Kapitel 15

Bei Lüttich, Belgien,
August 1914

Während die Stadt Lüttich kurioserweise schnell eingenommen wurde, stemmte sich die zu ihrem Schutz erbaute Festung mit ihren zwölf stark befestigten Außenforts gegen den Ansturm des deutschen Heers an. Unermüdlich drang das Abfeuern der Artilleriegeschosse über das Land, begleitet vom Stampfen der nachrückenden Soldaten und dem Rollen der Protzen13, die immer schwerere Geschütze zum Kampfschauplatz transportierten. Darunter waren erstmalig auch 42-Zentimeter-Mörser, die von ihren Bedienmannschaften liebevoll Dicke Bertha genannt wurden und den Festungsmauern erheblichen Schaden zufügten.

Abseits der Belagerungsstellungen lagerte Hannes’ Zug in einem in dieser kriegerischen Zeit eigentümlich romantisch anmutenden Weidenhain. Während im Osten die ersten Strahlen der Sonne über die Landschaft glitten und die schwarzen Schatten mit Farbe füllten, wanderte Hannes ruhelos zwischen den Infanteristen hindurch und betrachtete die ermattet daliegenden Soldaten. In der vergangenen Nacht hatte er zehn Männer verloren. Zwei von ihnen lagen verletzt im Lazarett, sechs waren tot und bei zweien wusste er nicht, was aus ihnen geworden war.

Zwar waren in der Kadettenanstalt die kräftezehrenden Kämpfe und die damit verbundenen Verluste thematisiert worden, doch die Realität sah völlig anders aus als im Lehrbuch. Blutiger. Schmutziger. Widerwärtiger. Endgültiger. Bereits nach seinen ersten Fronteinsätzen begann Hannes zu erahnen, was zu Philippes Kriegsverdrossenheit geführt haben mochte, die er bisher nie hatte nachvollziehen können.

Er ließ sich auf einer steil abfallenden Böschung nieder, viel zu aufgewühlt, um auch nur an Schlaf zu denken. Obwohl er sich nach den langen Märschen der vergangenen Tage und dem Schrecken seiner ersten Schlachten wie erschlagen fühlte, ließ er den Blick erneut über seine auf 30 Mann zusammengeschrumpfte Einheit gleiten.

Die meisten Soldaten hatten ihre Köpfe auf ihr Gepäck gebettet und die Augen geschlossen. Einige kauten an ihrem Proviant, während ein auffällig jung wirkender Bursche, dem nur ein Flaum im Gesicht stand, an seinen Fingernägeln knabberte.

Zum ersten Mal begann Hannes damit zu hadern, dass er sich nach seinem Abschluss auf der Kadettenanstalt und der anschließenden Pflichtzeit nicht intensiver um einen Aufstieg in den Reihen der Militärs bemüht hatte. Ein höherer Rang und damit verbunden ein anderes Aufgabenfeld innerhalb der Armee hätte ihn vor einer zu engen Beziehung zu seinen Untergebenen geschützt. Die meisten seiner Männer kannte er erst seit ein paar Tagen. Er wusste kaum etwas über sie und deshalb ging ihm der Verlust der Soldaten nicht allzu nahe. Allerdings ahnte er, dass sich dies ändern würde …

Müde, schlurfende Schritte näherten sich seinem Lagerplatz. Hannes hob den Blick und sah zweien seiner Unteroffiziere, Heinrich Tassa und Hermann Eisenburg, prüfend entgegen. Sie rutschten nacheinander die Böschung zu ihm hinunter und grüßten vorschriftsmäßig, wobei Hannes sich fragte, ob er ebenso heruntergekommen, verdreckt und übermüdet aussah wie diese beiden Gestalten.

