Kapitel 45

Petrograd, Russland,
Dezember 1916

Der Winter mit seiner tödlichen Eiseskälte hielt Petrograd unbarmherzig umklammert. Den Tagen, in denen es nie richtig hell wurde, folgten endlos erscheinende Nächte mit klirrender Kälte. Wild tobende Schneestürme warfen ihre weiße Pracht meterhoch in die Straßen. Das öffentliche Leben schien vollständig zum Erliegen gekommen zu sein, doch im Untergrund trieben revolutionäre Gruppen ihre Ziele mit heißem Feuereifer voran.

Entlang der Fenster des Weißen Salons rankten sich Eisblumen in überschwänglicher Fülle, als wollten sie das in Gedanken versunkene Kindermädchen vor allen äußeren Einflüssen schützen.

Anki saß auf der Couch, die Augen auf das orangefarbene Feuer im offenen Kamin gerichtet. Ihre Überlegungen und Gefühle befanden sich in ähnlichem Aufruhr wie die züngelnden Flammen. Seit sie im Sommer vor über einem Jahr Dr. Botkin mit ihrer Bitte aufgesucht hatte, sich für den in Gefangenschaft geratenen Robert einzusetzen, hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Waren seine Bemühungen um Robert im Sande verlaufen? Hatte gar Rasputin diese zu verhindern gewusst? Der Krieg und Rasputin – bedeuteten sie den Niedergang des mächtigen russischen Reiches?

Anki legte ihr Buch, in dem sie ohnehin nicht gelesen hatte, beiseite und betrachtete die vom Feuer in goldenes Licht getauchten Eisblumen. Der Krieg wuchs sich für Russland mit mehreren Millionen getöteten, verletzten und vermissten Soldaten zur Katastrophe aus. Die Bevölkerung hungerte und suchte nach einem Schuldigen. Man fand ihn in Nikolaj II. Der Zar, obwohl dauerhaft in seinem Armeehauptquartier Mogiljow, konnte das Kriegsgeschick nicht wenden. Auch Zariza Alexandra, von vielen Bürgern und immer mehr Militärs als deutsche Spionin verdächtigt, empfand man zunehmend als einen schmerzhaften Stachel im Fleisch. Das größte Misstrauen wurde Rasputin entgegen gebracht, der, so besagten die Gerüchte, Minister ernannte und entließ und Einfluss auf die Kriegsführung zu nehmen versuche. Seine Macht war beängstigend angewachsen, seit er praktisch ununterbrochen im Alexanderpalais ein und aus ging, gegen den ausdrücklichen Wunsch des Zaren – so berichtete Ljudmila bei einem ihrer seltenen Treffen. Nikolaj habe Rasputin mehrmals schriftlich dazu gedrängt, in seine Heimat zurückzukehren. Seine Anwesenheit bedeutete für Ljudmila, dass sie ihre Stellung als Hofdame für die Großfürstinnen nicht mehr ausüben konnte.

Seit ihrem Zusammentreffen im Vorjahr hatte Anki den Starez nicht mehr gesehen. Ihre Erleichterung darüber war groß, ebenso wie über die Tatsache, dass die Staatssicherheit wohl nie über ihren Namen gestolpert war oder das Kindermädchen als zu unwichtig einstufte, um sich mit ihr zu befassen.

Aufgeregte Stimmen von der Galerie ließen Anki den Kopf heben. Nina und Raisa verließen gerade Ninas Zimmer und ihre Absätze klapperten über die Galerie. »Es heißt, die Polizei wisse davon. Das Gerücht geht um, dass die Mordpläne gegen Rasputin sogar aus dem Hause Romanow stammen!«, erklärte Raisa ihrer Freundin in erregtem, fast begeistertem Tonfall. »Stell dir vor, selbst die engsten Verwandten der Zariza und des Zaren wollen den Tod ihres speziellen Freundes und Beraters. Rasputin wagt sich kaum noch aus dem Haus.«

»Ich habe ihn nie kennengelernt«, meinte Nina eher gleichgültig.

»Er ist faszinierend! Ich muss dich ihm bald einmal vorstellen.«

Anki sprang auf und riss dabei beinahe den Beistelltisch mit der Mosaikplatte um. Die Vorstellung, Raisa könne Nina zu Rasputin bringen, schnürte ihr die Kehle zu und versetzte ihr Innerstes in Aufruhr. Ab sofort würde sie Nina jeden Ausflug mit Raisa verbieten, selbst gegen den Trotz und Zorn der Prinzessin an. Sie musste unverzüglich einen Boten zu Fürstin Chabenski schicken. Nina entzog sich immer mehr Ankis Einfluss, und nur ihre Großmutter konnte die junge Dame dazu bewegen, weiterhin den Anordnungen eines Kindermädchens zu gehorchen, dem Nina ohnehin entwachsen war.

