Kapitel 6
Bei den Argonnen, Frankreich,
August 1914
Eine Fliege krabbelte über Demys Gesicht und sie vertrieb das lästige Insekt mit einer flüchtigen Handbewegung. Dabei rutschte etwas Schweres, das wärmend auf ihr gelegen hatte, von ihrem provisorischen Lager auf den schmutzigen Scheunenboden. Ein wenig steif setzte sie sich auf und hob Philippes mit Lammfell gefütterte Jacke auf. Er war demnach zurückgekehrt, stellte sie mit großer Erleichterung fest, war aber gleichzeitig etwas irritiert darüber, dass er einfach die Scheune betreten und sich ihr im Schlaf genähert hatte.
Doch dann wies sie diese Überlegungen als kleinlich von sich und stand auf. Sie schüttelte ihre Kostümjacke aus, schlüpfte hinein und trat, die Lammfelljacke und die Decke in den Händen, ins Tageslicht hinaus. Verwundert sah sie, wie hoch die Sonne bereits am Himmel stand und ihre wärmenden Strahlen über das Land schickte. Hatte sie so lange geschlafen? Wäre es nicht sinnvoll gewesen, bereits in den frühen Morgenstunden ihre Flucht aus Frankreich fortzusetzen?
Sie legte Lederjacke und Decke zu Philippes Jackett, Hemd und Schlips auf den Stamm eines umgestürzten Baumes und beschattete mit beiden Händen ihre Augen. Der Pilot stand, den Oberkörper nur mit einem Trägerhemd bekleidet, beim Flugzeug und füllte aus einem silbernen Blechkanister Treibstoff in den Tank. Ein gemächliches Glucksen begleitete sein Tun.
Eilig lief Demy zum Bach, wusch sich notdürftig, flocht ihren zerzausten Zopf neu und ging daraufhin zu Philippe.
»Morgen«, begrüßte er sie knapp. »In dem Beutel neben meinem Jackett finden Sie Brot, Käse und eine Flasche Wasser. Mehr war nicht aufzutreiben.«
»Danke, ich bin nicht hungrig. Wann sind Sie zurückgekommen? Ich habe Sie gar nicht gehört.«
»Vor etwa vier Stunden.«
»Erst vor vier Stunden?« Erstaunt zog sie die Nase kraus und musterte Philippes Profil. Außer einem dunklen Stoppelbart wirkte er so frisch wie am Vortag. Konnte der Schlafmangel ihm denn nichts anhaben?
Philippe schraubte den Kanister zu und drehte sich in ihre Richtung. Dabei entdeckte sie an seinem muskulösen linken Oberarm, knapp unterhalb der Schulter, eine weiß glänzende Narbe. Ob sie von der Schussverletzung stammte, die er in Afrika erlitten hatte? Soweit sie damals überhaupt über seine Verwundung informiert worden war, hatte man von mehreren Schusswunden gesprochen.
»Ein schlechtes Gewissen?«, fragte er spöttisch, als er ihren neugierigen Blick bemerkte, und ging so dicht an ihr vorüber, dass sie die Narbe in aller Ausgiebigkeit betrachten konnte.
»Aus welchem Grund, Herr Meindorff, sollte mich ein schlechtes Gewissen plagen? Ich habe Ihnen nichts getan, oder?«
»Sie haben nicht auf meinen wohlmeinenden Rat gehört«, gab er unfreundlich zurück. »Deshalb muss ich Ihretwegen diesen Flug wagen und mir die Nächte damit um die Ohren schlagen, mit einem gestohlenen Motorrad herumzufahren, um Flugbenzin aufzutreiben«, lenkte er vom eigentlichen Inhalt ihrer Frage ab. »Was ich gefunden habe, reicht, wenn wir Glück haben, bis Straßburg. Dort gibt es seit rund zwei Jahren eine Flugstation der preußischen Versuchs- und Lehranstalt für das Flugwesen Döberitz. Zumindest ist es heute windstill. Wir starten in ein paar Minuten.«
In Demys Blick spiegelte sich ihre Angst. Es bestand die Gefahr, dass der Treibstoff nicht bis zum nächsten Flugplatz reichte? Womöglich kamen sie nicht einmal über die französischen Berge hinweg, die sich gestern in der Dämmerung wie ein unüberwindliches Hindernis vor ihnen aufgebaut hatten?
