von einem Bein auf das andere. Dabei wanderten ihre Augen auf der Suche nach dem Starez unruhig durch den Raum. Wo hielt Rasputin sich auf? Und wo war Ljudmila? Sie hatte ihre Freundin weder in dem Wohnzimmer entdeckt, an dem sie vorübergekommen war, noch unter den Frauen in der Küche. Auch Jevgenia schien nicht anwesend zu sein.

»Er ist da drin«, erbarmte sich schließlich eine ältere Frau mit grauem, streng zurückgekämmtem Haar. Ihre Hand, die in einem schwarzen Spitzenhandschuh steckte, deutete auf eine geschlossene Tür.

Anki drehte sich um. Welcher andere Raum außer dem Schlafzimmer konnte sich noch hinter dieser unscheinbaren Tür befinden? Sie erbleichte und warf einen Hilfe suchenden Blick über die Schulter zurück.

Doch die Damen kümmerten sich nicht um sie. Sie echauffierten sich darüber, dass ihr Meister den ganzen Tag in seinem Schlafgemach verbrachte, ohne auch nur mit einer von ihnen zu sprechen – außer, um ihnen Befehle zu erteilen.

»Entschuldigen Sie bitte.« Ankis Stimme klang verschüchtert. Wieder hob die grauhaarige Frau den Kopf und sah sie missbilligend an. »Ich kann doch nicht einfach in diesen Raum hineingehen.«

Fast hämisches Gelächter brandete ihr entgegen. »Wenn er sagt, er empfängt dich dort drin, dann ist es so. Nicht viele dürfen dort hinein!«

In einem irrwitzigen Anflug von Humor fragte sich Anki, wieso überhaupt irgendjemand gewillt war, dort freiwillig hineinzugehen. Aber blieb ihr eine Wahl? Weder Ljudmila noch Jevgenia befanden sich hier in der Gorokovskaja-Straße. Rasputin könnte allerdings wissen, wo sie sich aufhielten. Zum ersten Mal, seit Fürstin Chabenski sie vom Verschwinden der beiden Damen unterrichtet hatte, kam ihr der schreckliche Gedanke, dass sie Ljudmila womöglich nie wiedersehen würde. Sie könnte einfach für immer verschwunden sein.

Entschlossener, als sie sich fühlte, ging sie zur Tür und klopfte an.

»Komm rein, Anki van Campen.«

Unter Aufbietung all ihres Muts ergriff sie den Türknauf und öffnete die Tür. Dunkle, schwere Vorhänge waren bis auf einen schmalen Spalt vorgezogen, der gerade groß genug war, um einen Blick auf die Straße zuzulassen. Eine weit heruntergedrehte Petroleumlampe auf einer Kommode bildete die einzige schwache Lichtquelle. In der Mitte des Zimmers thronte eine Schlafstatt, darin befand sich eine für Anki nicht erkennbare Gestalt.

Rückwärtstaumelnd wollte sie den Raum wieder verlassen, wirbelte jedoch aufgeschreckt herum, als jemand die Tür ins Schloss drückte. Vor ihr stand Rasputin. Der große, kräftig gebaute Mann trug eine graue, in der Taille mit einem roten Seidengürtel geraffte Bauerntunika über einer weiten, schwarzen Hose. Sein verfilztes Haar stand ihm an seiner linken Kopfseite wild ab, als habe er auf dieser gelegen oder sich heftig gekratzt. Wie schon vor Jahren waren es seine Augen, die sie auf unerklärliche Weise gefangen nahmen.

Anki wandte sich ab und richtete ihren Blick auf das Bett. Eigentlich wollte sie gar nicht wissen, mit wem dieser angebliche Gottesmann sich vergnügte, aber es schien ihr einfacher, die reglose Gestalt auf dem zerwühlten Lager anzuschauen, als in die stechenden Augen des Mannes zu sehen.

»Du vertraust mir noch immer nicht?«

Anki nahm all ihren Mut zusammen und antwortete: »Nein.«

»Weshalb tust du mir das an?«

»Ich sehe keine Veranlassung, Ihnen Vertrauen entgegenzubringen.«

»Aber mir zu misstrauen?«

»Hunderte.«

Anki blinzelte irritiert, so erstaunt war sie über ihre eigenen Worte. Vielleicht war es von Vorteil, höflicher zu antworten, immerhin erhoffte sie sich von dem Starez eine Auskunft. Aber der in fast vollständige Dunkelheit gehüllte Raum und vor allem dieser Mann zwischen ihr und der Tür stimmten sie kämpferisch.