Anki wartete, bis sich die Stimmen im Haus verloren, ehe sie den Weißen Salon verließ und die Stufen hinunter ins Foyer hastete. Im Besucherzimmer schrieb sie eine knappe, aber eindringlich formulierte Nachricht und bat schließlich Jakow, Alex damit zum Palast der Witwe zu schicken. Nachdem Jakow, dem die Kälte dieses Winters gehörig in den Knochen saß, mit schlurfenden Schritten verschwunden war, blieb Anki aufgewühlt im Foyer zurück.

Es war verwunderlich, wie offen man in Petrograd von den Mordplänen sprach, die angeblich in den Adels- und Regierungskreisen gegen Rasputin ersonnen wurden. Ob das Gerede der Wahrheit entsprach oder sich letztendlich als Gerücht entpuppen würde?

Rasputins Verhalten zeugte jedenfalls von Angst. Er wurde nahezu rund um die Uhr beschützt, ließ nur enge Vertraute in seine Nähe und blieb, bis auf wenige Ausnahmen, in seiner Wohnung. Die Tatsache, dass Raisa Nina mit größter Selbstverständlichkeit einen Besuch beim Starez anbot, verhieß für Anki nichts Gutes. Offenbar hatte diese junge Frau Zugang zu dem unheimlichen Mönch!

»Fräulein Anki?« Sie wandte sich der Treppe zu und erblickte Jelena am Geländer der Galerie, die den Ballsaal umspannte. Die Dreizehnjährige klammerte sich am Handlauf fest und trotz der Entfernung und der hereinbrechenden Dämmerung erkannte Anki Tränen auf ihren runden Wangen.

Zwiegespalten warf sie einen Blick auf die nur angelehnte Speisesaaltür, aus der Raisas unangenehm hohe Stimme bis zu ihr drang. Eigentlich wollte sie die beiden Mädchen im Blick behalten, da sie aber auf die abendliche Mahlzeit zu warten schienen, lief Anki zurück zur Treppe und diese hinauf.

»Jenja ist bei ihrem Gehversuch gefallen. Sie hat sich den Kopf an einer Kommode gestoßen. Marfa meinte, ich solle Sie benachrichtigen.«

»Komm mit«, rief Anki, stürmte an Jelena vorbei und in das ehemalige Zimmer von Nina. Lautes Gebrüll begrüßte sie, in dem Marfas Beschwichtigungsversuche gänzlich untergingen. Das Kleinkind lag mit hochrotem, tränennassem Gesicht an der runden Schulter der Zofe und brüllte nur noch lauter, als es Anki sah.

»Aber Jenja, wenn du so schreist, kannst du mir doch nicht sagen, was geschehen ist.« Anki ließ sich auf die Knie fallen und nahm der sichtlich überforderten Marfa das Mädchen ab. Dieses schloss den Mund und lehnte sich, von heftigen Schluchzern geschüttelt, Trost suchend an die Njanja. Dabei deutete die Kleine mit der Hand auf eine nicht vollständig zugeschobene Schublade einer schweren Eichenkommode.

»Du bist auf die Schublade gefallen?«

Jenja nickte an ihrem Hals und wischte sich dabei ihr Gesicht an der hochgeschlossenen Bluse des Kindermädchens ab.

»Wo tut es weh?«, erkundigte Anki sich und Jenja hob den Kopf. Auf ihrer Stirn, unterhalb des Haaransatzes, wölbte sich eine bereits blau unterlaufene Beule gewaltigen Ausmaßes und die angespannte Haut sah aus, als würde sie jeden Moment aufplatzen.

»Jelena, lauf bitte in den Speiseraum. Wir benötigen dringend ein kaltes Tuch, am besten eins, das mit Eis gefüllt ist.«

Das Mädchen stürmte davon, dafür kam Katja näher. Ihre großen blauen Augen waren vor Schreck weit aufgerissen. »Kann ich helfen?«

»Bis Jelena zurück ist, könnten wir etwas anderes Kaltes gebrauchen.«

Katja nickte und lief an die Fensterfront. Ein eiskalter Windzug ließ Anki aufblicken und lächeln. Das kleine Mädchen dachte an das Naheliegendste! Sie griff in den Schnee auf dem Fenstersims, formte einen Schneeball und brachte ihn Anki, die ihn an Jenjas Stirn presste, obwohl diese zurückschreckte.

»Das war ein ausgezeichneter Gedanke von dir«, lobte Anki Katja, bat sie dann aber, das Fenster wieder zu schließen.

Als Jelena mit einem Geschirrtuch und einer Schüssel Eis aus dem Kühlraum zurückkehrte, lachte Jenja schon wieder, da ihr der allmählich schmelzende Schnee in kleinen Rinnsalen über das Gesicht floss.

