Kapitel 5

Berlin, Deutsches Reich,
August 1914

Lieselotte Scheffler wühlte sich energisch durch die Menschenmenge, die sich in den Straßen Berlins drängte. An diesem Tag achtete niemand auf ihren burschikosen Haarschnitt und die Tatsache, dass sie keinen Rock, sondern Hosen trug. Feldgraues Drillichzeug beherrschte das Stadtbild, wurde nur hin und wieder von ein paar der veralteten blauen Uniformen mit auffällig rotem Kragen unterbrochen. Vorbeimarschierende Truppen, begleitet von Frauen jeden Alters, die mal jubelten, mal weinten, hielten die Straßenbahnen auf. Die Busse waren längst für den Kriegsdienst requiriert worden.

Lieselotte schoss wütende Blicke auf die begeistert winkenden Menschen ab und verzog spöttisch den Mund, als sie sah, dass die Soldaten sich Blumensträuße an die Spitzen ihrer Pickelhauben und an ihre Bajonette banden.

War ihr Vater ebenso töricht gewesen, als er sich gleich nach der Mobilmachung freiwillig gemeldet hatte? Natürlich hatte er die sich ihm bietende Chance ergreifen müssen, um der quälenden, bereits über Jahre anhaltenden Sinnlosigkeit seines Lebens zu entkommen. Zuletzt war er in einem Steinkohlebergwerk beschäftigt gewesen, hatte dabei aber die bedrückende Enge und Dunkelheit in den Stollen kaum ertragen. Er, der Landwirt, der vor ihrem Umzug in die Stadt tagein, tagaus unter freiem Himmel Felder gepflügt und bebaut und weite Wiesenflächen gemäht hatte, hatte letztlich nicht mehr einfahren können, weshalb er auch diese Arbeit verloren hatte.

Die Frauenrechtlerin verdrängte alle zwiespältigen Gedanken an ihren Vater und die Mutter, die sich weiterhin in der Brauerei des jungen Joseph Meindorff für einen Hungerlohn den Rücken krumm schuftete. Sie kam gerade von einem Treffen mit ihren beiden Mentorinnen, Minna Cauer und Hedwig Dohm. Hedwig wetterte noch immer aufgebracht gegen die Kriegsbegeisterung und die Tatsache an, dass sich sogar Karl Liebknecht – ebenso wie dreizehn andere SPD-Politiker – zwar gegen eine Bewilligung der Kriegskredite ausgesprochen, jedoch aus Fraktionsdisziplin im Reichstag dafür gestimmt hatten. Sie alle hatten sich von der patriotischen Propaganda anstecken lassen. Letztlich hatte der gesamte Reichstag einstimmig die horrenden Kredite abgesegnet, die den Krieg finanzieren sollten.

Zu allem Überfluss forderte Minna derzeit einen Disput mit der schlagfertigen Hedwig heraus, da Erstere erstaunlicherweise begeistert auf die kriegstreibenden Parolen reagierte und sich für den Krieg aussprach.

»Die Welt spielt verrückt!«, murmelte Lieselotte halblaut vor sich hin.

»Lieselotte!« Die Gerufene drehte sich einmal um ihre eigene Achse, sah den Mann aber nicht, der sie so vertraulich ansprach. Erst als ein Uniformierter mit der üblichen Pappschachtel für die Zivilkleidung unter dem Arm direkt vor ihr stand, musste sie sich der unangenehmen Wirklichkeit stellen, dass nicht alle ihre Freunde in Zivil bleiben wollten – oder konnten.

»Anton?« Entsetzt musterte sie den jungen Mann, der bis vor einigen Jahren als Schlafbursche in ihrer heruntergekommenen Hinterhauswohnung ein- und ausgegangen war. Seit Demys Freundin Lina Barna dafür gesorgt hatte, dass ihr Vater, ein bedeutender Physik-Professor, Anton unter seine Fittiche nahm, hatte Lieselotte ihn kaum noch gesehen, da sie die Beziehungen zu Demys Freundinnen in den bürgerlich-akademischen Kreisen abgebrochen hatte. Deren Variante der Frauenrechtsbewegung empfand sie als zu schwammig und brav.

