Kapitel 34

Petrograd, Russland,
April 1915

»Alex! Alex!« Anki stürmte in die Unterkünfte der niederen Angestellten und rief immer wieder nach dem Kutscher. Während im vorderen Teil des Hauses große Fenster für lichtdurchflutete Räume sorgten, wirkten der Flur und die von ihm abgehenden Zimmer in diesem Teil dunkel und bedrückend eng. Wieder einmal wünschte sie sich verzweifelt, die Familie Chabenski hätte sich einen Telefonanschluss zugelegt.

Endlich trat der Kutscher aus einem Aufenthaltsraum am Ende des Flurs. Als er erkannte, wer ihn rief, eilte er Anki entgegen. »Anki, ist etwas passiert?«, rief er und ergriff die heftig atmende junge Frau an beiden Oberarmen.

»Du musst einen Arzt für die Fürstin holen, schnell!«

»Das Kind?«

Anki zitterte so sehr, dass sie nur ein Nicken zustande brachte. Seit Stunden lag Fürstin Chabenski in den Wehen, und obwohl dies ihr viertes Kind war, war die herbeigerufene Hebamme nicht zufrieden mit dem Fortgang der Geburt. Inzwischen war die Schwiegermutter der Fürstin eingetroffen und übernahm mit nahezu militärischem Tonfall das Regime. Sie bestand darauf, dass Dr. Botkin gerufen wurde. Anki hatte ihr vergeblich zu erklären versucht, dass dieser sicher in Zsarskoje Selo weilte. Schließlich war das Kindermädchen mit den Worten, sie solle gefälligst einen guten Arzt herbeischaffen, davongescheucht worden.

»Ich mache mich auf den Weg«, versicherte Alex ihr, drehte sie an den Schultern um und gab ihr einen leichten Schubs. »Kümmer du dich um die Prinzessinnen, Prinzessin.«

Anki taumelte durch die unendlich erscheinenden Flure zurück in den Haupttrakt des Palais. Wieder flatterten ihre Gedanken wie aufgeschreckte Vögel zu dem Arzt, den sie nun noch viel dringlicher herbeiwünschte, als sie dies ohnehin jeden Tag und jede Nacht tat. Schmerz und Verlust wühlten ihr Innerstes auf. Die Selbstvorwürfe, weil sie die Familie Busch im letzten Jahr nicht ins deutsche Kaiserreich begleitet hatte, stritten sich erneut mit ihrer Vernunft, die ihr sagte, dass es richtig gewesen war, dass sie bei den Chabenski-Kindern und der leidenden Ljudmila geblieben war. Doch der Preis, den sie für dieses rationale Denken bezahlte, war hoch. Seit Monaten war sie von Robert getrennt. Sie wusste nicht, ob die Buschs die Heimat erreicht hatten, wo sie lebten und ob Robert seine Prüfungen bestanden hatte. Eine leise, aber bohrende Stimme in ihrem Kopf flüsterte ihr immerfort zu, dass ein junger Arzt ohne Praxis vermutlich unter den Ersten war, die man an die Front schickte. Anki versuchte die Furcht einflößenden Einflüsterungen zu ignorieren, war dabei aber nicht sehr erfolgreich.

Anki hatte Nina, Jelena und Katja in den Speisesaal geschickt, wo das Personal sie verwöhnte. Sie überbrückten die Wartezeit, indem sie die vom Hauslehrer aufgegebenen Schulaufgaben überwachte, mit den Kindern spielte und mit ihnen Klavier übte. Die Mädchen waren guter Laune gewesen, freuten sie sich doch auf ihr Geschwisterchen, bis die aufgelöste Großmutter in den Saal geplatzt war und mit bebender Stimme jemanden suchte, der einen Arzt informierte.

Wieder im Haupttrakt angelangt griff Anki nach der hoch angebrachten Türklinke und öffnete die Tür zum Speiseraum. Zu ihrer Überraschung schallte ihr Raisas aufgeregte Stimme entgegen. »Die Kinderköpfe können da unten alles kaputtreißen und stecken bleiben und bringen deshalb viele Frauen um. Bei meiner Mama war das so, als sie ein zweites Kind gebären sollte. Ich kann euch sagen: Überall war Blut. Das ganze Bett war …«

»Genug!«, fuhr Anki aufgebracht dazwischen. Ein weiteres Mal ärgerte sie sich über die Unbedachtheit der jungen Dame.