»Du musst dich frei machen von den Zwängen. Sie halten dich davon ab, dich ganz Gott hinzugeben.«

Wie auch bei ihrem letzten unangenehmen Zusammentreffen brachte der so schrecklich unzivilisiert und lüstern wirkende Mensch die Sprache auf Gott. Anki glaubte an Gott und wollte diesen Glauben nicht durch einen entarteten Mönch beschmutzen lassen.

»Ich bin gekommen, weil ich Sie etwas fragen möchte, Grigori Jefimowitsch.«

»So frage! Aber ich ahne, dass die Antwort dir keine Befriedigung bringen wird. Dein Geist wird weiterhin suchend bleiben und dein Körper nicht die Erfüllung erlangen, die Gott dir durch mich schenken möchte.«

Ankis Augen suchten den Raum nach einem Gegenstand ab, der sich als Waffe eignete. Der Holzboden knarrte. Rasputin bewegte sich. Seine Gestalt verdeckte die ohnehin nur glimmende Lampe. Fast vollkommene Dunkelheit umgab Anki. Sie schien mit kalten Händen nach ihrem Herz zu greifen, das sich heftig klopfend zur Wehr setzte. Plötzlich kehrte der schwache Lichtschein zurück und fiel auf ihr Gesicht. In diesem Moment durchschaute Anki Rasputins Vorhaben. Er wollte ihr wieder in die Augen sehen, wollte sie manipulieren. Ob ihm dies allein über seine merkwürdigen, Angst einflößenden Augen gelang? Hielt er so die ihm erlegenen Frauen und auch Männer in seinem Bann?

»Vielleicht, aber nur vielleicht, habe ich mich dieses eine Mal geirrt.« Seine Stimme klang nicht so, als meine er seine Aussage ernst. Sie verstand den Sinn hinter seinen Worten sowieso nicht, und sie fragte sich, ob er den Bezug zur Realität verlor, zumal er neben den unangenehmen Ausdünstungen seines Körpers erneut Alkoholgeruch verströmte. »Womöglich bist nicht du diejenige, die von dem Dunklen, Bösen umgeben ist, sondern Ludatschka!«

Ruckartig hob Anki den Kopf. Bereits vor sechs Jahren hatte er ihr mit seinen ominösen Vermutungen, sie sei von etwas Dunklem umgeben, Angst eingeflößt.

Der orangefarbene Schein der Lampe erhellte von unten sein Gesicht, was ihn noch unheimlicher, fast diabolisch wirken ließ.

»Wo ist Ljudmila?«, wagte sie zu fragen.

Der Starez hob die Hand, als wolle er sie davor warnen, weiter nach ihrer Freundin zu forschen. »Dir wird es schlimm ergehen, weil du das Böse gut und das Gute böse nennst. Verstehst du nicht, kleine, wunderschöne Anki? Ich bin nicht der, für den du mich hältst, für den die anderen da draußen mich halten. Sie planen, der Mama und dem Papa von Russland Schaden zuzufügen.« Wieder sprach er in dieser respektlosen Form von dem Zaren und der Zariza. »Dein Herz ist fehlgeleitet worden. Du siehst das Dunkle hell und das Helle dunkel, das Bittere süß und das Süße bitter, weil sie dich verblendet haben. Ich bin derjenige, der dir einen klaren Blick schenkt, wenn du nur zu mir kommst, auf mich hörst, an meiner Seite bist, ganz mein wirst. Ich gebe dir so viel Süßes, kleine Anki.« Die Stimme des Mannes war zuerst aufbrausend, nahezu bedrohlich geworden und senkte sich nun zu einem heiseren Flüstern.

Anki wich Schritt für Schritt zurück, als er sich ihr näherte. Aus ihrer Angst wurde Panik. Ihre Lider flatterten, ihr Puls hämmerte spürbar in ihrem Hals. Was sollte sie jetzt tun? Es war ein schrecklicher Fehler gewesen, Rasputin aufzusuchen!