Unschlüssig drehte sie sich um. Von den großen, dunklen Felswänden war, jetzt bei Tageslicht, nicht viel übrig geblieben. Die begrünten Hügel ragten kaum höher als 300 Meter vor ihr auf. Hatte sie sich so sehr getäuscht? Vielleicht war Philippe bei Einbruch der Nacht wesentlich tiefer geflogen als zuvor, da er einen versteckt liegenden Landeplatz gesucht hatte? Aus diesem Grund könnten ihr die Berge höher und bedrohlicher erschienen sein.
Untätig und deshalb etwas beschämt blieb Demy neben dem Flugzeugflügel stehen, während Philippe sich ankleidete. Den Kanister stellte er in die Scheune. Er nahm den Brotbeutel auf und drückte ihn ihr in die Hand. Gleich darauf reichte er ihr Claudes Schutzbrille, die Lederkappe, die Decke und seine eigene Lammfelljacke, ehe er in das Fluggerät kletterte, ohne ihr zuvor hineinzuhelfen. Demy warf den Beutel in die Aussparung vor ihrem Sitz und zog sich die Flugmontur über. Was aber sollte sie mit der dicken Lederjacke anfangen?
»Gehen Sie nach vorn neben den Propeller«, wies Philippe sie an. »Sie dürfen diesem einen Schubs geben. Umwickeln Sie dafür Ihre Hände mit der Jacke und weichen Sie anschließend sofort zurück. Sobald der Motor rund läuft, ziehen Sie sich die Jacke über, auch wenn es Ihnen zu Beginn unseres Fluges zu warm ist. Ich rechne entlang der Grenze mit französischen Beobachtern, und deshalb sind wir eventuell gezwungen, in mehrere Tausend Meter Höhe hinaufzusteigen. Dort oben ist es lausig kalt.«
Mehrere Tausend Meter Höhe? Demy untersagte es sich strikt, über diese Information nachzudenken und fragte: »Und was ist mit Ihnen?«
»Die Kälte ist ein probates Mittel, um wach zu bleiben«, erwiderte er zynisch und warf ihr einen unfreundlichen Blick zu.
Auf Demys Nase bildeten sich die üblichen kleinen Falten. Schuldgefühlte machten sich in ihr breit, da sie mit ihrer Halsstarrigkeit nicht nur sich, sondern auch Philippe in diese Situation manövriert hatte. Dementsprechend zügig folgte sie seinen Anweisungen. Sie wickelte sich in Ermangelung schützender Handschuhe die dicke Lederjacke um beide Hände und griff nach dem schräg nach oben ragenden Propellerflügel.
»Los!«, rief Philippe, worauf Demy den Holzpropeller mit einer kräftigen Bewegung nach unten zog und behände nach hinten wegsprang.
Ein Knattern und Dröhnen durchbrach die Stille der idyllischen Talsenke. Geschwind schlüpfte Demy in die viel zu weite Jacke und hievte sich in den Platz hinter Philippe. Trotz der Hitze wickelte sie die Decke um ihre Beine.
»Alles klar bei Ihnen?«
»Alles bestens«, erwiderte sie, fragte sich aber, als sie ein flaues Gefühl in der Magengegend verspürte, ob sie nicht doch besser etwas hätte essen sollen. Oder verspürte sie trotz des wunderschönen Fluges am Vortag noch immer Angst? Womöglich hatte sie zu oft gehört, dass diese tollkühnen Piloten hauptsächlich beim Start oder Landeanflug ums Leben kamen?!
***
Während im Westen eine Wolkenwand den Horizont verdunkelte, flogen Philippe und Demy in den blauen Himmel hinein. Nachdem sie die Argonnenkette mit ihren Stechpalmen- und Buchenwäldern hinter sich gelassen hatten, überflogen sie das Elsass, und Demy glaubte weit unter ihnen Reiterei und Fußsoldaten auszumachen. Doch sie flogen mittlerweile so hoch, dass die Landschaft nur noch aus Flecken, Strichen und Punkten bestand. Sie war froh über die gefütterte Jacke und warf einen besorgten Blick auf ihren Piloten. Der hatte sich hinter das Steuer geduckt, fuhr nun aber plötzlich in die Höhe.