»Die schon wieder!«, lautete prompt Raisas frecher Kommentar, wobei sie Anki demonstrativ den Rücken zudrehte.

Katja hingegen stürmte auf ihr Kindermädchen zu. Große Tränen kullerten aus ihren blauen Augen über die runden Wangen. In ihrer Furcht hatte sie eines ihrer weißen Haarbänder aufgezogen. Der geflochtene Zopf löste sich auf und versteckte die Hälfte ihres Gesichts hinter einer Flut blonder Locken, als sie sich Schutz suchend in Ankis Arme warf. »Was ist mit Mama? Was ist mit Mama?«, schluchzte sie.

Das Knarren eines Dielenbretts ließ Anki aufsehen. Jelena trat zu ihnen. Auch ihre dunklen Kirschaugen waren vor Sorge und Schreck aufgerissen, doch an der gefurchten Kinderstirn erkannte Anki auch den in ihr glimmenden Unmut. Jelena gesellte sich zu Anki und streichelte ihrer Schwester tröstend über den Rücken.

»Raisa übertreibt nur, wie immer!«, flüsterte sie Katja zu, die sich noch fester in Ankis Arme schmiegte. An das Kindermädchen gewandt sagte Jelena auf Deutsch: »Ich wollte sie unterbrechen, aber sie ignoriert mich. Wie immer!«

Anki legte ihre Hand an Jelenas weiche Wange, um auch ihr Trost zu spenden. Für einen Augenblick spielte sie mit dem Gedanken, Raisa fortzuschicken, doch dazu sah sie sich angesichts ihrer Stellung nicht in der Lage. Allein, dass sie ihr vorhin so schroff über den Mund gefahren war, konnte ihr Ärger einbringen, zumal Raisas Vater ohnehin nicht gut auf sie zu sprechen war.

Allmählich beruhigte sich Katja, sodass sich Anki erhob und die beiden Kinder zurück an den Tisch führte. »Es ist nicht sehr hilfreich, Hochwohlgeboren, den Prinzessinnen Angst um ihre Mutter zu machen«, sagte sie zu Raisa.

Raisa lachte auf und bedachte sie dabei mit einem vernichtend hochmütigen Blick. »Es macht aber Spaß! Diese Kleinkinder sind wirklich leicht zu ängstigen. Offenbar lebt man im Hause Chabenski hinter dem Mond, was Aufklärung und das reale Leben anbelangt!«

Schnell versteckte Anki ihre geballten Fäuste in den Falten ihres Rocks. »Ich bat Sie bereits einmal darum, Baroness Raisa Wladimirowna, Ihr unschätzbares Wissen lieber mit Gleichaltrigen zu teilen und in Anwesenheit der Chabenski-Töchter für sich zu behalten.«

Raisa sprang auf und baute sich vor Anki auf. Die Achtzehnjährige war inzwischen ebenso groß wie die Njanja. »Du hast dir doch schon Ärger wegen deines ungebührlichen Verhaltens mir gegenüber mit meinem Vater eingehandelt. Legst du es auf weitere Rügen an?«

Anki verschluckte die Entgegnung, dass sie mit einer Rüge leben könnte. Allerdings war das Auftreten von Raisas Vater bedrohlich. Oberst Chabenski hatte sie erst im vergangenen Jahr vor dem Grafen beschützen müssen.

»Lass Anki van Campen in Ruhe!«, herrschte Jelena die Freundin ihrer Schwester an und stemmte aufgebracht die Hände in ihre Hüften.

»Was hast du denn zu sagen, du kleiner Giftzwerg? Dich hat diese Njanja mit ihrem dummen Gerede über Liebe und Gleichheit doch völlig eingewickelt. Womöglich ist sie eine von diesen roten Revolutionären, die uns Aristokraten die Köpfe abhacken wollen, wie sie es im achtzehnten Jahrhundert in Frankreich getan haben!«

Katja brach erneut in Tränen aus, während Anki Jelena am Arm ergriff und zurück auf ihren Stuhl drückte. In diesem Moment erinnerte das russische Mädchen sie auffallend an ihre jüngere Halbschwester Demy: Ein Herz, das keine Ungerechtigkeit ertrug und deshalb das Kind zu einer Kämpferin formte.

