Kapitel 17

An der Marne, Frankreich,
September 1914

Hannes warf sich hinter einen zersplitterten Baumstamm, der von der gegnerischen Feldartillerie gefällt worden war. Er drehte sich halb um und sah zu, wie seine Männer neben und hinter ihm ebenfalls Deckung suchten. Schweiß lief ihm über die Stirn in die Augen; er wischte ihn mit einer unwilligen Armbewegung beiseite. Der jüngste, inzwischen von allen nur noch »Bubi« genannt, hechtete neben ihn. Sein Atem ging stoßweise, die Augen huschten unstet hin und her. Seine wild gelockten Haare standen ihm wie elektrisiert vom Kopf ab. Die mit einem Tarnüberzug versehene Pickelhaube hatte Bubi bereits in den frühen Morgenstunden eingebüßt. Unweit von ihnen schlugen Geschosse unter ohrenbetäubenden Detonationen ein, die Bäume und Menschen zerfetzten und den Burschen jedes Mal zusammenzucken ließen.

»Herr Leutnant, was passiert hier?«, keuchte er und lud ungeschickt sein Gewehr nach.

»Die Franzmänner und Tommys haben uns mit ihrem Vormarsch überrascht«, erwiderte Hannes, ohne sich sicher zu sein, dass der Kleine ihn über den Gefechtslärm hinweg überhaupt hörte.

Mehrere schwere Explosionen, deutlich näher als zuvor, zwangen ihn, den Kopf gegen die raue Rinde zu pressen. »Und wo sind wir, Herr Leutnant?«

»Zwischen Verdun und Paris.« Mit rasendem Herzschlag schob Hannes sich ein Stück höher und versuchte sich einen Überblick zu verschaffen.

Buschwerk und Bäume, dazwischen ausgedehnte, sumpfige Wiesenabschnitte lagen vor ihnen. Sie hatten dieses Gebiet heute bereits einmal vorwärts und dann wieder rückwärts durchquert. Jetzt galt es, sich ein drittes Mal auf den Weg zu machen, doch die Feldgeschütze der Franzosen feuerten nahezu pausenlos. Lärmend, Feuer speiend und rauchend pflügten sie die Wiese um, über die Hannes und seine Männer voranstürmen sollten. Es brauchte nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, was dann mit ihnen geschehen würde.

Hannes’ Magen rebellierte. Das Gefühl, dringend austreten zu müssen, ließ ihn seit Stunden nicht los. Am liebsten hätte er seine Uniform und seine Waffe von sich geworfen – ebenso wie die ihm übertragene Verantwortung – und die Flucht ergriffen. Aber er hielt aus. Die Blöße, feige davonzurennen, wollte er sich nicht geben. Also rutschte er zurück hinter seinen Baum und drehte sich nach links.

Wo lag der nächste Zugführer? Zwar konnte er schemenhafte Bewegungen im Unterholz ausmachen, doch niemanden, der die Burschen befehligte. Wieder jaulten Geschosse über sie hinweg, schlugen ein und zerrissen alles, was ihnen nahe genug war. Hannes und seine Männer duckten sich. Holzsplitter schossen wie Pfeile umher, ihnen folgten Gras- und Erdklumpen.

»Tassa!«, brüllte Hannes.

Unteroffizier Tassa warf sich nur wenige Sekunden später neben ihn und Bubi. »Leutnant?«

»Rüber. Sieh nach, wo deren Leutnant steckt!« Hannes wies zu den Gestalten auf ihrer linken Seite, die sich wie Geister zwischen Rauch, fliegenden Partikeln und Gebüsch bewegten.

Tassa nickte grimmig, zog sich ein paar Schritte zurück und hastete zwischen den Baumstämmen hindurch. Er sprang über einen schmalen Wasserlauf und warf sich zu Boden. Aus einiger Entfernung drang das Stakkato feuernder Infanteristen herüber, doch Hannes war es unmöglich zu unterscheiden, ob er die Waffen der Gegner oder die eigenen hörte.

Die qualvollen Schreie eines Verletzten gingen ihm durch Mark und Bein. Ob es überhaupt einen Sanitäter in der Nähe gab? Die Entfernungen fielen inzwischen erschreckend groß aus. Und das nicht nur zwischen den Frontsoldaten und der in die Länge gezogenen Etappe15, sondern auch zur Obersten Heeresleitung. Die saß sicher in Luxemburg und gab von dort Befehle aus, die längst nicht mehr zur aktuellen Lage an der Front passten. Die Eisenbahnknotenpunkte waren weit entfernt, Nachschub kam im Grunde keiner durch und die Telegrafenverbindungen arbeiteten nur unzuverlässig. Vermutlich hatte deshalb die 1. Armee ihren Schwenk in Richtung Paris unternommen, ganz entgegen ihrer Befehle. Die Kommandeure mussten der Situation entsprechend handeln, nicht nach den Plänen des vor Jahren verstorbenen Grafen von Schlieffen, die ihnen eine unerreichbar weit entfernt stationierte Führung aufdiktierten!