»Ein Franzose!«, brüllte er ihr zu und deutete mit der Hand nach links. Ein Doppeldecker näherte sich ihnen. Philippe drehte sich halb zu ihr um und rief: »Farman Longhorn, Siebzig-PS-Renault-Motor, wassergekühlt.«
Obwohl sie mit den Begriffen nichts anzufangen wusste, nickte sie.
»Spannweite fünfzehn Meter, Länge zwölf Meter.«
»Und was macht der jetzt mit uns?«
»Das bleibt abzuwarten. Aber mit seinen 95 Stundenkilometern Höchstgeschwindigkeit ist er sehr träge, zudem ist die Maschine beim Manövrieren instabil, aber immerhin auch noch in einer Höhe von bis zu viertausend Meter zuverlässig. Überprüfen Sie Ihren Gurt!«
Demys Handflächen wurden feucht. 4000 Meter Höhe, manövrieren? Das hörte sich für sie allzu bedrohlich an. Sie griff nach dem Gurt und vergewisserte sich, dass er stramm saß. Mittlerweile hatte sich Philippe wieder nach vorn gedreht und zog eine Schleife, sodass sie jetzt dem zweiten Flugzeug entgegenflogen. Der Franzose kam erstaunlich schnell heran. Grüßend hob der fremde Pilot die Hand. Auf seinem Gesicht zeichnete sich ein breites Grinsen ab. Auch Philippe grüßte, dann waren sie schon aneinander vorbei. Ihr Flugzeug drehte in Richtung Osten ab und Demy, die annahm, damit sei der ganze Spuk ausgestanden, schrak zusammen, als sich die Farman, die im Gegensatz zu Philippes Eindecker den Propeller hinter dem Pilotensitz trug, erschreckend nahe neben sie schob.
Der Franzose deutete mit der Hand in Richtung Frankreich zurück. Ob er wissen wollte, woher sie kamen? Demy konnte nicht sehen, auf welche Weise Philippe dem Fliegerkollegen antwortete, doch der wandte sich ihr zu und grinste sie noch breiter an als zuvor. Sie widerstand der Versuchung, ihm die Zunge herauszustrecken, und lächelte stattdessen zurück.
Der Franzose zeigte, wieder an Philippe gewandt, den nach oben gestreckten Daumen und gleichzeitig, als hätten sie es vereinbart, tauchten die Fluggeräte voneinander fort, Philippe nach rechts, der Franzose nach links.
Demy hielt den Atem an, als sie einen Moment lang nur den weit entfernten Boden unter sich sah. Das Kribbeln in ihrem Bauch wurde übermächtig, zumal sie deutlich spürte, wie die Maschine beschleunigte und noch höher stieg. Nach endlos scheinenden Sekunden richtete der Pilot das Flugzeug endlich wieder waagrecht aus.
Es dauerte einen Augenblick, bis Demy in der Lage war, sich nach vorn zu beugen und Philippe zuzurufen: »Was hat er hier gemacht?«
»Den deutschen Truppenaufmarsch beobachtet und nach feindlichen Fliegern Ausschau gehalten.«
Vorsichtig drehte sie sich um und entdeckte das gegnerische Flugzeug nur noch als winzigen Punkt am trüben Horizont. Froh über die Fairness der beiden Flugzeugführer atmete sie laut aus.
Nach dieser für Demy irgendwie unwirklichen Begegnung hoch über dem Erdboden dauerte es nicht mehr lange, bis Philippe auf eine am Fuße der Vogesen liegenden Stadt deutete. An der wuchtigen Sandsteinkathedrale war sie für Demy unschwer als Straßburg zu erkennen. Erleichterung breitete sich in ihr aus. Die Gefahr, dass ihnen der Treibstoff ausging, war somit gebannt. Wieder drehte das Flugzeug ein paar Schleifen. Demy entdeckte unter sich eine langgezogene Halle und auf einem gepflegten Grasstreifen mehrere nebeneinander aufgereihte Flugzeuge.
