Kapitel 22

Petrograd, Russland,
September 1914

Jelena, inzwischen von dem straffen Rucksackverband befreit und nahezu schmerzfrei, schob sich auf den Stuhl vor Ankis Bett. Sie nahm jeden Gegenstand von Ankis Nachttisch, um ihn genauer anzusehen, und ließ dabei ihre Beine baumeln. Anki lächelte. Sie hatte allein an den flinken Bewegungen gehört, welches der drei Mädchen sie heute besuchte. Langsam öffnete sie ihre Augen.

Aufgrund der geschlossenen Fensterläden war ihr sonst so heller, in mintgrün und weiß gehaltener Privatraum in sanftes Licht getaucht. Anki hielt ihr Zimmer gern sparsam möbliert. Sie verzichtete auf Bilder und sonstige dekorative Gegenstände, da sie die mit dunkelblauen Ranken bedruckte mintfarbene Damasttapete und die herrlichen Stuckverzierungen über den Fenstern und entlang der Decke viel zu hübsch fand, um sie zu verdecken.

»War ich nicht schön leise?« Das Kind schaute sie aus strahlenden Augen erwartungsvoll an.

»Du warst wunderbar leise!«, erwiderte Anki und unterdrückte das Verlangen, die Augen wieder zu schließen. Die Schmerzen in ihrem Kopf verschlimmerten sich unangenehm durch Licht, hastige Bewegungen und durchdringende Geräusche.

»An der Tür hat ein Bote Blumen für Sie abgegeben. Es ist ein riesengroßer Strauß!« Anki beobachtete mit halb geöffneten Augen, wie Jelena ihre Arme ausbreitete, um die Größe des Buketts anzudeuten. »Mama sagte, ich muss Sie erst fragen, ob der Strauß überhaupt zu Ihnen ins Zimmer gestellt werden darf. Er duftet herrlich, aber sehr laut.«

Schmunzelnd flüsterte Anki: »Meinst du, er duftet intensiv?«

Das Kind schüttelte so entschieden den Kopf, dass ihre beiden geflochtenen Zöpfe um ihre Schultern wirbelten. »Das Wort ist zu schwach. Sie riechen laut!«, beharrte sie, verbunden mit einem schelmischen Lächeln.

Fürstin Chabenski machte durch ein leises Klopfen an den Türrahmen auf sich aufmerksam, ehe sie den Raum betrat. »Fräulein Anki, hier ist ein Strauß weißer Sommerflieder. Leider ist keine Karte beigefügt und Jakow ließ den Boten gehen, ohne sich nach der Herkunft dieser Pracht zu erkundigen.«

Obwohl Nadezhda mit dem Flieder im Arm noch im Türrahmen stand, umfloss Anki der süße Blütenduft. Sie lächelte, was das Dienstmädchen veranlasste einzutreten und die in einer Kristallvase arrangierten Zweige abzustellen. Die Fürstin betrachtete mit gerunzelter Stirn die weiße Blütenpracht. Natürlich nahm ihre Arbeitgeberin an, der ungewöhnliche Strauß stamme von einem Mann. Ob sie sich Gedanken darüber machte, wie lange ihr Kindermädchen noch bei ihnen arbeiten würde?

»Ich gestatte dir nur ein paar Minuten, Jelena. Fräulein Anki braucht viel Ruhe. Und sitz bitte still und lasse deine Hände bei dir.«

Die Zimmertür, wie alle Türen in diesem Palast bestehend aus zwei großen verzierten Flügeln, schloss sich hinter Fürstin Chabenski. Jelena verstand dies als Einladung, um von der Stuhlkante zu rutschen und sich auf Ankis Bett zu setzen.

»Wissen Sie, wer Ihnen die Blumen geschickt hat?«

»Ja.«

»Das ist so romantisch!«

»Weißt du überhaupt, was dieses Wort bedeutet?«

»Nein!« Jelena lachte unbekümmert auf, schlug sich aber dann erschrocken beide Hände vor den Mund. Anki schloss für einen Augenblick die Augen, bis der durch die Geräusche hervorgerufene Schmerz wieder abschwoll.

