Kapitel 7

Berlin, Deutsches Reich,
August 1914

Stürmisch warf sich Lina in Antons Arme. Seit ein paar Minuten waren sie verheiratet, und sie fand es schlichtweg herrlich!

Ihr Ehemann drückte sie an sich, gleichzeitig begann er, ihr Gesicht mit Küssen zu bedecken und ließ sich auch durch das missbilligende Räuspern einer Dame hinter ihnen nicht davon abbringen.

Lina kicherte, löste sich energisch von ihm und ergriff seine Hand. »Komm, wir schauen kurz bei Margarete vorbei. Ich muss ihr unbedingt von unserer Trauung erzählen. Gestern sagte sie, sie sei heute bei ihrer Familie. Demy, das abenteuerlustige Ding, ist ja immer noch nicht nach Berlin zurückgekehrt.«

Anton folgte ihr ohne Widerworte, wohl wissend, dass es besser war, sie nicht aufzuhalten, kannte er doch ihren Mitteilungsdrang. Allerdings ahnte Lina, dass er über Demys Abwesenheit nicht unglücklich war, blieben ihnen doch nur ein paar Stunden, bis er nach Döberitz aufbrechen musste. Da die Straßen Berlins noch immer hoffnungslos verstopft waren und selbst die elektrische Groschenbahn nur eingeschränkt fuhr, spazierten sie zu Fuß in Richtung Kurfürstendamm. Die frischgebackene Ehefrau fühlte sich großartig. Beschwingt ließ sie ihren cremefarbenen Rock mit dem modischen Seitenschlitzen um ihre Beine wirbeln. Was sie sich so lange erträumt hatte, war in Erfüllung gegangen: Anton liebte sie und hatte sie geheiratet! Die Euphorie der ersten Kriegstage riss auch Lina wie auf einer Welle mit sich. Sie lächelte und winkte den vorbeimarschierenden oder -reitenden Brigaden fröhlich zu.

Vor dem Haus der Pfisters angekommen sprang sie übermütig die Stufen zur Eingangstür hinauf und läutete Sturm. Eine Bedienstete öffnete und wich erschrocken zurück, als Lina mit Anton im Schlepptau an ihr vorbeiwirbelte und die Treppe hinaufstürmte. Mehrmals rief Lina Margaretes Namen. Ein Ruf aus dem Esszimmer der Familie verriet ihr, wohin sie sich wenden musste, um die Gesuchte zu finden.

Lina stieß die nur angelehnte Tür auf und trat zu dem langgezogenen Tisch, auf dessen weißer Spitzentischdecke nur ein einziges zerknittertes Papier lag. Margaretes Mutter nickte ihr grüßend zu und zog sich in das angrenzende Wohnzimmer zurück, doch Lina, berauscht durch ihr Glück, bemerkte gar nicht, dass dieses Verhalten eigentümlich war. Ihre Freundin saß allein am Tisch und sah Lina erstaunt und ernst entgegen.

»Margarete, stell dir vor«, plauderte Lina los und ging vor der Gleichaltrigen in die Hocke. Aufgewühlt ergriff sie Margaretes Hände, die sich trotz der Sommerhitze draußen erstaunlich kalt anfühlten. »Anton und ich sind verheiratet! Ist das nicht wunderbar? Papa war überaus begeistert, als wir ihm von unseren Plänen erzählten. Er hält so viel von Anton und …«

Als Anton seine Hand schwer auf Linas Schulter legte, hielt sie inne. Irritiert sah sie zu ihm auf. Mit dem Kinn wies er auf Margarete, drehte sich um und verließ den Raum.

Lina senkte den Kopf und sah Tränen über das ebenmäßige Gesicht ihrer Freundin rollen. Erschrocken erhob sie sich, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich nahe neben Margarete. Wieder ergriff sie deren kalte, nun heftig zitternde Hände. »Margarete! Was ist denn mit dir?«

»Klaus ist tot!«, stieß die junge Frau hervor.

Entsetzt riss Lina die Augen auf. Unmöglich!, schoss es ihr durch den Kopf. Der Krieg stand doch erst an seinem Beginn. Für einen Moment schloss Lina die Augen und rief sich die Geschehnisse der letzten Tage in Erinnerung: Belgien war ein neutrales Land, und auch die Deutschen hatte dies durch eine Unterschrift auf der Neutralitätsurkunde im Jahr 1839 bestätigt. Dennoch hatte das Deutsche Reich Belgien vor drei Tagen den Krieg erklärt und jetzt wälzten sich ihre Truppen – höchst unwillkommen – durch den kleinen Staat.

»Irgendwo zwischen Namur und Löwen«, flüsterte Margarete. Die Ortsnamen sagten Lina nichts. Diese schreckliche Nachricht kam so unerwartet. Sie erschien ihr unwirklich. Plötzlich war dieser Krieg nicht mehr weit entfernt im Westen, sondern hier bei ihr.