Anki nahm Eis und Tuch entgegen und tauschte die klein gewordene Schneekugel dagegen aus, doch Jenja hielt es nicht länger in Ankis Armen. Sie begann zu zappeln, bis ihr Kindermädchen sie endlich freiließ.

»Marfa, würdest du bitte für Ordnung sorgen, ich muss nach Nina und Raisa sehen«, wies sie die Zofe an und eilte zur Tür, wurde jedoch von Jelena aufgehalten.

»Die zwei sind nicht da.«

»Wie bitte?«, rief Anki aus und wirbelte herum, was Jelena erschrocken zusammenzucken ließ. Mit ihren dunklen Kirschaugen starrte sie die sonst so besonnene ruhige Anki befremdet an. »Wo sind sie denn?«

»Nina hat den alten Kutscher Pjotr angefordert. Er kutschiert sie.«

»Wohin?«

»Das weiß ich nicht. Tut mir leid«, flüsterte Jelena, verwirrt über die knappen Fragen ihres Kindermädchens.

»Du kannst nichts dafür. Aber ich muss es wissen, wo sie sind, und sie notfalls suchen!« Anki drehte sich hilflos einmal um sich selbst. Was sollte sie denn nun tun? Sie konnte sich doch unmöglich in der Dunkelheit auf den Weg zu Rasputin begeben, zumal sie Alex mit einer Nachricht an die Fürstin fortgeschickt hatte und der einzige andere Kutscher mit Nina und Raisa unterwegs war.

Einmal mehr bedauerte Anki, keinen Telefonanschluss nutzen zu können. Womöglich waren Raisa und Nina gar nicht auf dem Weg zum Starez, sondern zum Haus der Osminkens? Ob jemand von den Bediensteten wusste, welches Ziel die Mädchen gehabt hatten? Am ehesten wohl Jakow!

»Marfa, ich weiß nicht, wie lange mich die Suche nach Nina beschäftigen wird …«

»Ich kümmere mich um die Prinzessinnen, das wissen Sie doch.« Marfa klang tatsächlich eine Spur beleidigt, was Anki veranlasste, vor ihren Stuhl zu knien und die Hände der Frau in die ihren zu nehmen.

»Entschuldige, liebe Marfa. Das weiß ich doch. Ich bin nur im Augenblick etwas kopflos.«

»Gehen Sie«, flüsterte Marfa in der Vorahnung schlimmer Ereignisse, wenn schon das sonst so bedächtige Kindermädchen einen derartig aufgeschreckten Eindruck machte.

Anki drückte ihre Hände, erhob sich und stürmte aus dem Raum, gefolgt von Jelena, die sie noch auf der Galerie einholte und am Arm ergriff. »Was ist denn los? Sie haben Angst um Nina, nicht?«

Die Njanja nahm das Mädchen an der Hand und sie eilten gemeinsam die Stufen hinunter. »Raisa hat manchmal Ideen, die für Nina nicht gut sind «, versuchte Anki Jelena ihre heftige Reaktion zu erklären, ohne zu sehr ins Detail zu gehen.

»Ich mochte Raisa noch nie. Sie schleicht sich in unsere Familie ein, behauptete einmal sogar, Sie hätten gesagt, das solle sie tun. Schon lange hege ich den Verdacht, dass Raisa sich Katja, Jenja und auch mich am liebsten vom Hals schaffen würde.«

Anki blieb so ruckartig stehen, dass sie Jelena derb am Arm zu ihr herumriss. Aber der kleine Wildfang war robust und störte sich nicht daran. Vor Jahren hatte sie Raisa tatsächlich vorgeschlagen, sich in die Familie einzubringen, dabei allerdings nicht mit der Auswirkung gerechnet, mit der Jelena offenbar zu kämpfen hatte.

»Aber Raisa würde Nina nie Schaden zufügen – nur uns, den lästigen jüngeren Schwestern. Sie liebt Nina abgöttisch und ist eifersüchtig auf jeden, der ihr nahesteht … näher, als es ihr erlaubt ist.«

»Ich verstehe«, brachte Anki heraus, obwohl die Worte des Mädchens sie verstörten. »Jelena, hör mir bitte genau zu: Ich befürchte, dass Raisa Nina heute zu einem Mann bringt, der einen schlechten Einfluss auf sie ausüben wird. Beide Kutscher sind unterwegs. Ich muss also versuchen, irgendwo eine Droschke aufzutreiben, um die Mädchen zu suchen. Deine Großmutter kommt vermutlich in Kürze hierher. Unterrichte sie bitte darüber. Sie wird es verstehen, denn ich habe ihr zuvor eine entsprechende Nachricht gesandt. Ich sage Jakow, wohin er Alex schicken soll, sobald der zurückgekehrt ist.«

»Und was kann ich tun?« Jelenas Stimme klang kämpferisch, obwohl Anki das ängstliche Flackern in ihren Augen nicht übersehen konnte. Erneut erinnerte diese Heranwachsende sie an Demy.