Flüsternd fuhr das Mädchen fort: »Aber Nina gebraucht das Wort in letzter Zeit oft. Und dabei zieht sie immer ein ganz dummes Gesicht und kichert albern. Ich denke ja, es ist ein Wort von Raisa. Und es ist nicht für Kinder da. Mama mag es nicht, wenn Nina es sagt. Ist es denn etwas Unanständiges?«

Unter Schmerzen drehte Anki sich auf die Seite und legte eine Hand auf Jelenas Hände, die mit ihrem Bettbezug spielten. »Es ist kein anstößiges Wort, aber auch keins, mit dem Mädchen eures Alters für gewöhnlich umgehen. Als romantisch bezeichnet man Dinge oder Situationen, die schöne Gefühle in einem hervorrufen. Vielen Künstlern wird nachgesagt, sie seien Romantiker, da sie die Strenge ihrer damaligen Zeit mit ihren Bildern oder ihrer Musik durchbrechen wollten, auflockern, fröhlicher machen, verstehst du?«

»Dann will derjenige, der Ihnen den Flieder schenkte, Sie fröhlicher machen?«

»Ja, das möchte er vermutlich.«

»Aber weshalb kichert Nina dann immer, wenn sie etwas romantisch findet? Und warum will Mama das Wort nicht aus ihrem Mund hören?«

»Heute wird es anders gedeutet. Wenn du sagst, du findest den Fliederstrauß romantisch, bedeutet das, dass du annimmst, der Geber habe mich gern. Er will mir mit diesem Strauß mitteilen, dass er an mich denkt; mir seine Zuneigung gestehen. Es geht um Gefühle.«

»Wie Liebe?«

»Wie Liebe!« Anki schloss erneut die Augen, weniger aufgrund des Schmerzes, sondern weil ihr bewusst wurde, was hinter Roberts Geste stecken mochte. Ein heißer Schauer durchrieselte ihren Körper. In ihrem Inneren spürte sie das ihr mittlerweile schon vertraute Flattern, wenn sie an den Arzt dachte. Bedeutete dieser üppige Strauß weißen Sommerflieders tatsächlich das, was sie dem Kind zu erklären versuchte? Und falls ja, wie stand sie selbst zu Robert?

»Eines Tages bekomme ich auch etwas Romantisches geschenkt.«

»Bestimmt, Jelena«, erwiderte Anki unkonzentriert. Sie war damit beschäftigt, sich zu fragen, ob die Aufregung, die sie empfand, eher ängstlicher oder glücklicher Natur war.

»Ich weiß auch schon, von wem. Und dann heirate ich ihn.«

»Bist du nicht etwas zu jung, um dich mit einem so bedeutungsvollen Thema zu befassen, kleine Prinzessin?«

»Aber wenn ich doch jetzt schon weiß, dass ich Dr. Busch heiraten werde!«

Nun richtete Anki wieder ihre gesamte Konzentration auf das Kind. »Robert Busch?«

Jelena nickte gewichtig.

»Ist er nicht zu alt für dich?

»Viele Frauen heiraten ältere Männer.«

Bei diesem Argument konnte Anki Jelena schwerlich widersprechen. Sie wusste aber auch, dass diese Ehen in der Regel von den Eltern arrangiert waren und zumeist aus finanziellem oder machtpolitischem Kalkül geschlossen wurden.

Die Zimmertür sprang auf. Durch das hereinfallende Licht geblendet wandte Anki den Kopf ab. »Prinzessin Jelena Iljichna, Ihre Mutter beauftragte mich, Sie zu rufen«, sagte Marfa.

Jelena legte zuerst noch ihre Wange auf Ankis Arm und raunte: »Wenn Sie wieder gesund sind und uns nach Zarskoje Selo nachreisen, bringen Sie mir das Wort auf Deutsch und Niederländisch bei, ja?«, bettelte die Kleine.

»Versprochen, Jelena«, gab Anki sofort nach. »Und vielen Dank für deinen Besuch.«

Fast ein wenig erleichtert hörte sie, wie sich ihre Schritte auf dem Parkett entfernten und Marfa ihre Zimmertür angenehm vorsichtig schloss. Anki drehte den Kopf, um den gewaltigen Strauß weißen Sommerflieders anzusehen. Das Sonnenlicht, das durch die Holzlamellen der Fensterläden fiel, beleuchtete die Blüten nur unzureichend, doch sie verströmten einen kräftigen Duft.

Bevor sie einschlief, war sich Anki immer noch nicht sicher, ob sie die nächste Begegnung mit Robert herbeisehnte oder vielmehr fürchtete.