»Bist du eingezogen worden? Dein Pflichtjahr nach dem Abitur liegt doch schon länger zurück. Und dein Wissen, deine Forschung …?«

Skeptisch musterte sie den feingliedrigen, gut aussehenden jungen Mann, und wie bei jeder ihrer Begegnungen klopfte ihr Herz wild. Ob sie jemals darüber hinwegkommen würde, dass er dem Klassenkampf den Rücken gekehrt hatte und jetzt einer von den bourgeoisen Akademikern war? Zwar hatte er sich ihr gegenüber damit zu rechtfertigen versucht, dass er lediglich eine sich ihm bietende Chance nutzte und gerade die Männer, die Herausragendes für die Rechte der Bevölkerung leisteten, oft überaus gebildet seien, doch sie hielt diese Argumentation nicht für die ganze Wahrheit. Viel zu sehr schien er in seinem Studium und seinen Arbeiten aufzugehen und sich im Hause Barna wohlzufühlen.

Lieselotte kämpfte darum, ihren Pulsschlag zur Ruhe zu zwingen. Weshalb nur liebte sie diesen Mann noch immer? Und warum fand sie ihn in dieser schrecklichen Uniform so atemberaubend anziehend? Sie war doch gegen alles, was mit dieser kriegerischen Auseinandersetzung zu tun hatte!

»Professor Barna hielt es für einen ausgezeichneten Gedanken, mich zu einer bestimmten Einheit zu melden …«

»Dieser Mann schickt dich in den Krieg?«, fiel sie ihm entsetzt ins Wort. »Hat er dich über all die Jahre protegiert, nur damit du jetzt als Kanonenfutter verheizt wirst?« Ihr Magen zog sich bei dieser Vorstellung schmerzlich zusammen, aber Anton lachte und tätschelte ihr tröstend den Oberarm.

»Lass mich doch ausreden. Es gibt innerhalb der Lehr- und Versuchsanstalt Döberitz eine militärische Luftbildstelle unter Oberleutnant Carl Fink. Dort bauen sie Fotoapparate, die bei Beobachtungs- und Aufklärungsflügen über feindlichem Gebiet ihren Einsatz finden. Die Apparaturen sind sperrig und schwer und müssen ständig auf die immer höheren Geschwindigkeiten und Flughöhen der Flugzeuge angepasst werden. Die Entwicklungsverfahren der Fotografien könnte man noch verfeinern und es fehlt an einer sinnvollen Kommunikation zwischen den Fliegern und den Bodentruppen. Selbst beim Flugzeugbau oder aber bei der Schutzbekleidung für die Piloten könnte mein Einsatz in Döberitz gefragt sein.«

Lieselotte verzog verächtlich den Mund. »Jede Verbesserung der Technologien wird den Krieg nur noch mehr anheizen und größere Verluste an Menschenleben fordern.«

»Aber wir können so auch unsere deutschen Soldaten schützen! Und unser Land vor dem Einfall der Franzosen, Engländer oder Russen bewahren. So viel Patriotismus solltest sogar du aufbringen!«

Erschrocken über seine heftige Reaktion zog Lieselotte die Schultern hoch. Ihr ehemaliger Schlafbursche hatte sich verändert. Während seiner Zeit im Scheunenviertel hatte er ihrem aufbrausenden Vater nie die Stirn geboten. Nicht selten hatte ihr Vater Anton tagsüber aus dem Bett gescheucht, da er sich hinlegen wollte, obwohl Anton für die paar Stunden Schlaf in der Wohnung der Schefflers bezahlt hatte. Ganz offensichtlich war Anton erwachsen geworden, und Lieselotte fühlte sich nahezu magnetisch zu ihm hingezogen. Ob sie es wagen sollte, ihm ihre Zuneigung zu zeigen? Wie er wohl reagieren würde, wenn sie ihn jetzt umarmte? Schließlich sah sie um sich herum, entgegen früherer Konventionen, Hunderte von Paaren, die sich zum Abschied in den Armen lagen. Lieselotte war eine emanzipierte Frau und sah es nicht ein, einzig dem Mann die Initiative zu überlassen. Entschlossen trat sie auf Anton zu, griff mit beiden Händen in den Stoff seines Uniformrocks und zog ihn ein Stück näher zu sich.

»Du bist gut ausgebildet und möchtest jetzt praktische Arbeit verrichten, das kann ich gut verstehen. Immerhin leiste auch ich meinen Anteil an der Bewegung zur Gleichstellung der Frau. Womöglich sind wir uns dahingehend ähnlich!«, sagte sie. »Jedenfalls bin ich froh, dich in der Nähe zu wissen. Vielleicht treffen wir uns jetzt wieder häufiger? Was denkst du?« Lieselotte wollte gern noch mehr auf Tuchfühlung gehen, doch der Pappkarton, in dem sich Antons Zivilkleidung befand, bildete ein unüberwindbares Hindernis zwischen ihnen.