Anki warf Nina einen fragenden Blick zu. Wie lange wollte die Älteste der Schwestern noch tatenlos mit anhören, wie Raisa ihre Geschwister drangsalierte? Nina wich ihrem Blick aus, schlug ihrer Freundin aber vor, dass sie auf ihr Zimmer gehen könnten. »Immerhin macht uns beiden das Stöhnen von Mama nichts aus. Wir brauchen davor nicht beschützt zu werden«, gab sie sich erwachsen.

Anki ließ sie ziehen, weniger beunruhigt, dass die 13-Jährige nun die Schmerzen der Mutter mit anhören musste – sie war tatsächlich alt genug, um damit zurechtzukommen –, als darüber, welche ketzerischen Gedanken Raisa nun wieder in das Herz der sie so bewundernden Nina säen würde.

»Wird Mama sterben, Fräulein Anki?«, fragte Katja leise und wischte sich mit den Fäusten die Tränen aus dem Gesicht, obwohl Marfa ihr ein besticktes, mit Spitze umrandetes Tuch reichte. Dieses nutzte das Mädchen nur dazu, es nervös zu zerknüllen.

Nach einigem Zögern und einem fragenden Blick zur Zofe, die zuerst mit den Schultern zuckte, anschließend aber nickte, versuchte Anki den Mädchen zu erklären, was bei einer Geburt geschah und welche Risiken sie barg. Daraufhin forderte sie Jelena und Katja auf, für ihre Mutter und das Geschwisterchen um Gottes Beistand und Schutz zu beten. Die beiden taten das mit zuerst stockenden Worten und beruhigten sich dabei zusehends.

Kurze Zeit später traf der Arzt ein und hastete durch das Foyer und die Stufen zur Galerie hinauf, um gleich darauf das Schlafgemach der Fürstin zu betreten. Einen Moment lang gellte ein lang gezogener Schrei durch das Haus, bis das Schließen der schweren Tür und die erneut angestimmten Lieder im Speisesaal ihn überdeckten.

***

Die Stunden vergingen zum einen quälend langsam, da Anki den Augenblick der Geburt herbeisehnte, zugleich aber auch viel zu schnell, denn zu dieser vorgerückten Stunde sollten Katja und Jelena längst im Bett liegen. Aber die Prinzessinnen waren viel zu aufgeregt, zudem lag Katjas Schlafzimmer genau neben dem der Fürstin. Mochte das Haus noch so stabil gebaut und die Türen massiv sein, drang die Unruhe im Zimmer der Gebärenden unweigerlich in das Kinderzimmer nebenan. Schließlich besprach sich Anki mit Marfa und dem nervös auf und ab gehenden Jakow. Die drei beschlossen, dass sie die Mädchen nicht in eines der Gästezimmer verlegen wollten, sondern dass sie vor dem sanft flackernden Kaminfeuer im Speisesaal schlafen durften.

Jakow und Nadezhda schafften das Bettzeug und die Matratzen ins Erdgeschoss, und wenig später kuschelten sich die aufgeregten Mädchen vor dem gewaltigen Steinkamin in ihre Decken. Anki bat die Zofe, den beiden vorzulesen. Sie begab sich mit schweren Schritten auf den Weg in den oberen Stock, um nach Nina und Raisa zu sehen. Wie gewohnt klopfte sie an und öffnete dann die Tür, was ihr eine harsche Reaktion der Baroness einbrachte: »Kannst du nicht warten, bis man dich hereinbittet? Ihr Deutschen habt wirklich gar keine Manieren!«

Anki ignorierte die junge Frau, die auf dem Samtsofa bei der Frisierkommode saß. Um sie herum lagen unzählige Kleidungsstücke aus Ninas kostbarer Garderobe auf dem Parkettboden verstreut.

»Nina, deine Schwestern dürfen heute im Speisesaal vor dem Kamin schlafen. Falls du oder dein Besuch später Hunger verspüren, bitte ich darum, leise zu sein.«

»Meine Güte, was sind das für verhätschelte Kleinkinder. Und welch blödsinnige Idee, zumal weit unter der Würde einer Prinzessin. Dass du hier überhaupt noch beschäftigt bist, grenzt in meinen Augen an ein Wunder.«

Wieder ignorierte Anki die spottende junge Frau. »Ich ziehe mich zurück, Nina, bin aber jederzeit erreichbar. Dich bitte ich, in ein, zwei Stunden ebenfalls zu Bett zu gehen.« Dieses Mal würdigte sie Raisa eines Seitenblicks, in der Hoffnung, dass die Baroness den Wink verstand, sich endlich zu verabschieden und nach Hause fahren zu lassen, zumal ihr Kutscher seit Stunden draußen bei den Pferden verharrte.