Seine Augen schienen zu brennen, obwohl das unzureichende Licht nicht einmal für eine Reflektion hätte ausreichen dürfen. Schließlich befreite sie sich mit einem lautlosen Stoßgebet aus dem Zwang, ihn ansehen zu müssen. Mit der kühlen Wand im Rücken warf Anki einen Blick auf das Bett. Täuschte sie sich oder bewegte sich die Gestalt darin?

»Sie zitieren Jesaja, Grigori Jefimowitsch Rasputin, und missbrauchen Gottes Wort ganz nach Ihrem Belieben.«

»Bist du ein gefallener Engel?«, fragte er.

»Ich bin auf der Suche nach Ljudmila Sergejewna und Jevgenia Ivanowna.«

Rasputin drehte sich um und stürmte förmlich die wenigen Schritte zum Fenster zurück, als müsse er vor ihr die Flucht ergreifen. Versuchte er sie hinzuhalten?

»Sind wir nicht alle auf der Suche?« Die ihm eigene Großspurigkeit war wieder zurückgekehrt. »Ludatschka hat gefunden, was sie begehrte. Jenja hingegen …?«

Erneut bewegte sich die Gestalt in Rasputins Bett. Lange, glatte Haare quollen über die Bettkante. Im Schein der Lampe glühten sie in einer ungewöhnlichen Kupferfarbe auf. Aus Ankis Kehle löste sich ein entsetzter Ausruf: »Luda!«

Sie stürzte zum Bett und schob die Decke beiseite, um in ein zerkratztes Gesicht zu sehen. Ljudmila war gänzlich unbekleidet und ihr Oberkörper wies deutliche, wenn auch oberflächliche Verletzungen auf. Es schien ihr schwerzufallen, die Augen zu öffnen. Dennoch erkannte sie ihre Freundin, denn ein flüchtiges Lächeln huschte über ihre bleichen Lippen.

Anki blickte sich um. Der Russe stand vor dem Fenster und beobachtete gelassen die Szene.

»Was haben Sie mit Ljudmila gemacht?«, fuhr sie ihn an.

»Sie wurde befreit. Du wirst das nicht verstehen. Damit du die Erlösung Gottes erfahren darfst, musst du sündigen. Du musst wild und hemmungslos sündigen, damit dir vergeben werden kann. Ich führte Ludatschka dorthin. Jetzt hat sie die Vergebung erlebt. Meine und die Gottes.«

In Anki brodelte es. Noch nie in ihrem Leben hatte sie eine so gewaltige Wut in sich verspürt. Nicht einmal an dem Tag, an dem Tilla sie gedrängt hatte, mit den Chabenskis nach Russland zu reisen; als sie von ihrer Schwester erfuhr, wie …

»Anki, hilf mir!« Ljudmilas Stimme war rau und so leise, dass Anki ihre flehenden Worte kaum verstand. »Bitte bring mich hier weg.«

»Wo sind deine Kleider?«

»Ich weiß es nicht.«

»Du darfst Ludatschka jetzt mitnehmen. Die Reinigung verbraucht viel Kraft. Sie muss sich erholen.«

Anki ignorierte den Mann. Ihre Freundin wurde zunehmend wacher und richtete sich halb auf. Plötzlich schienen ihre Erinnerungen an den vergangenen Abend und die letzte Nacht über sie hereinzubrechen. Panik war in ihren Augen zu lesen. Ihre Hände krallten sich in Ankis rechten Arm. »Jenja! Mein Gott, Jenja!«

»Ruhig, meine Hübsche. Belaste dich nicht mit dem Leben anderer. Du musst dich nur um dich selbst kümmern«, riet ihr Rasputin und klang dabei erschreckend bedrohlich.

»Sie ist tot, Anki. Sie ist bestimmt tot!«

Ein eiskalter Schauer erfasste die junge Niederländerin, ließ sie fröstelnd erzittern. Was sagte Ljudmila nur? Jevgenia sollte tot sein?