Unteroffizier Tassa hastete zu ihm zurück und kauerte sich keuchend neben ihn. »Ihr Leutnant ist tot.«

»Wer übernimmt sein Kommando?«

»Sie wissen es nicht.«

»Verdammte Scheiße. Einer von vier Unteroffizieren wird doch den Mumm aufbringen …«

»Sie haben keinen mehr; sind alle hinüber!«

»Tassa, übernimm du das!«

»Jawohl, Herr Leutnant.«

»Bleib in Sichtkontakt!«

»Jawohl!«

Hannes verfolgte mit den Augen Tassas Weg zurück zum benachbarten Zug. Er kam nie an. In dem Augenblick, als er den Bach überquerte, riss ihn eine Kugel von den Beinen. Er kippte hintenüber. Innerhalb von Sekunden färbte sich das Wasser blutrot.

Wieder jagten jaulend Geschosse über sie hinweg und zwangen auch Hannes, das Gesicht in den Morast zu pressen. Es folgten Detonationen. Schüsse. Schreie. Als er den Kopf hob, sah er vor sich eine graue Masse auf seine Stellung zustürmten. Die Franzosen feuerten dabei wie wild.

»Eisenburg!«, brüllte er, nach hinten gewandt.

»Hier, Herr Leutnant!«

»Rüber, die brauchen einen Zugführer. Sie sollen raus und schießen, was das Zeug hält, sonst überrennen uns die Franzmänner!«

Der Lärm um ihn her verschluckte jede Antwort. Doch als er die Soldaten links von sich aus dem Gebüsch stürmen sah, wusste er, dass zumindest dieser Unteroffizier heil angekommen war und die Sache in die Hand nahm.

»Auf!«, brüllte Hannes und sah aus dem Augenwinkel, wie Bubi auf die Füße sprang.

»Feuer frei!«

Schüsse krachten, Stiefel stampften durchs Unterholz. Hüben wie drüben fielen Männer. Befehle und Schmerzensschreie mischten sich mit dem Knallen der Schusswaffen, den Detonationen schwerer Geschosse und dem Knattern eines Flugzeuges, das über das Schlachtfeld flog.

Hannes feuerte wie im Rausch, während er sich gleichzeitig eigenartig entkräftet fühlte. Er wusste, seinen Untergebenen ging es nicht anders. Sie befanden sich zahlenmäßig im Nachteil; sie hatten ganze Divisionen an die Ostfront abgeben müssen und kräftezehrende Fußmärsche hinter sich. Der Nachschub sowohl an Männern als auch an Verpflegung und militärischem Inventar war ins Stocken geraten. Dennoch mussten sie weiterkämpfen. Vorangehen.

Joffres Soldaten und ihre britischen Verbündeten hatten geplant, ihre Schwäche auszunutzen. Irgendjemand hatte sogar behauptet, die Franzosen hätten in hellroten Taxis frische Infanteristen aus Paris an die Front gekarrt16.

»Nicht mit mir!«, brüllte Hannes gegen den Lärm an. Er schoss, bis sein Ladestreifen leer war, und griff dann nach seiner Lugerpistole. Er traf mehrere Feinde, doch rückten immer neue nach. Sie schienen zwischen den Flammen und dem Rauch des Schlachtfelds aus dem Boden zu wachsen. Wenn sich die Artillerie nicht bald auf dieses Nest einschoss, bekamen sie ein ernsthaftes Problem! Der Pilot des Flugzeugs, das er vorhin gehört hatte, musste endlich seine Beobachtungen zur Lage der feindlichen Stellungen bei der Artillerie abwerfen! Oder war er einer derjenigen, der dazu erst landete? Bei diesen Aussichten fluchte Hannes lauthals.

15 Gebiet hinter der Front, in dem sich die Lazarette, Tross-, Verwaltungs- und Instandsetzungseinheiten aufhalten und bewegen.

16 Marne-Taxis: rund 700 Taxis und Droschken, deren Fahrer zweimal die Strecke von Paris bis zur Marne fuhren, brachten rund 6000 französische Soldaten an die Front. Dies ging als »Das Wunder an der Marne« in die Annalen der Kriegsgeschichte ein. Entscheidend war diese ungewöhnliche und spektakuläre Truppenverlegung für den Schlachtverlauf allerdings nicht.