»Gute Nacht, Fräulein Anki«, flüsterte Nina, als wage sie in der Anwesenheit ihrer Freundin nicht, ihr auch nur eine Spur von Aufmerksamkeit zuzugestehen. Das Kindermädchen registrierte ihr Abhängigkeitsverhalten mit Trauer. Hatte sie an dem Kind so sehr versagt? Sie wollte Nina und ihre Schwestern doch zu eigenständigen, selbstbewussten Menschen erziehen, sie vorbereiten auf das Leben in diesem neuen Jahrhundert, das völlig andere Herausforderungen an die Frauen bereithalten würde als das vergangene.

»Ach, diesen ganzen Plunder hier kannst du gleich mitnehmen und verbrennen lassen.« Mit dem Fuß schob Raisa die Röcke, Blusen, exquisiten Festkleider, dazu Strümpfe, Stiefel und auch Unterkleidung und Haarschleifen in Richtung des Kindermädchens.

»Verbrennen lassen?« Entsetzt sah Anki das Mädchen an.

»Nina braucht endlich angemessene Kleidung. Abendgarderobe aus grauem Satin mit Spitze oder Kaninchenfell nach französischer Mode, Faltenröcke und entsprechende Blusen und natürlich Büstenhalter.«

»Wir haben Krieg, Hochwohlgeboren. Russland bekommt ja kaum seine Soldaten ordentlich eingekleidet, unmöglich kann …«

Raisa fuhr ihr ungehalten über den Mund: »Wie sprichst du über Russland und den Zaren? Soll ich dir seine Spezialpolizei, die Ohrana27 auf den Hals hetzen?«

Anki unterdrückte mühsam ihren Zorn. Zwar besaßen weder Raisa noch ihr Vater Einfluss auf den Zaren, dessen war sie sich sicher, doch in der angespannten politischen Situation sollte sie – die hier als Deutsche galt – es nicht auf eine Konfrontation ankommen lassen. Also raffte sie einen Teil der Kleidungsstücke zusammen. Nähte man sie um, würden die Kleider bald Jelena passen. Ob Nina in diesen Krisenzeiten tatsächlich eine neue Garderobe bekam, musste ihre Mutter entscheiden. Die Fürstin war nicht unbedingt für Verschwendung zu haben, zumal viele der Kleider, die Anki nun über die Galerie trug, noch kein halbes Jahr alt waren.

Das verhaltene Geschrei eines Neugeborenen ließ dem Kindermädchen die Stoffe beinahe entgleiten. Das Kind war angekommen! Endlich hatten die Schmerzen der Fürstin ein Ende und würden bei allen schnell in Vergessenheit geraten, hielten sie den kleinen Prinzen oder die kleine Prinzessin erst in ihren Armen. Ein Strahlen breitete sich auf Ankis Gesicht aus. Unbändige Freude verdrängte die Erinnerungen an das unangenehme Gespräch mit Raisa. Tränen der Erleichterung kullerten ihr über die Wangen und tropften auf ihre apricotfarbene Bluse, wo sie dunkle Flecken hinterließen.

Im gedämpften Licht, das vom Foyer heraufdrang, eilte Anki zu der Tür, hinter der das Schreien des Neugeborenen zunehmend kräftiger wurde.

Plötzlich senkte sich die Klinke und die Hebamme trat mit dem greinenden Kind im Arm auf die Galerie. »Kann ich Ihnen das Mädchen vorerst überlassen, Njanja? Der Arzt braucht meine Unterstützung.«

»Was …?« Anki verschluckte ihre Frage, legte die Kleidungsstücke eilig auf eine Kommode und nahm das in ein weiches Baumwolltuch gewickelte Baby entgegen.

»Der Doktor musste das Kind mit einem Pfannenstiel-Kaiserschnitt holen. Fürstin Chabenski geht es nicht gut.« Noch ehe Anki Fragen stellen konnte, verschwand die Frau wieder im Zimmer der Fürstin.

Anki stieg die Stufen hinunter und warf, als sie unter die erste elektrische Lampe trat, einen Blick auf das Bündel in ihrem Arm. Dunkelblaue Babyaugen schauten über erstaunlich runden Wangen in ihre Richtung. Das Neugeborene war gewaschen worden, dennoch klebte hier und da etwas Käseschmiere in dem hellen Flaum auf dem perfekt geformten Köpfchen.

