Kapitel 27

Tübingen, Deutsches Reich,
November 1914

Robert lehnte sich an das Metallgeländer der Eberhardsbrücke, die sich mit zwei eleganten Steinbögen über den Neckar spannte, und legte die Arme auf die kalte Brüstung. Feuchter Nebel umhüllte das Grün, Gelb und Rot der Uferbäume. Zwar gestattete er einen Blick auf den Hölderlinturm, ließ die Nachbarhäuser allerdings nur als unwirkliche, graue Schatten erahnen. Nicht viel freundlicher fielen die Gedanken des jungen Arztes aus. Nach einer aufreibenden Zugfahrt waren seine Eltern und er in Budweis gelandet, anstatt wie vorgesehen über Warschau nach Wien zu fahren.

Von Budweis, einem Ort mit deutschem Bürgermeister, obwohl auch dort längst mehr Tschechen als Deutsche lebten, hatten sie nach Linz weiterreisen können. Mehrmals waren sie auf Abstellgleisen gelandet, auf denen sie manchmal tagelang unter widrigsten Bedingungen festgesessen hatten. Letztendlich, so vermutete Robert, waren sie nur deshalb unbehelligt in Österreich und schließlich im Deutschen Reich angelangt, weil sein Vater einen beträchtlichen Betrag Bargeld mit sich geführt hatte, von dem ihm nichts geblieben war.

In Tübingen angekommen hatten seine Eltern vorerst Unterschlupf bei Bekannten gefunden, während Robert sich Arbeit und Unterkunft suchte. Er hatte eine Art Aushilfsjob bei einem älteren Tübinger Arzt angenommen, der keine Hausbesuche mehr tätigen wollte. Dies hätte Robert genug Freiraum für die abschließenden Prüfungen und die deutschsprachige Doktorarbeit gelassen, jedoch zahlte der Arzt so schlecht, dass er sich im Nachhinein eine unzulängliche Studentenbude suchen musste, in der ihm wenig Ruhe vergönnt war.

Schlimmer noch als diese äußerlichen Unannehmlichkeiten waren die Nachrichten, die sie von den Kriegsfronten erreichten. Offenbar war es der russischen Militärführung gelungen, das wahre Ausmaß des Krieges zu vertuschen. Womöglich konzentrierten sie sich auch nur ausschließlich auf ihre eigenen Kampfschauplätze, nicht aber auf das Weltgeschehen. Inzwischen hatte Montenegro Bulgarien den Krieg erklärt und Serbien dem Osmanischen Reich, das wiederum den Russen und Frankreich den Fehdehandschuh hingeworfen hatte. Um Frankreich zu unterstützen, hatten Russland und Großbritannien dem Osmanischen Reich den Krieg bekundet. Der Kalif in Konstantinopel hatte der Entente gleich den Heiligen Krieg erklärt und selbst in den Kolonien ging es alles andere als friedlich zu. Sogar weit entfernte Länder wie Japan ließen sich mit in den Sog des Krieges reißen. Von einer schnellen Beendigung der Kämpfe hörte er im Kreis der an der Universität verbliebenen Handvoll Studenten nichts mehr.

Bekümmert senkte er den Kopf und blickte auf die Wellen. Wie hatten sie sich nur dermaßen täuschen lassen können? Ein baldiges Ende der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Russland und Deutschland stand nicht in Aussicht. Mindestens ein Jahr, so vermuteten die Leute, würde der Krieg noch andauern. Ein langes Jahr, in dem er von Oskar getrennt war und – was für ihn noch viel schwerer wog – von Anki!

Robert kniff die Augen zusammen, lauschte auf das Plätschern des Neckars und auf die Schritte der Passanten, die bei diesem feuchtkalten Wetter eilig die Brücke überquerten. Am liebsten wäre er in demselben forschen Tempo losgelaufen, gen Osten, zu Anki! Der Gedanke an ihr hübsches Gesicht mit den blauen Augen und dem goldschimmernden Haar zog ihm den Magen zusammen. Eine Flamme der Sehnsucht, die zu einem lodernden Feuer anwuchs, flackerte heiß in seinem Inneren und drohte ihn zu verbrennen. Warum hatte er zugelassen, dass sie zurückblieb? Wie närrisch war er gewesen, dass er sie nicht intensiver gebeten, ja gedrängt hatte, ihn zu begleiten? Was hatte er ihr und sich mit seiner Zurückhaltung beweisen wollen? Seine Liebe zu ihr? Sein Vertrauen in sie? Womöglich wurde ihnen jetzt beides zum Fallstrick! Ein Jahr war eine lange Zeit. Zu lange für eine Liebe, die doch erst an ihrem Anfang stand?

Robert stieß sich vom Brückengeländer ab und zog einen zerknitterten Brief aus der Hosentasche. Seine Mutter hatte ihm diesen kurz nach ihrer Abreise aus Petrograd mit den Worten gegeben, er sei von Anki.

Bisher hatten Ankis auf Büttenpapier geschriebene Worte jedes Mal sein Herz erwärmt, wenn er sie las – und das war während der vielen Tage im Zug häufig der Fall gewesen. Nun aber kroch bei der Lektüre eine eisige Kälte von seinem Rücken in den Nacken, als greife der Nebel mit klammen Fingern unter seine Kleidung.

Geliebter Robert!

Wenn Du diese Zeilen liest, hast Du Petrograd längst hinter Dir gelassen, auf dem Weg in Deine alte-neue Heimat. Ich wünsche Dir von Herzen Gottes Segen für Deinen Neubeginn und Deine noch anstehenden Abschlussarbeiten. Wir werden für eine kurze Zeit getrennt sein, doch diese Zeit des Wartens wird meine Liebe zu Dir nur noch vertiefen und die Vorfreude auf unser Wiedersehen von Tag zu Tag vergrößern. Ich warte auf Dich!

In Liebe,

Anki

Die Hand, die das Papier hielt, zitterte. Er schluckte mehrmals, um die aufsteigenden Tränen zu verdrängen und seinen Wunsch, sofort nach Russland zurückzukehren, tief in sich zu verschließen. Ebenso tat er es mit seiner Liebe zu einer Frau, die unerreichbar weit von ihm entfernt war – und dies für eine unbestimmte und für ihn nicht beeinflussbare Zeitspanne.