»Wir werden sehen«, erwiderte er ausweichend. »Jetzt muss ich zu den Barnas.« Er räusperte sich, trat zurück, sodass sie ihn loslassen musste, und fügte fast nebenbei hinzu: »Lina und ich lassen uns heute noch trauen.«

Ein kalter Schmerz, als habe ein Eiszapfen sie durchbohrt, breitete sich in Lieselottes Brust aus. Sie schaute in dem Versuch zu Boden, nicht zu zeigen, wie tief sie diese Nachricht traf.

Bereits am 2. August hatten in Berlin über zweitausend Nottrauungen stattgefunden – und das an einem Sonntag! Nun fügte sich Anton in die Reihe derer ein, die noch schnell vor den Traualtar traten. Aber nicht mit ihr als Braut! Sie hob zum Abschied die Hand; zu mehr sah sie sich im Augenblick nicht imstande. Dann drehte sie sich um und zwängte sich zwischen Soldaten, Passanten, Polizisten und den hier vor dem Bahnhof gestapelten Massen an Gepäckstücken hindurch. Der Platz war erdrückend voll, obwohl die ersten Truppen unterdessen, den Plänen des verstorbenen Generalfeldmarschalls Schlieffen und seines Nachfolgers Moltke folgend, in Belgien einmarschiert waren.

Blindlings hastete sie voran, die Stimmen der Übermütigen und der Traurigen im Ohr. Sie passierte geschlossene Restaurants, da niemand die Muße fand, sich bequem und gesellig niederzulassen, und die von Kindern gern frequentierten Spielplätze, die in diesen Tagen des Aufbruchs verwaist dalagen.

Lina Barna heiratete Anton! Lieselotte ballte ihre Hände zu Fäusten, um ihre Wut nicht laut hinauszuschreien, was bei dem um sie herrschenden Trubel aber kaum jemandem aufgefallen wäre. Doch schließlich hatte sie sich immer im Griff! Selbst dann, wenn die Frauen bei ihren Versammlungen manchmal so gefühlsbetont und kopflos agierten, dass ihr die Galle hochstieg, blieb sie äußerlich ruhig, und daran durfte auch diese schmerzliche Enttäuschung nichts ändern.

Ruckartig blieb sie mitten auf der Straße stehen. Ein Automobil hupte, und sie drohte dem vornehm gekleideten Fahrer mit der Faust, der sie daraufhin aus dem Auto heraus als »teuflisches Mannweib« bezichtigte.

Nie hätte sie sich auf diese dumme, oberflächliche Freundschaft zu Demys Lesezirkeldamen einlassen dürfen! Sie gehörten alle der wohlhabenden Industriellenschicht an und hatten immer auf sie herabgesehen. Und diese Lina besaß sogar den Nerv, ihr Anton wegzunehmen! Womöglich war es ihr gar nicht darum gegangen, den heimatlosen, verarmten Fabrikarbeiter mit seiner Vorliebe für Physik zu fördern, sondern sie hatte schon damals ein Auge auf ihn geworfen gehabt! So agierten sie doch, die Adeligen und Industriellen: Sie bekamen nie genug! Immerzu spielten sie ihren Einfluss und ihre Macht zu ihrem eigenen Vorteil aus!

Selbst Demy hatte sie mittlerweile im Stich gelassen. Zugegeben, die Niederländerin unterrichtete nach wie vor Lieselottes Zwillingsbrüder, und dank ihrer Hilfe hatten es die beiden auf eine Realschule geschafft. Aber hätte Demy einen großzügigeren Geldgeber aufgetrieben, wäre es den Jungs mit ihrem ausgezeichneten Notendurchschnitt ein Leichtes gewesen, das Gymnasium zu besuchen. Hier hatte Demy versagt! Womöglich wollte sie nicht, dass die Lümmel aus dem Scheunenviertel mit der Oberschicht Berlins eine Schulbank drückten? Immerhin hatte sie lange Zeit versucht, Lieselotte gegenüber zu verheimlichen, dass sie nicht nur im Dienste von Tilla Meindorff stand, sondern deren Schwester war. Demy gehörte ebenfalls zu denen, die ihren Einfluss missbrauchten und …

Erneut hupte ein ungeduldiger Autofahrer, was Lieselotte veranlasste, endlich den schmalen Streifen freizugeben, der neben still stehenden Straßenbahnen und vorbeiexerzierenden Rekruten noch für die Automobile übrig blieb. Hatte sie denn nur Pech im Leben, immerzu das Nachsehen? Ihre Enttäuschung und der Schmerz, den sie empfand, verwandelten sich in düstere Bitterkeit. Sie gönnte Lina ihr Glück nicht. Fast wünschte sie, Anton müsste an die Front abrücken, weit weg von seinem oberflächlichen, auf Rosen gebetteten Liebchen.