Liebevoll wiegte Anki das Kind in ihren Armen und konnte ein glückliches Lächeln nicht unterdrücken, selbst wenn die Angst um seine Mutter sie quälte. Dieses kleine Wesen war ein wunderbares Geschenk, auch wenn es nicht der erwünschte männliche Erbe war.

Sorgsam setzte sie einen Schritt vor den anderen, um ja nirgends anzustoßen oder gar zu stürzen, denn der Kleinen durfte kein Leid geschehen. Als sie die Tür zum Speisesaal erreichte, eilte ihr Jakow entgegen. Er griff nach der Türklinke, um ihr behilflich zu sein, zögerte dann jedoch und warf einen neugierigen Blick auf das Baby.

Anki trieb es erneut die Tränen in die Augen, als sie beobachtete, wie sich das Gesicht des alten, schweigsamen und zurückgezogen lebenden Dieners zu einem Lächeln verzog, wobei seine Zahnlücken offenbar wurden. Dennoch war es unbeschreiblich schön anzusehen, welche erstaunliche Wirkung dieses neue Leben auf die Menschen hatte. Es rief bei ihnen so viel Liebe und ihren Beschützerinstinkt hervor.

»Eine kleine Prinzessin, Jakow«, flüsterte Anki ehrfurchtsvoll.

Jakow richtete sich auf und öffnete die Tür für Anki. Sie schenkte ihm ein Lächeln, bevor sie in den dunklen Raum schlüpfte, in dem das knisternde Feuer einen unruhigen Lichtschein verbreitete.

Wie sie vermutetet hatte, erhob sich nicht nur Marfa von ihrem Notlager, sondern auch die Mädchen. Anki ging zu ihnen, setzte sich zwischen Jelena und Katja auf die Matratze und zog das Tuch vom Kopf ihrer neugeborenen Schwester.

Während Katja einen begeisterten Jauchzer ausstieß, blieb Jelena ungewöhnlich still. Doch ihr Blick schien jeden Zollbreit des hübschen Gesichts und der winzigen Hände abzutasten. Schließlich rutschte sie näher und schlug die Decke beiseite, damit sie die Füße mit ihren kleinen Zehen in ihre Hände nehmen konnte.

»Sie ist ein Wunder!«, flüsterte Jelena und überwand ihre ehrfürchtige Scheu, um Anki unzählige Fragen über das Neugeborene und nach dem Befinden ihrer Mutter zu stellen.

Das Baby vermittelte den Eindruck, als lausche es hingebungsvoll den Stimmen um es her und schlief irgendwann zufrieden ein. Schließlich kuschelten sich Jelena und Katja an ihr Kindermädchen und ihre Worte kamen immer seltener und gedehnter, bis auch sie schliefen.

Anki lächelte zu Marfa hinüber, die bittend und einladend zugleich ihre Arme ausstreckte. Nun, da die Prinzessinnen ihre Schwester ausgiebig bewundert hatten, wollte die Zofe ihren neuen Schützling begrüßen, obwohl Anki das kleine Wesen nur ungern abgab. Doch kaum hatte Marfa ihr das Kind abgenommen, klopfte es an der Tür und Jakow streckte den Kopf herein.

»Fräulein Anki, bitte!«

Anki schälte sich zwischen den Mädchen hervor und eilte zur Tür. Die Stimme des Dieners klang ungewohnt aufgeregt. Ob es mit Fürstin Chabenski nicht zum Besten stand? Hatte sie die Notoperation nicht überlebt? Angst jagte ihr in Wellen durch den Körper und beschleunigte ihren Herzschlag. Eilig drückte Anki sich durch den Türspalt ins Foyer und zog die Tür leise hinter sich ins Schloss.

***

Noch bevor Jakow etwas sagte, stürmte Ljudmila auf sie zu und warf sich so heftig in ihre Arme, dass Anki nach hinten taumelte und mit einem vernehmlichen Aufschlag gegen die Tür prallte. Dabei bohrte sich die verschnörkelte Türklinke unangenehm in ihre Seite. Sie unterdrückte einen Schmerzensschrei, umfing Ljudmila mit ihren Armen und hielt sie fest, während diese schnell atmend und am ganzen Leib zitternd ihren Tränen freien Lauf ließ.