In diesem Augenblick legte sich eine Hand schwer auf Ankis rechte Schulter. Erschrocken zuckte sie zusammen, denn sie hatte den Mönch nicht näher kommen hören. »Ihr Verstand ist noch umnebelt. Sie hat gestern eine Menge russischen Madeira getrunken. Für ein junges Mädchen zu viel. Sie tanzte und …«

Übelkeit stieg in Anki auf. Rasputins strenger Körpergeruch war ekelerregend, ebenso wie seine langen, ungepflegten Fingernägel, die sich schmerzhaft in ihre Schulter gruben. »Nehmen Sie Ihre Hand weg!«, fauchte sie den Mann an.

Für einen Augenblick hob er die Hand, aber nur, um sie anschließend auf ihre Brust zu pressen.

»Fassen Sie mich nicht an!«, schrie sie zornig und versuchte durch ein Zurückweichen seiner Berührung zu entkommen.

»Du bist die mit der Dunkelheit. Und du überträgst sie auf die arme Ludatschka …«

»Haben Sie nicht gehört, was die Dame sagt? Nehmen Sie Ihre schmutzigen Hände von ihr!« Roberts Stimme durchschnitt die aufgeheizte Atmosphäre wie ein Degen, der durch Papier gleitet.

Als sei er nicht eine Spur erstaunt über die Anwesenheit des Mannes richtete Rasputin sich auf und trat gelassenen Schritts zurück ans Fenster.

Anki, deutlich überraschter von dem unerwarteten Auftauchen des Medizinstudenten, erhob sich und drehte sich zu dem sehr willkommenen, klatschnassen Neuankömmling um. »Herr Busch …?«

»Ich fragte mich, was eine Dame wie Sie bei diesem … dieser Kreatur sucht. Bis mir klar wurde, dass ich die Frage falsch stellte. Sie musste lauten: Wen sucht Anki van Campen?«

»Aber woher wussten Sie …?«

»Als Sie sagten, Sie würden sich auf die Suche nach Komtess Ljudmila Sergejewna begeben, gewann ich den Eindruck, Sie hätten ein ganz bestimmtes Ziel vor Augen. Und dieses behagte Ihnen nicht und bereitete Ihnen Angst. Daraufhin folgte ich Ihrer Kutsche.«

»Ich bin so froh über Ihre Anwesenheit!« Ihre Worte waren nicht mehr als ein Seufzen. Sie warf einen flüchtigen Blick auf den Starez, der teilnahmslos durch den schmalen Spalt des Vorhangs auf die Straße schaute.

Ihre Furcht vor ihm saß noch immer wie ein schmerzhafter Stachel in ihr, aber in der Gegenwart von Robert fühlte Anki sich sicher. Entschlossen ging sie zur Kommode und drehte die Lampe höher. Mit der Lichtquelle in der Hand begab sie sich auf die Suche nach Ljudmilas Kleidern und fand sie zusammengeknüllt in einer Ecke, halb auf, halb unter einem Stuhl.

Mühsam versuchte sie, die nach Schweiß und Alkohol riechenden Seiden- und Chiffonstoffe richtig herum zu drehen. Dabei entdeckte sie eine erhebliche Menge an ihnen klebendes Blut. Wie erstarrt hielt sie inne und starrte auf die dunklen, fast schwarzen Flecken, die ihr förmlich zuflüsterten, besser nie danach zu fragen, wo sie herrührten.

Inzwischen stellte sich Robert Ljudmila als Arzt vor. Vermutlich schummelte er bei seiner noch nicht erteilten Approbation, um das Vertrauen des verängstigten Mädchens zu erlangen.

Doch seine sanften Worte riefen erneut Rasputin auf den Plan. »Ich wusste, ich kenne Sie! Botkin hatte Sie zum Zarewitsch geschleppt, nur damit Sie gemeinsam mit ihm dabei zusehen, wie sich der arme Junge vor Schmerzen windet und innerlich verblutet! Niemand, niemand von diesen angeblichen Doktoren ist in der Lage, dem Kind zu helfen! Aber mir vertraut er! Mir vertrauen auch Mama und Papa. Warum kommt ihr immer wieder, unfähig, Alexej zu helfen? Den zukünftigen Zaren zu heilen, die Zarenfamilie zu retten, das Land zu regieren, dazu hat Gott mich ausersehen!«

»Verschwinden Sie oder ich rufe die Polizei!«, drohte Robert und drehte sich dabei nicht einmal nach dem Starez um.