Eisenburg, ein paar Jahre älter als Hannes, ließ sich ihm gegenüber auf einem Felsbrocken nieder. »Heine ist auf dem Verbandsplatz gestorben. Mit dem Bauchschuss war ihm nicht zu helfen. Kleber kämpft noch. Sieht aber nicht gut aus.«

Hannes nickte ernüchtert. Noch ein Toter und einer, für den der Krieg bereits vorüber war. Fragend sah er zu Tassa auf. Dieser erklärte: »Von den beiden Vermissten gibt es keine Spur. Vermutlich sind sie hinüber und liegen irgendwo, wo man sie nicht finden kann, Herr Leutnant.«

»Danke!«

Die zwei Männer trollten sich, da sie nicht sehr erpicht auf die Gegenwart ihres Vorgesetzten waren, und suchten sich ebenfalls einen Platz zum Ausruhen. Der Kleine, August Butzmann, kaute noch immer an seinen Nägeln, ließ Hannes dabei aber nicht aus den Augen.

Schließlich raffte er sich auf, grüßte und wagte sich ein paar Schritte näher. »Herr Leutnant?«

»Was?«

»Wir sollen ganz im Norden von Frankreich einmarschieren und Paris von oben umfangen, nicht wahr?«

Verwundert darüber, wie genau der junge Kerl wusste, wohin ihr Gewaltmarsch führte, bejahte Hannes die Frage.

»Herr Leutnant, darf ich eine Bitte äußern?«

»Was?«

»Ich war oft in Saint Quentin, in Amiens und auch bei Rouen.« Der Bursche zögerte und fügte dann fast entschuldigend hinzu: »Verwandtschaft.«

»Auch ich habe Verwandte in Frankreich«, räumte Hannes ein und machte sich bewusst, dass ein paar seiner Spielkameraden aus Kindheitstagen in diesem Augenblick mit Waffen in den Händen auf der anderen Frontseite stehen könnten.

»Wir Landser werden in die Pläne der Kommandeure nicht eingeweiht. Wir wissen oft nicht einmal, wo wir stehen. Darf ich Sie gelegentlich fragen, wo wir uns befinden, Herr Leutnant?«

Hannes nickte dem Burschen zu und schickte ihn zurück zu seiner Lagerstätte. Höflich bedankte sich Butzmann bei ihm und legte sich nieder, um erneut das nervöse Kauen an seinen Nägeln aufzunehmen.

Hannes warf einen Blick zu dem sanften orangefarbenen Schimmer im Osten. Nun hatte er neben den vier Unteroffizieren in seinem Zug also den ersten persönlichen Kontakt mit einem seiner Soldaten gehabt. Er wusste jetzt mehr über ihn als nur sein Alter, seinen Heimatort und dass er sich trotz seiner schmächtigen Gestalt bei den bisherigen Gewaltmärschen erstaunlich gut gehalten hatte. Falls Butzmann etwas zustieß, würde er für ihn kein anonymer Toter mehr sein.

Hannes’ Gedanken wanderten wie von selbst zu seiner Frau Edith und den beiden Töchtern. Er fuhr zusammen, als sich ihm feste Schritte näherten und unmittelbar vor ihm verharrten. Prüfend hob er den Blick und sah vor sich einen kräftigen Mann, dessen zwei goldene Sterne auf den Schulterstücken ihn als Hauptmann und die Schärpe als Adjutanten auswiesen.

Hannes rappelte sich auf und grüßte vorschriftsmäßig. Noch ehe er seine Soldaten auf die Beine treiben konnte, legte der Offizier einen Zeigefinger an seine Lippen und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Schläfer. »Lass sie. Sie haben sich ihren Schlaf verdient.«

Eilig schob Hannes seine verrutschte Schildmütze gerade und erkannte erst jetzt in dem Hauptmann seinen ehemaligen Kadettenkameraden Theodor Birk. »Theodor!«, sagte er und schüttelte dem Mann kräftig die Hand. »Ich wusste immer, dass du es weit bringen wirst, Herr Hauptmann. Du warst schon in der Akademie ein Genie!«

»Mach mal halblang, Hannes.« Bescheiden wie eh und je winkte Theodor ab.