Anki zögerte einen Moment, ehe sie das herzförmige Kinn der Prinzessin mit ihrer linken Hand umfasste. »Sieh zu, dass hier alles seinen geregelten Gang geht. Und bete, Jelena, dass Raisa und Nina keine Dummheit begehen. Bitte Gott um seinen Schutz für sie.«

»Und für Sie!«, stieß Jelena hervor und bekreuzigte sich.

Die junge Frau lächelte flüchtig, drückte Jelena einen Kuss auf den Scheitel und nahm die letzten Stufen ohne sie in Angriff.

Leider wusste Jakow nicht, wohin Pjotr Nina und Raisa kutschieren sollte. Mit ihm, der vor Jahren vom Hausherrn die Anweisung erhalten hatte, Rasputin nie wieder die Tür zu öffnen, sprach Anki offen über ihren Verdacht, Raisa würde Nina aus reiner Abenteuerlust zu diesem grässlichen Rasputin schleppen.

Die grauen Augenbrauen des alten Mannes zogen sich bestürzt zusammen, und er tat, was er selten einmal wagte: Er ergriff Ankis Hand und sagte mit bedrohlich klingendem tiefem Timbre: »Aber doch nicht heute! Es gibt Stimmen, die sagen, dass Rasputin bald ein Opfer seiner Machtgier und seines verwerflichen Lebenswandels werden wird. Heute ist die Nacht so still, so dunkel, so kalt und düster.«

Panische Angst jagte wie ein Blitzstrahl durch Ankis Körper. Hatten sich die Gerüchte über ein geplantes Attentat auf Rasputin verdichtet? Wussten die Menschen in Petrograd sogar den Tag und die Stunde, die seine mächtigen Feinde erwählt hatten, um das russische Volk von seiner Gegenwart zu befreien? Sie durfte nicht zulassen, dass die beiden Mädchen zwischen die Fronten gerieten!

***

Nur zögernd stieg Anki aus der Droschke und glitt beinahe auf dem mit einer Eisschicht überzogenen Pflaster aus. Mit rudernden Armen gelang es ihr, sich aufrecht zu halten. Vor Schreck atmete sie tief die eisige Luft ein. Ihre Lunge bestrafte dies mit einem schmerzhaften Reißen.

Ängstlich schaute Anki sich um und registrierte die Leere entlang der Häuserfronten in der Gorokovskaja, wo sich üblicherweise ein Gefährt an das andere reihte. Rasputin empfing an diesem Abend offenbar keinen Besuch in seiner Wohnung. Sogar die Fenster im Treppenhaus und den Zimmern, die zur Straße hin gelegen waren, lagen im Dunkeln.

Anki wollte zum Kutschbock gehen, um den Fahrer zu bitten, auf sie zu warten, doch dieser trieb, ohne auf seinen Passagier zu achten, die Zugpferde an und fuhr davon. Das harte Klappern der Hufe und das metallische Knirschen der beschlagenen Räder hallten noch lange in der Straße nach.

Fassungslos starrte Anki dem Gefährt hinterher. Das Verhalten des Mannes heizte ihre Furcht noch mehr an. Wusste er, wer hier wohnte? War es ihm in dieser Nacht nicht geheuer, sich in der Nähe Rasputins aufzuhalten? Vielleicht hätte sie zuerst bei den Osminkens vorbeifahren sollen, ging es Anki durch den Kopf, aber wie schon zuvor wischte sie diese Überlegung beiseite. Dort konnte sie später noch nach den Mädchen suchen – sobald sie sich davon überzeugt hatte, dass sie sich nicht bei Rasputin aufhielten!

Mit tastenden Schritten überquerte sie die glatte Straße und wandte den Blick nicht von den dunklen Fenstern, hinter denen sie die Wohnung des von ihr so gefürchteten Mannes wusste. Schweißperlen liefen ihr trotz der Eiseskälte über den Rücken, ihr Magen begehrte unter Schmerzen gegen ihr Vorhaben auf. Nur ein paar Meter von der Haustür entfernt verharrte Anki, die vor Angst wie gelähmt war. Ein blasser Mond am sternenübersäten Himmel beschien ihre einsame Gestalt auf der Straße.

In einiger Entfernung setzte sich ein Automobil in Bewegung. Das knatternde Motorgeräusch hallte zwischen den Häusern wider und kam näher. Diese modernen Fortbewegungsmittel konnten sich nur die Reichen leisten. Saß darin einer derjenigen Menschen, die von einem Komplott gegen den Freund und Berater der Zarenfamilie wusste? Ein Duma-Abgeordneter35, ein Adeliger oder gar ein Mitglied der Romanow-Dynastie?