Jakow brachte ihnen zwei der im Foyer stehenden Holzsessel. Rücksichtsvoll kehrte er dann in seine Kammer zurück, sodass sie allein in der Vorhalle waren, die von einer einzelnen Stehlampe unterhalb der Treppe dezent beleuchtet wurde.

»Ludatschka, was ist denn nur passiert?«

»Sie haben Jevgenia Ivanowna gefunden!« Ljudmilas Stimme klang, als dringe sie aus weiter Ferne wie durch eine dichte Nebelwand hindurch.

Anki blinzelte erschrocken. Was bedeutete das? War Jevgenia am Leben? Oder hatte man ihren Leichnam gefunden? Furchtsam blickte sie ihre Freundin an und fragte sich, ob die Mauer, die zwischen Ljudmila und ihrer Erinnerung gestanden hatte, durch das Auffinden Jevgenias eingerissen worden war. Kannte die Komtess nun die Wahrheit? War diese erleichternd oder eine zusätzliche Bürde für sie?

»Sie haben sie aus einem Kanal gezogen«, flüsterte Ljudmila und brach erneut in hysterisches Schluchzen aus.

Anki verschlug es für einen Moment den Atem. Seit jener Nacht, in der Rasputin Ljudmila vergewaltigt haben musste, wurde die Herzogin vermisst. Ljudmila hatte in ihren lückenhaften Erinnerungen von Blut und einer Brücke gesprochen. Dass ihre Freundin nicht fantasierte, wusste Anki, immerhin hatte sie Ljudmilas blutverschmiertes Kleid in Rasputins Schlafzimmer gefunden. Doch jetzt bestätigten sich auch ihre diffusen Erinnerungen an eine Brücke. »Ein paar betrunkene Soldaten trugen irgendeine blödsinnige Wette entlang eines Kanals aus und dabei …« Die Komtess vergrub ihr Gesicht in ihren bebenden Händen.

Anki empfand kein Bedauern darüber, dass ihr Details versagt blieben. Sie wollte nicht wissen, woran man Jevgenia nach nahezu acht Monaten im Wasser identifiziert oder wie die Männer sie vorgefunden hatten.

»Für die Eltern wird es schrecklich schwer sein, nun jeder Hoffnung beraubt zu werden. Aber zumindest haben sie jetzt Gewissheit über das Schicksal ihrer Tochter, können sie beerdigen und betrauern«, überlegte Anki halblaut.

»Und ich quäle mich mit noch mehr Fragen und Zweifeln. Mein Kopf will einfach keine Erinnerungen preisgeben«, jammerte Ljudmila.

Anki beugte sich nach vorn und nahm die zitternden, kalten Hände der Freundin in die ihren.

»Die Staatssicherheit war bei mir, bis vorhin!«, platzte es aus Ljudmila heraus. »Sie stellten so viele Fragen, auf die ich doch keine Antworten weiß. Sie beschimpften mich, ich wolle Rasputin schützen und täusche deshalb eine Amnesie vor.«

Anki gelang es nur mühsam, ein paar vorwurfsvolle Worte in Richtung ihrer Freundin zu unterdrücken. War Ljudmila etwa zu ihr gefahren, direkt nachdem die Männer von der Staatssicherheit sie verlassen hatten? War sie sich in ihrem Schmerz nicht bewusst, dass sie womöglich beobachtet wurde und nun auch Anki, die Njemka28, in ihre schrecklichen Erlebnisse um Rasputin hineinzog? Wenn sogar die Zariza der Spionage für die Deutschen bezichtigt wurde, welche Verdachtsmomente könnte man dann erst ihr anhängen! Und sie genoss bei Weitem nicht den Schutz vor Repressalien, den eine Alix von Hessen-Darmstadt durch ihren Status als Zariza aller Russen innehatte.

»Wie kam die Staatssicherheit auf den Gedanken, du könntest am Tag ihres Verschwindens mit Jevgenia zusammen gewesen sein? Ich dachte, deine Eltern sprachen niemals über die Sache.«

»Sie war doch meine Freundin«, schluchzte Ljudmila, und Anki verzog das Gesicht. Sie war ebenfalls Ljudmilas Freundin. Und die Staatssicherheit hatte sich früher schon nach ihr erkundigt! »Selbstverständlich sprach Herzog Bobow mit den Beamten darüber. Immerhin sucht er seit Monaten nach seiner Tochter.«

Anki nickte. Natürlich hatte das Ehepaar Bobow der Polizei alle Vorkommnisse dieser tragischen Nacht berichtet. Angesichts ihrer familiären Tragödie wog der Schutz von Ljudmilas Ruf ein Zurückhalten irgendwelcher Details nicht auf.