»Der Bösen Rotte hat mich umringt.«

Anki, die annahm, dass der Mann erneut aus der Bibel zitierte, war froh, dass er Roberts Aufforderung nachkam. Mit den Kleidern im Arm eilte sie zurück zum Bett und bekleidete Ljudmilas eigentümlich schlaffen Körper zumindest notdürftig.

»Vermutlich wurde ihr ein Betäubungsmittel eingeflößt«, mutmaßte Robert mit grimmiger Miene, ehe er Ljudmila hochhob.

Anki schälte sich aus ihrem Mantel und breitete diesen über ihre Freundin; dabei sah Ljudmila sie aus zusammengekniffenen Augen benommen an. »Anki, du hattest so recht.«

»Still, Ljudmila. Du hast nichts Falsches getan. Er war es!«, versuchte Anki sie zu beruhigen. Sie strich ihr einige rote Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Ich werde dir jetzt die Kapuze meines Mantels über das Gesicht ziehen, damit die Frauen dort draußen dich nicht erkennen. Einverstanden?«

Die junge Frau nickte und schloss ergeben die Augen. Anki stülpte ihr die Mantelkapuze über die verquollenen Gesichtszüge und blickte Robert traurig an.

»Gehen wir!«, beschloss er. Seine Stimme bebte vor unterdrücktem Zorn. »Wenn Sie bitte vorausgehen, die Türen öffnen und uns vor allem diese fanatischen Weiber vom Hals halten.«

Anki holte tief Luft, als könne sie neuen Mut einatmen, ehe sie die Schlafzimmertür öffnete. Der Anblick, der sich ihr bot, ließ sie aufgebracht den Kopf schütteln: Rasputin kniete auf dem Boden und bettete seinen Kopf in den Schoß einer der adeligen Frauen. Diese streichelte ihm mit einer Hand über den Rücken, mit der anderen, an der ihr wertvoller Ehering im Licht der Tischlampe aufblitzte, über das verfilzte Haar. Zwei weitere Frauen knieten bei ihm und umfingen ihn tröstend mit den Armen. Die, die ihm nicht nah genug waren, warfen böse Blicke auf die Glücklichen, die ihn berühren durften.

So schnell wie möglich eilten Robert und Anki durch die Wohnung in Richtung Tür. Im Wohnzimmer und sogar in der Küche versammelten sich inzwischen noch mehr Personen, darunter auch einige Männer. Aus dem Wohnraum drang schallendes Gelächter und das schrille, aufgekratzte Kreischen einer weiblichen Besucherin.

Anki drehte den Türknauf und wich der nach innen aufgehenden Wohnungstür aus. Ihre Furcht, von weiteren hereindrängenden Frauen überrannt zu werden, blieb unbegründet, allerdings war das Treppenhaus nach wie vor überfüllt.

»Bitte lassen Sie uns hinaus«, bat sie. Zwar schauten die Nächststehenden auf und wichen an die Wand zurück, doch Ankis Stimme hatte das ununterbrochene Gemurmel nicht gänzlich übertönen können. Lauter sagte Anki: »Weichen Sie bitte zurück. Wir brauchen mehr Platz.«

»Mein Gott! Ist sie tot?« Der hysterische Ausruf einer Frauenstimme ließ die Gespräche verstummen. Jetzt konnte sich Anki der Aufmerksamkeit aller gewiss sein. Viele der Anwesenden bekreuzigten sich eilig, zwei sanken auf die Stufen. Hastig trug Robert die benommene Ljudmila die ausgetretenen Stufen hinunter und verließ mit ihr das Gebäude.

»Konnte Väterchen Grigori ihr denn nicht mehr helfen? Kaum zu glauben!«, hörte Anki eine Frau murmeln, die ein Bild Rasputins und einen geflochtenen Blumenkranz in den Händen hielt. Eine wenig freundliche Erwiderung lag ihr auf der Zunge, aber sie schwieg. Sie sah keinen Sinn darin, diesen von Rasputin verblendeten Leuten die Wahrheit entgegenzuschleudern. Vermutlich würden sie ihr ohnehin keinen Glauben schenken. Und keinesfalls wollte sie sich in dieser Nacht auch noch einem aufgebrachten Mob von Frauen aussetzen!