Anki blinzelte nervös und schalt sich eine von ihrer Fantasie übermannte Gans. Weshalb sollte Rasputin ausgerechnet in dieser Nacht ermordet werden? Womöglich war das alles bloß dummes Geschwätz. Sie musste einfach nur dafür Sorge tragen, dass Nina niemals mit dem Starez zusammentraf. Alles andere ging sie nichts an!

Als das Automobil scharf hinter ihr abbremste, war Anki trotzdem kurz davor, die Flucht zu ergreifen. Jemand schob das Fenster auf der Beifahrerseite auf. Sie erkannte in der vom fahlen Mondschein angeleuchteten Person ihre Freundin Ljudmila.

»Was?«, entfuhr es Anki, und eine weiße Kondenswolke hüllte ihr Gesicht ein. Erleichterung breitete sich wie ein warmer Sonnenstrahl in ihr aus. Ljudmila war bei ihr! Sie war nicht mehr allein!

»Was tust du denn hier?«, fauchte ihre Freundin jedoch und ihre unnatürlich weit aufgerissenen Augen reflektierten das Mondlicht. In ihnen las Anki pure Angst. Diese Erkenntnis peitschte ihren Puls sofort wieder in die Höhe.

»Ich suche Raisa und Nina.«

»Bei dem Monster?«

»Raisa deutete so etwas an.«

»Geh nach Hause.«

»Aber Ludatschka …«

»Sie sind nicht hier. Nicht mal Rasputin ist hier. Er ist einer Einladung von Fürst Jussupow gefolgt.«

»Was tust du eigentlich in dieser Straße?«, fragte Anki zutiefst verwirrt.

»Ich warte und genieße.«

»Wie bitte?«

»Geh nach Hause.«

»Was genießt du?«

Anki hörte, wie Ljudmila ihrem Chauffeur einen Befehl erteilte, der sofort Gas gab. Der Wagen knatterte noch vehementer und schoss der glatten Straße zum Trotz schlingernd davon.

»Warte!«, rief Anki. Sie wollte dem dunklen Gefährt nacheilen, rutschte jedoch auf dem gefrorenen Untergrund aus und fiel auf einen hart gefrorenen Schneehaufen. »Warum lässt du mich allein zurück?«, schluchzte sie und blieb reglos liegen. Anspannung, Verzweiflung und die wildesten Überlegungen drohten sie wie eine graue Wolke zu umhüllen, aus der sie keinen Ausweg sah. Kälte zog unter ihren Mantel und den um Kopf und Hals geschlungenen Schal. Ihre Füße fühlten sich an wie Eisklumpen, doch ihr Verstand begann scharf zu arbeiten.

Hieß es nicht, Rasputin treffe sich nur noch mit Menschen, denen er vertraute? Sie erinnerte sich gut an den Blickwechsel und die Bemerkungen von Fürst Jussupow bei den Chabenskis, als das Gesprächsthema auf Rasputin kam. Jussupow, einer der wohlhabendsten Männer dieses Landes und durch seine Frau dem Zarenehepaar verwandtschaftlich verbunden, verachtete Rasputin und hielt ihn seit jeher für eine Gefahr. Hatte sich daran etwas geändert?

Anki stützte sich mit den Händen gegen den karstigen Schnee und erhob sich. Rasputin vertraute Fürst Jussupow? Die Erkenntnis schlich sich, nahezu heimlich in ihre verängstigten Gedanken ein: Nichts passte zusammen – und doch ergab alles einen Sinn. Jussupow, ein Adeliger mit verwandtschaftlichen Beziehungen zu den Romanows, hatte Rasputin trotz seiner Vorbehalte zu sich eingeladen. Ljudmila hielt sich vor dem Haus auf, in dem sie nicht nur ihre Unschuld und ihren Glauben an Rasputin verloren hatte – sondern auch ihre beste Freundin sowie einen Teil ihrer Erinnerungen. Ich genieße, hatte sie gesagt. Woher Ljudmila wusste, dass sich Rasputins Schicksal heute besiegelte, konnte Anki nicht ergründen. Aber dass Ljudmila den Gedanken genoss, ihren Peiniger endlich für immer los zu sein, verstand sie sehr genau.

Beinahe wie in Trance begab Anki sich auf den Heimweg. Nina und Raisa befanden sich in Sicherheit. Fürst Jussupow würde an diesem Abend keine jungen Damen zu einer Veranstaltung in sein rund 200 Plätze bietendes Haustheater oder zu einer Soiree in einen der exklusiv eingerichteten Säle seines weitläufigen Palais bitten. Rutschend und stolpernd lief Anki durch die Straßen der Petrograder Insel und wusste bald nicht mehr, in welche Richtung sie sich wenden musste. Sie hatte sich verlaufen. Suchend sah sie sich um.