»Wo hast du dich denn all die Jahre herumgetrieben?«, wollte Hannes wissen, während der Hauptmann sich auf dem abschüssigen Wiesenstück niederließ.

»Wie du weißt, habe ich die preußische Kriegsakademie absolviert, anschließend folgte meine Dienstzeit in Deutsch-Ostafrika.«

Hannes nickte anerkennend. Er wusste, dass nur 3 Prozent der Bewerber angenommen wurden und nur 15 Prozent der Lehrgangsteilnehmer am Ende einen erfolgreichen Abschluss an der Akademie vorweisen konnten. Nie hatte er an der Intelligenz und dem Ehrgeiz seines Trauzeugen gezweifelt. Leider hatten ihre unterschiedlichen Lebenswege sie über mehrere Jahre voneinander getrennt.

»Wie geht es Edith? Habt ihr Kinder?«, forschte Theodor interessiert nach. Hannes erzählte von seiner Frau und den beiden Mädchen und erkundigte sich dann bei seinem Gesprächspartner, ob er mittlerweile ebenfalls verheiratet war, was dieser verneinte.

»Gibt es die kleine tapfere Demy noch im Hause Meindorff?«

»Demy? Ja, sie ist immer noch Gesellschafterin ihrer Halbschwester. Die hat meine Schwägerin aber auch nötig, so häufig, wie sie quer durch Europa reist.« Hannes verschwieg dem ehemaligen Kameraden, dass sein Vater die Drohung, ihn aus seinem Haus und seinem Leben zu verbannen, wenn er das Arbeitermädchen heiraten sollte, noch am Tag seiner Hochzeit wahrgemacht hatte und diesen Bann noch immer aufrechterhielt. Demy war dagegen ein dankbares, neutrales Thema, immerhin besuchte seine frühere Verlobte ihn und seine Familie oft in ihrem bescheidenen Berliner Haus.

»Demnach ist sie nicht verheiratet?«

Hannes grinste seinen Freund aus alten Tagen an. Hörte er da Interesse heraus? »Ja, sie ist noch zu haben. Vielleicht wünscht der Herr Adjutant einmal im Haus Meindorff vorzusprechen?«, frotzelte Hannes.

Mittlerweile war die Sonne über den Hügelkamm im Osten gestiegen und in ihrem Licht sah er den Hauptmann leicht erröten. Das passte zu dem Theodor, den er von früher kannte. Ansonsten gab es keine Gemeinsamkeiten mehr mit dem einst so schüchternen, pickeligen Schwaben. Theodor hatte weitaus schlechtere Startvoraussetzungen gehabt als Hannes, ihn aber nun zumindest im militärischen Rang deutlich übertrumpft.

Ehrlich erfreut schlug er seinem Gesprächspartner auf die breite Schulter. »Es ist schön, dass du dein großes Ziel erreichen konntest.«

»Das Verfolgen eines Ziels eröffnet einem viele Chancen, man lässt aber auch so manche Möglichkeiten ungenutzt am Wegesrand liegen. Bei dir kam die militärische Karriere ins Stocken, bei mir liegt das Privatleben brach.«

»Ich möchte Edith und die Mädchen gegen nichts auf der Welt eintauschen. Allerdings frage ich mich in letzter Zeit immer wieder, ob Demy damals nicht recht hatte. Wäre ich ein wenig geduldiger gewesen und hätte meinem Vater Zeit gelassen, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass ich eine Frau heiraten möchte, die seinen Ansprüchen nicht genügt, wer weiß …?«

»Eine Antwort darauf wirst du nie erhalten«, vermutete Theodor. »Und eigentlich ist es müßig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Die Jahre lassen sich nicht zurückdrehen.«

Hannes brummte eine Zustimmung und blickte in Richtung der Festung, von wo die Detonationen der Artilleriegeschosse nun wieder vermehrt zu ihnen drangen. »Demy gegenüber verspüre ich noch immer ein schlechtes Gewissen. In ihrem Alter sollte sie längst verheiratet sein. Aber offenbar hat der Makel, eine verschmähte Braut zu sein, ihr mehr geschadet, als ich damals vermutet hatte«, sagte Hannes und warf seinem Freund einen kurzen Seitenblick zu. Dieser schaute versonnen auf seine glänzenden Stiefel.