»Albatrosse«, rief Philippe ihr zu, ersparte ihr dieses Mal aber die technischen Details. Er konzentrierte sich auf den Landeanflug und brachte sie sicher auf den Boden.
Kaum war die Maschine ausgerollt, liefen auch schon eine Handvoll Männer auf sie zu. Einige von ihnen steckten vorschriftsmäßig in Uniform und waren unschwer als Offiziere zu erkennen, andere trugen, wie Philippe, lässige Pullover, bequeme Hemden und trotz der Augustsonne Schals um den Hals.
Seit diesem Flug wusste Demy, weshalb die Piloten weniger auf ihr Äußeres achteten als vielmehr auf lammfellgefütterte Lederjacken und gestrickte Schals. Die Luft in den Höhen, die ihre Maschinen inzwischen mühelos erreichten, war eisig kalt.
Philippe sprang aus dem Fluggerät und wurde sofort von den Herbeieilenden umringt. Es brauchte keine ausgeprägte Beobachtungsgabe, um festzustellen, dass die meisten dieser Burschen ihn gut kannten. Demy fragte sich, wie viele von ihnen wohl gemeinsam mit Philippe die Pilotenlizenz erworben hatten.
Zwei Männer lösten sich aus der munter diskutierenden Gruppe und besahen sich das Flugzeug. Sie betrachteten die Ausstattung und fachsimpelten über Details, wobei ihr Gespräch für Demy fast wie eine Fremdsprache anmutete. Es dauerte geraume Zeit, bis sie selbst Beachtung fand, was Demy erheiterte, zeigte es doch, wie versessen diese Männer auf Flugzeuge waren.
»Hey, Phil! Willst du uns den Burschen nicht vorstellen?«, fragte der eine, während der andere Demy mit schief gelegtem Kopf keck angrinste und dabei, ebenfalls an Philippe gewandt, meinte: »Hast du ihn festgeklebt, damit er dir unterwegs nicht verloren geht?«
Belustigt stemmte sie sich aus ihrem Sitz und sprang behände auf die Wiese. Dort nahm sie Brille, Mütze und Jacke ab und offenbarte dadurch ihre langes Haar und ihr zerknittertes Kostüm.
Jemand stieß einen anerkennenden Pfiff aus, während ein anderer fragte: »Eine neue Melli Beese, Meindorff?«
Die Worte klangen in Demys Ohren verächtlich und veranlassten sie, sich nach dem Fragesteller umzudrehen. Der Offizier war kleiner als sie, trug seine vollständige Uniform und als modisches Accessoire einen Spazierstock und musterte Philippe mit zusammengezogenen Augenbrauen. »Sie waren ja immer einer der wenigen, die sich für die Beese einsetzten, nicht?«
»Sie ist ein exzellenter Pilot, Diercke«, gab Philippe knapp zur Antwort und wandte sich Demy zu. Erschrocken sah sie, dass seine Lippen zwischen den dunklen Bartstoppeln blau waren. Er musste entsetzlich gefroren haben! »Ich brauche eine Pause. Kann ich Sie mit diesen Burschen allein lassen?«
»Ich weiß mich durchaus zu benehmen«, gab sie zurück und entlockte Philippe ein bei ihm selten zu sehendes Lächeln.
»Ist das die Maschine, die du bei Fokker gebaut hast, Phil?« Ein junger Mann stieß Philippe in den Rücken.
»Bei ihm in Schwerin, ja.«
»Der Begleitsitz hinten, das ist ungewöhnlich. Die würde ich gerne mal fliegen.«
»Lass die Finger von ihr!«
»Gilt das auch für die Dame in deiner Begleitung?«, wollte ein anderer wissen.
Demy warf dem Sprecher, einem schlaksigen, jungen Mann in einem viel zu weiten Hemd, den nicht wegzudenkenden Schal locker um den Hals gelegt, einen entrüsteten Blick zu. Der Bursche reagierte mit einem frechen Augenzwinkern.
»Demy van Campen, meine Verlobte«, stellte Philippe sie wieder gewohnt wortkarg vor, wandte sich ab und stapfte davon.