Ankis Schuhe klackerten über das Pflaster, während sie Robert durch den dichten Nebel bis zur Kutsche folgte, wo Alex vom Kutschbock sprang und sich dem Student in den Weg stellte.

»Das ist ein Bekannter der Chabenskis, Alex. Robert Busch und ich haben Ljudmila Sergejewena gefunden.«

Der Kutscher verbeugte sich knapp vor dem ihm fremden Mann und riss den Schlag auf, um in das Gefährt zu huschen. Von dort half er Robert, die benommene Ljudmila auf die Sitzbank zu betten. Wieder zurück auf der Straße bot er Anki seine Hand zum Einsteigen, die sie ohne Zögern annahm. Kaum dass sie Platz genommen hatte, wanderte ihr Blick fragend zu Robert.

»Ich folge Ihnen zu Pferd«, sagte er, klopfte Alex auffordernd auf die Schulter und verschwand nach ein paar Schritten in der weißen Nebelwand.

»Zu den Zoraws?«, fragte der Kutscher.

»Ja. Du kennst den Weg?«

»Sicher. Die Frau ist doch noch am Leben, oder?«

»Ja, sie lebt. Aber ich mache mir große Sorgen um ihre Freundin, Herzogin Jevgenia Ivanowna Bobow.«

»Du sorgst dich um die ganze Welt. Ich bin froh, dass du wieder hier bist. Hättest du nicht in diesen Minuten das Haus verlassen, wäre ich hineingestürmt, um dich zu holen.«

»Du bist ein tapferer Mann.«

»Ich bin nur ein einfacher Kutscher. Dennoch traue ich mir zu, Menschen einzuschätzen. Und diesem Rasputin misstraue ich zutiefst. Busch hingegen scheint ein anständiger Kerl zu sein.«

»Ich denke, dein Gefühl trügt dich nicht«, sagte Anki. Obwohl sie noch immer am ganzen Körper zitterte, fühlte sie einen winzigen Funken Freude und Zuneigung in ihrem Inneren. Er wärmte sie wie die Strahlen der Frühlingssonne, wenn diese das erste Mal nach einem eisigen Winter über die Dächer von St. Petersburg wanderten.

Der Kutscher schloss energisch den Schlag und die Equipage schaukelte spürbar, als er auf den Kutschbock stieg. Wenig später knirschten die eisenbeschlagenen Räder über das Pflaster, und die Hausfassaden warfen das gleichmäßige Klappern der Pferdehufe mehrfach zurück.

Ljudmilas Kopf ruhte schwer in Ankis Schoß. Diese streichelte ihrer Freundin zart über die Wange und das weiche, glatte Haar, während sie nachdenklich aus dem Fenster sah. Doch außer dem Geländer der Troickij-Brücke und den verschnörkelten Lampen, die einen sanften Schein verbreiteten, verbarg sich die Stadt vor ihrem Blick, als schäme sie sich der Tat, die in ihr geschehen war. Ein dichter, gemächlich durch die Straßen und über die Flüsse und Kanäle wabernder Nebel hielt alles in seiner Gewalt. Wie auch Rasputin diese Stadt, ja das Land in seiner Gewalt hielt … War sein Einfluss auf die Zarenfamilie wirklich so groß, wie die Gerüchte besagten? Was geschah mit Russland, vor allem in Kriegszeiten wie diesen, wenn ein Monster wie dieser Starez Einfluss auf die Politik ausübte?

Anki biss sich auf die Unterlippe, während ihr Blick nun auf dem nur schemenhaft erkennbaren Gesicht ihrer Freundin ruhte. Was mochte gestern Abend und in der Nacht geschehen sein? Woher stammte das Blut auf Ljudmilas cremefarbenem Rock? Hatte ihre Freundin tatsächlich Herzogin Jevgenia gemeint, als sie geflüstert hatte, sie sei bestimmt tot?

14 Das »Zarendorf«, seit 1937 Puschkin (nach Alexander Puschkin, russ. Dichter), entstand Mitte des 18. Jahrhunderts 26 Kilometer südlich von St. Petersburg und war die erste Wahl der russischen Zaren/Zarinnen Katharina I. und II., Alexander I und Nikolaj II. Die besten Architekten errichteten dort glanzvolle Residenzen.