Noch war es ruhig in diesem Rajon. Es gab keine Warteschlangen vor den Geschäften, niemanden, den sie nach dem Weg fragen könnte. Bei Temperaturen von unter 10 Grad minus wagten sich weder Prostituierte noch Säufer noch düstere Gestalten auf die Straßen, zumindest nicht in dieser Gegend.

Intuitiv bog sie in eine Gasse ein, in der ein feuchter Luftzug die unmittelbare Nähe eines der unzähligen Gewässer der Stadt erahnen ließ. Befreit atmete sie auf und ging schneller. Sie hoffte am Kanal auf einen Anhaltspunkt, der ihr verriet, wo sie sich befand.

Der Schnee knarzte unter ihren Schritten, als sie endlich das Ufer der Kleinen Neva erreichte. Mit einer dünnen, im Mondlicht bläulich glitzernden Eisschicht überzogene Bäume erhoben sich vor ihr und verwehrten ihr den Blick auf die nächstgelegene Brücke, anhand derer sie sich zu orientieren hoffte. Die in Flussnähe herrschende feuchte Kälte ließ sie erschauern und veranlasste sie, ihren Schal bis über ihre Nasenspitze zu schieben. Hinter sich hörte sie Gelächter, von weit her war das Klappern von Pferdehufen zu hören. Ob die Polizei Patrouillen ausgeschickt hatte? Immer mehr fürchtete die Elite des Landes die zunehmende Macht der gewerkschaftlichen Organisationen und die sich im Untergrund organisierenden Widerständler. Streiks und Aufstände waren an der Tagesordnung und der Blutige Sonntag war allen nur zu präsent.

Ein Motorengeräusch und die Lichtkegel von Scheinwerfern ließen Anki Zuflucht hinter einem der vor Eis erstarrten Bäume suchen. Ein Automobil näherte sich ihr. Und dann ging alles plötzlich sehr schnell: Das Fahrzeug stoppte mit quietschenden Reifen auf der nahe gelegenen Brücke. Mehrere dunkle Silhouetten sprangen heraus und machten sich im Wageninneren an irgendetwas zu schaffen. Leise, für Anki nicht verständliche Wortfetzen drangen zu ihr. Die Männer schleppten etwas Schweres aus dem Automobil und hievten es auf das Brückengeländer.

Anki riss die Augen auf. Im Mondschein erkannte sie Fürst Jussupow und Dmitri Pawlowitsch, einen Neffen des Zaren, der in der Erbfolge auf den Zarenthron weit oben stand. Gemeinsam rollten sie eine menschliche Gestalt über das Geländer. Sekunden später schlug diese auf der Eisschicht der Kleinen Neva auf, die unter dem Gewicht in unendlich viele im Mondlicht aufblitzende Splitter zersprang. Gurgelnd trug der schwarze, jetzt im Winter träge fließende Fluss den Körper mit sich.

Anki konnte den Blick nicht von dem grausigen Geschehen abwenden. Für den Bruchteil eines Augenblicks glaubte sie, zwei Hilfe suchend nach oben gereckte Hände zu sehen, dann verschwanden sie zwischen den knarrend aneinanderreibenden Eisschollen36.

Rasputin war tot. Und sie? Eine Mitwisserin? Eine Zeugin der Tat?!

***

Weder Nina noch Raisa befanden sich im Haus der Osminkens, sodass Anki weiter durch die nächtliche, stille Stadt wanderte, verfolgt von den Erinnerungen an das Gesehene und dem Wissen, dass auch ihr Vater vor zwei Jahren auf ähnliche Weise in einem Kanal ertrunken war. Sie hoffte und betete, dass sie niemandem begegnete, der sie fragen würde, weshalb sie in dieser Nacht durch die vereisten Straßen lief. Schließlich erreichte sie den zugefrorenen Fontanka-Kanal und entschied sich, bei den Zoraws anzufragen, ob sie für sie einen Chauffeur oder Kutscher abstellen würden.

Während sie die Auffahrt hinaufeilte, betrachtete sie verwundert die vielen erleuchteten Fenster. Sie hatte zwar gehofft, dass noch jemand wach war, doch diese übermäßige Beleuchtung war ihr nicht geheuer.

Ljudmila hatte keine Festlichkeit erwähnt. War die Nachricht von Rasputins Tod bereits durchgesickert oder gab es einen anderen Grund für das hell erleuchtete Haus? Große Sorge um Ljudmila machte sich in Anki breit, während sie versuchte, auf der zwar mit Sand und Asche bestreuten, aber noch immer glatten Auffahrt schneller voranzukommen.

Hatte ihre Freundin in all der Aufregung einen Rückfall erlitten? War der Tod von Jevgenia Ivanowna, der Missbrauch durch Rasputin, der Freitod von Jevgenias Mutter und nun Rasputins Ermordung zu viel für ihre angeschlagene Seele gewesen?