»Sie stellten mir so viele bohrende Fragen und ließen nicht locker. Dazwischen überschütteten sie mich mit Vorwürfen. Am schlimmsten aber ist, dass sie mir unterstellen, ich würde Rasputin decken. Diesen grässlichen …« Sie sprach nicht weiter, stieß dafür aber einen wütenden und zugleich verzweifelten Schrei aus, der im Foyer widerhallte.

Erschrocken hielt Anki die Luft an, um kurz darauf dem aufgeschreckten Jakow beruhigend zuzuwinken und auch Marfa zurück zu den beiden Mädchen zu schicken.

Ihre Freundin bemerkte das Neugeborene im Arm der Zofe nicht einmal, so gefangen war sie in ihrer schmerzlich durcheinandergeworfenen Gefühlswelt. »Was soll ich nur tun?«, flüsterte sie.

»Dir wird nichts geschehen, Ludatschka. Natürlich stellen die Behörden Fragen und bohren nach, weil sie hofften, dass du ihnen Antworten lieferst. Dass du es nicht kannst, können sie vermutlich nicht nachvollziehen. Und sie haben nun Rasputin unter Verdacht – was dir ja recht sein müsste, nicht? Du aber stehst unter dem Schutz der Zarenfamilie!« Wieder verdrängte Anki ihre Befürchtung, demnächst ebenfalls unangenehmen Besuch zu erhalten. Dabei war sie sich bewusst, dass die Zariza ihre Hand nicht schützend über eine Anki van Campen halten würde. Auch Oberst Chabenski hielt sich weit fort an der Front auf, und die Fürstin …

»Du hast recht«, murmelte die Komtess und schob ein paar gelöste Haarsträhnen, die selbst im schwachen Schein der einzigen Lichtquelle kupferfarben schimmerten, hinter ihre Ohren. »Ich würde wirklich gern helfen, und das nicht nur, um die aufdringlichen Leute der Staatssicherheit endlich los zu sein«, murmelte Ljudmila, als sie sich etwas beruhigt hatte. »Jevgenias Eltern geht es seit ihrem Verschwinden furchtbar schlecht. Fast scheint mir, ihr Vater zerbricht daran. Meine Mutter vermutet, er fühle sich als Versager, weil er nicht in der Lage war, sein geliebtes Kind zu beschützen. Und er macht sich Vorwürfe, dass er seiner Frau und Jevgenia nicht den Umgang mit … dieser Kreatur verboten hatte.« Kurz schwieg Ljudmila, ehe sie, nun wieder heftiger, fortfuhr: »Aber ich kann mich nicht erinnern, was passiert ist! Ich sehe nur immer eine Brücke vor mir und dann entsetzlich viel Blut! Und ich denke, dass Jevgenia gestürzt ist, aber nicht einmal dieses Bild ist klar.«

»Ludatschka, quäl dich nicht. Wenn Gott dich schonen will, indem er dir die Erinnerung an diese schrecklichen Minuten vorenthält, ist das gut so. Möchte er, dass du dich erinnerst, wird er dir dieses Erinnerungsvermögen zur richtigen Zeit wiedergeben.«

»Ach, liebe Anki. Besäße ich nur deine Zuversicht und deinen Glauben.« Ljudmila zog eine Kette aus ihrem Ausschnitt, an der ein goldenes Kreuz hing, und küsste es wiederholt.

»Mein Glaube ist weder stark noch groß. Mein Trost aber ist, dass Gott auch diesen schwachen Glauben anerkennt.«

Ljudmila seufzte, und diesmal ergriff sie Ankis Hände. »Du tust mir gut. Danke für deine beruhigenden Worte. Jetzt kann ich wohl nach Hause fahren und schlafen.«

»Hattest du deinen Eltern gesagt, wohin du fährst? Ist es nicht sicherer, wenn du die Nacht über hierbleibst?«

»Ich versprach ihnen, innerhalb einer Stunde zurückzukehren. Mich begleiten nicht nur ein Kutscher und eine Zofe, sondern auch zwei kräftige Männer. Vater umgibt sich sonst mit ihrem Schutz, da er zunehmend den roten Pöbel in den Straßen fürchtet.«

Anki nickte verstehend. Es hatte zuletzt einige Attentatsversuche auf den Zaren und seinen Beraterstab gegeben, zu dem auch Graf Zoraw gehörte.