Margaretes Augen waren unnatürlich weit aufgerissen. Ihr Gesicht wirkte seltsam unbeweglich und fremd auf Lina, und noch immer rollten Tränen über ihre blassen Wangen. »Klaudia war hier.« Ein Schluchzen hinderte Margarete am Weitersprechen, doch Lina ahnte, dass Klaudia Groß, die Schwester von Margaretes Ehemann Klaus, die schreckliche Nachricht überbracht hatte.

»Ach, Margarete«, seufzte Lina hilflos. Sie nahm die Freundin in ihre Arme. Sie verspürte eine eigenartige Leere in sich, war gefangen zwischen der eben noch empfundenen Freude und dem Leid, das ihre langjährige Vertraute getroffen hatte. Was würde aus ihnen werden, wenn der Krieg, dieses grausige Monster, bereits in den ersten Tagen herzensgute, wunderbare Männer wie Klaus verschlang?

»Ich möchte auch sterben«, flüsterte Margarete ihr zu.

»Das ist jetzt aber Unsinn!« Lina schrak auf, ergriff die Freundin an den Schultern und schaute sie eindringlich an. »So etwas will ich nicht hören! Ich ahne, wie furchtbar der Tod von Klaus für dich ist. Aber dein Leben ist nicht vorbei, Margarete. Du wirst von deiner Familie geliebt und gebraucht. Auch Demy und ich lieben und brauchen dich. Also bitte denk nicht an so etwas!«

»Du hast gut reden!«, begehrte Margarete ungewohnt laut auf. »Du hast deinen Anton ja noch bei dir. Du verstehst mich überhaupt nicht!« Margaretes sonst so sanfte Stimme war schrill, gleichzeitig rückte sie von Lina ab.

»Du weißt doch, dass ich vor einigen Jahren meine Mutter verloren habe. Mir ist durchaus bewusst, was so ein schmerzlicher Verlust für einen Menschen bedeutet.«

Lina hielt es für angemessen, das Thema nicht zu vertiefen. In ihrem inneren Chaos aus dem eben noch empfundenen Hochgefühl und dem jetzigen Schmerz, der sie wie ein Schlag in den Magen getroffen hatte, wusste sie einfach nicht das Richtige zu sagen. Sie hatte sich selten so hilflos gefühlt wie beim Anblick ihrer leidenden Freundin, und diese wusste mit ihrem hilflos hervorgebrachten Gestammel nichts anzufangen. Zu tief versank sie in ihrem Schmerz. Sie hatte Klaus geliebt. Seit die beiden vor einem Jahr den Bund der Ehe eingegangen waren, waren sie eine perfekte Einheit gewesen; voll Zuneigung, Aufmerksamkeit und Fürsorge, dabei großherzig anderen Menschen gegenüber und unerschütterlich treu.

»Margarete, es tut mir unendlich leid. Kann ich etwas für dich tun?«

»Geh einfach! Geh und genieß dein Glück mit Anton«, erwiderte Margarete kalt.

Erschrocken und tief besorgt musterte Lina ihre langjährige Freundin. Diese blickte an ihr vorbei, schien einen Fixpunkt in dem spartanisch eingerichteten Raum anzustarren und wirkte völlig in sich selbst versunken.

Lina erhob sich schwerfällig, ging aber nicht zu Anton in den Flur, sondern ins Wohnzimmer, wo sie Margaretes Mutter weinend vorfand. Frau Pfister stand vor einer Butzenglasscheibe und die Sonne malte gelbe und blaue Farben auf ihr tränenüberströmtes Gesicht.

»Mein Beileid, Frau Pfister. Margarete ist ganz aufgelöst. Kann ich irgendetwas tun?«

»Danke, Fräulein Lina. Wir stehen alle unter Schock. Klaus war ein so guter Mann. Er war einfach perfekt für unsere Margarete. Sein Verlust ist schrecklich. Haben Sie bitte ein wenig Geduld mit ihr.« Sie lehnte die Stirn gegen einen blauen Kreis auf dem farbigen Fenster und schien Lina komplett zu vergessen.

Margarete hielt sich nicht mehr im Esszimmer auf, und Lina spürte einen Anflug von Erleichterung. Es fiel ihr unsagbar schwer, die richtigen Worte für die leidende Freundin zu finden. Noch nie zuvor, zumindest seit dem frühen Tod ihrer Mutter, hatten sie und Margarete in ihrem wohlbehüteten Leben derart Schreckliches durchmachen müssen.

Unschlüssig, was sie tun sollte, schaute sie sich in dem verlassenen Raum mit seiner weißen Stuckdecke um. Lina seufzte leise. Heute war ihr Hochzeitstag. Im Grunde wollte sie jubeln und feiern und ein paar wunderbare Stunden mit Anton verbringen. Doch nun war jegliches Hochgefühl in ihr verflogen, entschwunden wie die Zugvögel im Herbst, und hatte dunkler Traurigkeit Platz gemacht.

Antons besorgter Blick löste die Tränen in ihr. Sie ließ sich in seine Arme fallen und weinte um den Verlust eines Freundes und über den Schmerz, den ihre Freundin nun aushalten musste. Die düstere Ahnung, dass es nicht bei diesem einen Todesfall innerhalb ihres Verwandten- und Bekanntenkreises bleiben würde, ließ sie erzittern.