Anki warf sich förmlich die Stufen hinauf und riss am Klingelzug. Es dauerte keine zehn Sekunden, bis ein Dienstmädchen ihr öffnete und Anki in das überheizte Innere des Palastes taumelte, um dort keuchend vor Anstrengung und überwältigt von dem Temperaturunterschied auf die Knie zu sinken.

»Fräulein?«, sprach die Bedienstete sie an.

»Ist Komtess Ljudmila Sergejewna noch zu sprechen? Es ist wichtig«, japste Anki.

Die Frau nickte und eilte davon. Mittlerweile hatte Anki sich so weit erholt, dass sie sich aus ihrer warmen Vermummung pellen konnte. Sie behielt sowohl den Mantel als auch das Kopftuch und den Schal in den Händen, da sie das Haus schnell wieder verlassen wollte.

»Anki?« Ljudmilas Tonfall klang ebenso farblos und frostig wie die Nacht draußen. Angespannt schaute Anki ihr entgegen, registrierte die hängenden Schultern, den unruhigen Blick und die Frage in ihren Augen.

»Komme ich ungelegen?«, stieß Anki ungehalten hervor. Ihre Angst um Nina und die Bilder des von der Brücke fallenden Bündels schienen in ihrem Kopf winzige Explosionen auszulösen. Die ihr sonst eigene Zurückhaltung war wie ausgelöscht.

»Komm mit«, sagte Ljudmila und führte Anki in ihr Zimmer. Die vertrauten Möbel und beruhigenden Farben taten ihre Wirkung auf Ankis aufgewühltes Gemüt. Ljudmila setzte sich auf die mit weinrotem Brokat bezogene Chaiselongue, während Anki sich mit dem Rücken gegen einen der Fenstersimse lehnte. »Was führt dich hierher?«

»Ich suche noch immer nach Nina. Und da du mich auf der Petrograder Insel einfach stehen lassen hast, kam ich nicht sehr weit. Ich brauche deine Hilfe.«

»Was ist mit den Kutschern der Chabenskis?«

»Sie waren unterwegs, als ich fortmusste.« Anki krampfte ihre Finger in den Stoff ihres Mantels. Die Komtess wirkte auf sie wie ein nervöses Wrack und eindeutig nicht bereit, ihr zu helfen.

»Jetzt wird er tot sein«, sagte Ljudmila plötzlich.

Anki schwieg. Sie sah keine Veranlassung zu offenbaren, dass sie wusste, von wem ihre Freundin sprach, noch, dass sie den Tod des Starez bezeugen könnte. Wieder brach das Grauen der vergangenen Stunden über sie herein, und sie rutschte mit dem Rücken an der Wand entlang, bis sie auf dem Boden saß, wobei sie Mantel und Schal zitternd an sich presste.

»Herzog Bobow ist hier«, erzählte Ljudmila emotionslos weiter. »Er wusste um den Plan von Jussupow und den Duma-Abgeordneten und Mitgliedern der kaiserlichen Familie. Vermutlich gehört er mit zu den Verschwörern.«

»Weil er Rasputin die Schuld für den Tod seiner Tochter gibt?«, vermutete Anki.

Ljudmilas Lachen klang hysterisch. »Anki, ich erinnere mich wieder.«

»Wie bitte?«

»Seit unserem Zusammentreffen mit Rasputin in Zarskoje Selo letzten August ist die Erinnerung an jene Nacht zurückgekehrt. Und glaube mir, ich wünschte, sie würde wieder hinter diesem Nebel verschwinden, der sich so lange über sie gelegt hatte.«

Anki starrte Ljudmila fassungslos an. Ihre Freundin erinnerte sich seit Monaten an die Vorkommnisse jener schicksalhaften Nacht und hatte es ihr gegenüber nicht erwähnt? Kam daher ihre Wesensveränderung, die plötzliche Kälte zwischen ihnen?

»Warum?«, hauchte sie kraftlos.

»Warum ich es dir nicht gesagt habe? Ich konnte es nicht. Damals, in der Nacht, bevor du und dein Verlobter mich aus Rasputins Haus retteten, war schon einmal ein Attentat auf den Starez geplant. Nicht eingeplant war allerdings, dass er sich zu diesem Zeitpunkt in Begleitung von Jevgenia Ivannowna und mir befand.« Die Worte quollen förmlich aus Ljudmila heraus, als müssten sie nach einer langen Gefangenschaft endlich in die Freiheit entfliehen. »Herzog Bobow schoss auf Rasputin und traf dabei seine Tochter. Ich hielt sie … sie starb in meinen Armen. Wer sie später in den Fluss warf, weiß ich nicht, denn Rasputin zog mich mit sich, als er flüchtete.«