Aufgebracht starrte Demy ihm nach. Sie hielt sich für streitbar genug, sich diese Männer vom Leib zu halten, ohne dass er sie fälschlicherweise als seine Verlobte ausgeben musste, selbst wenn der Gedanke dahinter gut gemeint war.
Prompt baute sich dieser Leutnant Diercke vor ihr auf. »Van Campen? Demy van Campen? Wenn ich mich recht erinnere, gab es im Jahr 1908 eine Demy van Campen, die mit Philippes Verwandtem Hans liiert war. Er ließ sie dann aber wegen einer unscheinbaren Landpomeranze sitzen.«
»Sie dürfen nicht alles für bare Münze nehmen, was irgendwelche Schreiberlinge in die Zeitungen setzen oder gelangweilte Damen beim Kaffeeklatsch verbreiten, Herr Leutnant«, gab sie scharf zurück, und um einen Grund zu haben, sich von dem Mann abzuwenden, warf sie die Lederjacke samt Mütze und Schutzbrille in das Flugzeug. Neben Betroffenheit über seine derben, lästernden Worte empfand Demy auch eine Spur von Wut. Wie lange musste sie noch den Makel mit sich herumtragen, eine geprellte Braut zu sein? In den ersten Jahren nach Hannes’ und Ediths Trauung hatte es sie nicht im Geringsten gestört, dass sie mit mitleidigen Blicken oder gar mit Häme bedacht wurde. Denn sie wusste in ihrem Herzen, dass sie mit der Scheinverlobung dem Paar zu seinem Glück verholfen hatte. Aber inzwischen hatte sie ein Alter erreicht, in dem sie sich nach einer Beziehung zu einem Mann zu sehnen begann. Es störte sie zunehmend, dass ihr Ruf als verschmähte Braut auch nach Jahren noch nicht in Vergessenheit geraten war.
Der eben noch so respektlos wirkende junge Bursche sprach sie an und zwinkerte ihr dabei verschwörerisch zu: »Mein Name ist Ernst Würth. Ich könnte Sie herumführen. Außer, es besteht die Gefahr, dass Phil mich dafür unangespitzt in den Boden rammt.«
»Das Angebot nehme ich gern an«, erwiderte Demy, froh darüber, Abstand von diesem Diercke zu gewinnen. Sie nahm den dargebotenen Arm und ließ sich von dem Flugzeug wegführen. Leutnant Diercke war der einzige der elf Männer, der ihr und Ernst nicht folgte.
»Haben Sie gemeinsam mit Herrn Meindorff das Fliegen erlernt?«, erkundigte sie sich und hoffte, damit den bewundernden Blick und das dümmliche Lächeln aus dem Gesicht des etwa Gleichaltrigen zu vertreiben.
»Nein, Fräulein van Campen, ich bin leider zu jung für eine Pilotenlizenz. Ich werde hier als das Mädchen für alles eingesetzt. Aber die anderen Männer«, er deutete auf die ihnen folgende Meute, »erlernten zwischen neunzehnzehn und neunzehnzwölf das Fliegen bei Phil. Er sei ein geduldiger, fordernder Fluglehrer und großartiger Pilot, heißt es. Mit diesem Flugunterricht verdiente er sich das Geld für seine Studien in Stuttgart und Mainz, wo er auch Anton Fokker kennenlernte. Seit ein paar Monaten arbeitet er bei Fokker an der Entwicklung von immer fantastischeren Flugzeugen.«
»Das heißt, Herr Meindorff hielt sich in den letzten Jahren des Öfteren in der Nähe Berlins auf?«
»Habe ich jetzt einen Fehler begangen? Hätte ich besser meinen Mund halten sollen?« Ernst sah sie bestürzt an.
Sie löste sich von seinem Arm, um an eine der hier abgestellten Albatrosse zu treten und schenkte ihm über die Schulter hinweg ein beruhigendes Lächeln. »Keine Angst, ich werde ihm nicht den Kopf abreißen. Dazu besteht keine Veranlassung. Vielleicht aber wird das Philippes Pflegefamilie in Berlin tun.«
»Sie könnten ihn vorwarnen.«
»Ich könnte dieses Wissen für mich behalten.«
»Dann ist er jetzt erpressbar?«
Demy nickte, lachte und strich mit der Hand über den Rumpf des Flugzeugs. Als sie stehen blieb, entstand hinter ihr Unruhe. Erschrocken drehte sie sich um und fand sich den restlichen Männern gegenüber, die ihr noch immer auf Schritt und Tritt folgten.