»Andererseits hat sie sich ihren wenigen Verehrern gegenüber überaus eigentümlich verhalten.« Bei der Erinnerung an Demys Eskapaden lachte Hannes auf. »Einer der Herren hatte sie auf einen Reitausflug eingeladen. Demy ritt ihn in Grund und Boden. Zu einem zweiten Treffen kam es nie, denn welcher Mann möchte von seiner Angebeteten als der deutlich schlechtere Reiter vorgeführt werden?« Auf Theodors Gesicht zeigte sich ein Schmunzeln, und Hannes fuhr fort: »Edith sagte mir, Demy habe direkt nach dem Reitausflug bei ihr vorbeigeschaut. Sie hatte sich zwar Gesicht und Arme gesäubert, aber ihr Reitdress, übrigens eines, das nicht der gängigen Reitmode für Damen entsprach, wies noch verräterische Schlammspritzer auf.«

»Sie scheint sich auf ihre Art gegen eine zwangsverordnete Vermählung zu wehren. Vielleicht suche ich sie wirklich einmal auf.« Theodors breites Grinsen entging Hannes nicht. Schließlich erhob sich sein Freund und streckte ihm zum Abschied die Rechte entgegen, mit der er ihn auch gleich auf die Füße zog.

»Das solltest du wirklich tun. Ich glaube, sie war bei Ediths und meiner Trauung durchaus angetan von dir. Und dich in der Verwandtschaft zu haben könnte mir gefallen.«

»Demy ist nicht mit dir verwandt«, stellte Theodor richtig.

»Ach, die komplizierten Verwandtschaftsverhältnisse dieser van-Campen-Mädchen«, schmunzelte Hannes und winkte ab. »Sie ist für mich wie eine kleine Schwester. Eine Schwester des Herzens, sozusagen.«

»Mit einem sehr großherzigen Wesen, wie mir scheint.«

»Ja, Theodor. Demy hat viel für Edith und für mich riskiert. Ich hoffe, sie lässt sich niemals wieder so ausnutzen. Niemand soll ihrem Glück mehr im Wege stehen. Und das darfst du durchaus als eine Warnung verstehen, Herr Hauptmann!«

Theodor blickte ihm ernst in die Augen. »Dafür bin ich nicht der Typ, das solltest du doch noch wissen.«

»Ja, das weiß ich. Es ist gut, dich getroffen zu haben. Und ich freue mich, dass die da oben einen so tüchtigen Adjutanten beschäftigen!«

»Gott mir dir, Hannes!« Theodor wandte sich um und stapfte zwischen den schlafenden Soldaten hindurch, um kurz darauf hinter einer Reihe erschöpfter Pferde aus dem Blick von Hannes zu verschwinden. Den Hufschlag von Theodors Reittier hörte er nicht mehr, da die Geräusche von der Eroberungsschlacht um die Festung Lüttich deutlich an Intensität zunahmen.

»Gott mit dir«, wiederholte er den letzten Satz und guten Wunsch seines Kameraden. Wieder wanderte sein Blick über die auf der zerstampften Wiese ruhenden Männer hinweg. Der jüngste schlief inzwischen ebenfalls, den Finger, an dessen Nagel er zuletzt geknabbert hatte, noch im Mund.

Sie benötigten diesen göttlichen Schutz dringend!

13 Einachsiger Karren zum Transport der Artilleriegeschütze.