Tiefes Schweigen legte sich über die beiden jungen Frauen. Regungslos saßen sie da, Ljudmila mitgenommen von ihren düsteren Erinnerungen, Anki von dem Bild, das sich wie ein Puzzle vor ihrem inneren Auge zusammensetzte. Der Herzog war einer der Mitverschwörer und hatte damals statt Rasputin seine eigene Tochter getötet. Womöglich hatte er, um Spuren zu verwischen und um die Tat dem Starez in die Schuhe zu schieben, Jevgenias Leichnam sogar selbst in dem kalten Gewässer versenkt! Ob seine Frau am Tag ihres Selbstmords die Wahrheit über den tragischen Tod ihrer Tochter erfahren hatte? Wie groß musste Herzog Bobows Angst gewesen sein, dass Ljudmila sich eines Tages erinnern und ihn als Täter nennen würde?

Anki schrak zusammen, als Ljudmila sie ansprach, vor allem, da ihre Stimme sehr sachlich klang: »Du kannst unser Telefon benutzen und alle Bekannten anrufen, bei denen du Nina Iljichna und die kleine Osminken vermutest. Ich sorge dafür, dass du anschließend nach Hause gefahren wirst. Wir werden uns ab heute nicht mehr häufig sehen, zumal ich meine Stellung bei den Zarewnas wieder einnehme.«

Anki nickte und erhob sich. Ljudmila verbannte sie aus ihrem Leben. Sie wünschte keinen Trost mehr von Anki, musste nicht länger ihren Schmerz bei ihr loswerden. »Ich hoffe, es gibt jemanden, mit dem du über diese schrecklichen Geschehnisse sprechen kannst.«

»Sicher, Anki.«

»Lebewohl«, flüsterte Anki und verließ bedrückt Ljudmilas Zimmer. Mit tastenden Schritten, als fürchte sie, der Boden könne unter ihr wegbrechen, so wie ihre Freundschaft nach einer langen Phase des Verfalls nun zerbrochen war, ging sie den Flur entlang und die Stufen hinunter. Sie ignorierte die aufgeregt diskutierenden Männerstimmen aus dem Erdgeschoss und setzte sich vor das Telefongerät. Obwohl es mitten in der Nacht war, ließ sie sich mit den Häusern verbinden, in denen Raisa, vor allem aber ihre Nina sich befinden mochten.

Nach dem dritten Anruf erfuhr sie, dass Raisa und Nina auf dem Heimweg seien. Erleichtert hängte Anki die Hörmuschel ein und blieb noch minutenlang auf dem Stuhl bei der Telefonkommode sitzen, als habe jegliche Energie sie verlassen. Ihre Gedanken wanderten zu dem Verfolger, der ihr bei einem ihrer Ausflüge mit Ljudmila ins Gostinyj Dvor aufgefallen war. Ob der Mann damals gar nicht von der Staatssicherheit beauftragt worden war? War er von Ljudmilas Eltern zum Schutz ihrer Tochter abgestellt gewesen, weil zumindest ihr Vater – wie auch der Jevgenias – Rasputin kritisch gesehen hatte? Wo aber war er dann in jener schicksalhaften Nacht des Anschlags gewesen, in der Jevgenias Vater statt Rasputin seine eigene Tochter erschossen hatte? Hatte man in dieser Nacht von einem Bewacher für die jungen Damen abgesehen, um keine Zeugen zu riskieren?

Anki wusste, ihr Grübeln würde zu nichts führen. Vermutlich erfuhr sie niemals die Einzelheiten, da eine Decke des Schweigens über den Geschehnissen lag. Jevgenias Vater hatte sogar die Polizei und seine Frau über den Tod seiner Tochter im Unklaren gelassen.

Irgendwann raffte Anki sich auf und begab sich auf die Suche nach dem für sie angeforderten Chauffeur. Sie wollte zu Jenja, Katja, Jelena und auch zu Nina – ihren Mädchen. Ihnen galt all ihre Fürsorge und Liebe. Sie waren jetzt ihre Familie und die einzigen Menschen in diesem großen, in Todesqualen liegenden Land, denen sie etwas bedeutete. Denn ihre Hoffnung, Robert wiederzusehen, schwand mit jedem Tag mehr, den er sich in russischer Gefangenschaft befand.

35 Duma = Gedanke. Gewählte Versammlung und damit Zweite Kammer neben dem Reichsrat.

36 Die Darstellung Jussupows über die letzten Stunden Rasputins und der Obduktionsbericht des Leichnams unterscheiden sich eklatant. Fakt ist, dass Rasputin weder, wie von Jussupow angegeben, durch in Süßigkeiten gemischtes Gift (kaum Wirkung!?) noch durch auf ihn abgegebene Schüsse starb, sondern mit Folterspuren am Körper gefesselt in der Neva ertrank. Die Attentäter erhofften sich von seiner Beseitigung einen politischen Kurswechsel.