»Könnte ich hier wohl etwas zu essen bekommen?«, fragte sie in die Runde.
»In Straßburg gibt es ausgezeichnete Restaurants, Fräulein van Campen. Ich lade Sie gern ein.« Ein Leutnant verbeugte sich eifrig und stellte sich als Bruno Messmer vor.
»Ich hole das Automobil!«, rief Ernst eilfertig und spurtete davon.
***
An den Türrahmen der Baracke gelehnt, die Hände im Nacken verschränkt behielt Philippe Leutnant Diercke aufmerksam im Blick, um sicherzugehen, dass dieser die Finger von Claudes Flugzeug ließ. Diercke war einer seiner schwierigsten Flugschüler gewesen; viel zu selbstsicher, gelegentlich alkoholisiert und oft genug unkonzentriert. Doch er kam aus einer Familie mit langer militärischer Tradition und war auf seinen Vorschlag, den Erwerb der Pilotenlizenz aufzugeben, nicht eingegangen. Wäre Philippe nicht längst Zivilist gewesen und als solcher vom Militär als freier Fluglehrer bezahlt worden, hätte ihm wohl Ärger ins Haus gestanden. So war Diercke einfach Fritz Cremer zugeteilt worden.
Philippe wurde abgelenkt, denn Demy hängte sich gerade lächelnd bei Ernst ein und schlenderte mit ihm davon.
»Gut gemacht, Demy«, murmelte er halblaut vor sich hin. Ernst war ein harmloser, netter Kerl, der ihm große Bewunderung entgegenbrachte und respektvoll auf seine »Verlobte« aufpassen würde.
Philippe unterdrückte die aufkeimende Belustigung, als er an ihr nächstes Aufeinandertreffen dachte. Vermutlich hatte er sie mit seiner Finte gegen sich aufgebracht. Spätestens kurz vor ihrem Weiterflug würde er ihren Ärger zu spüren bekommen. Aber das war immer noch besser, als wenn die Kameraden über das Mädchen herfielen wie Ameisen über ein Zuckerstück.
Belustigt beobachtete er den Pulk Männer, der dicht gedrängt Demy und Ernst folgte. Dieser Anblick bestätigte ihm, dass seine Vorsichtsmaßnahme mit der vorgespielten Verlobung richtig gewesen war. In diesem Augenblick trat Demy zu der Albatros BII, einem zweisitzigen Beobachtungs- und Schulungsflugzeug, und strich mit der Hand über dessen Rumpf. Die fast zärtliche Geste ließ ihn grübelnd die Augen zukneifen. Dieses Mädchen verwirrte ihn. Mal zeigte sie sich widerborstig, im nächsten Moment freundlich und zuvorkommend, um dann plötzlich einen heiteren, frechen Tonfall anzuschlagen. Ihre Stimmungsschwankungen, gemischt mit seinem Hintergrundwissen über ihren Vater, den Betrug mit ihrem Alter und diese seltsame Begegnung zwischen ihr und Karl Roth steigerten sein Interesse, aber auch sein Misstrauen ihr gegenüber. Sie wirkte wie eine geheimnisvolle Fabelgestalt; unwirklich, widersprüchlich und doch anziehend zugleich, wobei in ihm unweigerlich die Frage aufkeimte, wer sie wirklich war.
Inzwischen fuhr Ernst mit einem als Armeefahrzeug gekennzeichneten Automobil vor und Bruno hielt Demy galant die Tür auf. Er und acht andere Männer drängten sich in den Fond, einer setzte sich als Kühlerfigur auf die Motorhaube, einer hatte das Nachsehen und blieb zurück.
Missbilligend schnalzte Philippe mit der Zunge. Er ließ Demy nicht gern aus den Augen; wichtiger war es momentan jedoch, Leutnant Diercke zu beobachten, da dieser noch immer interessiert um Claudes Flugzeug herumstrich. An den dringend benötigten Schlaf war demnach nicht zu denken.