Nachdem Ljudmila sich in ihren bodenlangen Mantel gehüllt hatte, öffnete Anki die Tür und trat mit ihrer Freundin unter den Säulen hindurch auf die Stufen. Von der Mojka stieg feuchte Luft auf, die wie zerrissene Fetzen weißen Tülls über dem Kanal schwebte und im Licht der Straßenlaterne einen orangefarbenen Ton annahm. Der Zoraw-Kutscher war aufmerksam und fuhr bis vor die Stufen. Mit einem Blick auf die zweite wartende Kutsche, neben der ein alter Mann auf und ab ging, um sich warm zu halten, kroch erneut Ärger über Raisa in Anki auf.

Hätte die Baroness bei ihrer Ankunft angedeutet, dass sie vorhatte, mehrere Stunden bei den Chabenskis zu verbringen, hätte man die Pferde versorgt und den Fahrer ins Haus gebeten. So aber harrten sowohl die Tiere als auch der greise Kutscher seit Stunden ohne Wasser und Nahrung und seit Einbruch der Dämmerung in zunehmender Kälte dort draußen aus. Es hatte keinen Sinn, das Versäumte nachzuholen, doch sie würde Nadezhda bitten, dem Kutscher einen heißen Tee zu bringen, und anschließend Raisa deutlich machen, dass sie nach Hause fahren sollte.

Das Klappern der Pferdhufe und das Rollen von beschlagenen Kutschrädern über das Pflaster waren gerade verhallt, als aus der entgegengesetzten Richtung das knatternde Brummen eines Automobils ertönte. Da Anki zu so später Stunde nicht mehr mit Besuch rechnete, warf sie einen letzten Blick auf die Lichter der Häuser an der gegenüberliegenden Kanalseite und zu den blinkenden Sternen am nachtschwarzen Himmel, ehe sie sich umdrehte und die Stufen erklomm. Im Vorbeigehen strich sie fast zärtlich mit der Hand an einer der vier dorischen Säulen entlang. In diesem Augenblick stoppte ein auffälliges rotes Automobil direkt vor der Treppe und diesem entstieg Baron Osminken.

Der Mann hastete die Stufen herauf und lief an ihr vorbei ins Foyer, wo er so schnell herumwirbelte, dass sein offener Mantel sich hinter ihm wie eine Fahne aufblähte. »Deine Unzulänglichkeit grenzt schon an …« Offenbar fehlten ihm die Worte, oder er war zu alkoholisiert, um sie hervorzubringen.

»Ich rufe Ihre Tochter, Hochwohlgeboren«, wagte Anki zu sagen.

»Deiner Verantwortung unterlag es, sie schon vor Stunden nach Hause zu schicken, Weib!«

Anki wusste nicht, woran es lag, doch dieser Mann reizte sie zu ständigen Widerworten. »Ihre Tochter ist mit ihren achtzehn Jahren in Russland voll mündig, zudem in die Gesellschaft eingeführt. Sie ist erwachsen und für ihr Tun verantwortlich«, gab Anki zurück, ohne den Mann anzusehen. Seit Jahren behandelte Baron Osminken seine Tochter wie eine Erwachsene und nun, da sie nach dem Gesetz volljährig war, war Anki diejenige, die für die Baroness den Kopf hinhalten sollte? Sie war nicht sehr kämpferisch veranlagt, aber das Gebaren der Osminkens regte sie auf, zumal sie voraussah, dass vor allem Nina eines Tages darunter zu leiden haben würde.

»Du nichtsnutziges Weib! Ich werde dich lehren, wie man sich einem Edelmann gegenüber verhält!« Schneller, als Anki reagieren konnte, ergriff der Mann sie am Oberarm und schlug ihr mitten ins Gesicht. Da er sie gleichzeitig losließ, taumelte Anki durch die Wucht des Schlages zur Seite, stieß gegen einen Palmentopf und stürzte zu Boden. Die Palmenblätter raschelten aufgebracht über ihr.

Ankis linke Gesichtshälfte brannte wie Feuer, ihre rechte Seite schmerzte von dem harten Aufprall. Ein Schatten fiel über sie. Angst durchflutete Anki wie ein brodelnder Fluss, der sie mit sich zu reißen drohte.

27 Geheimpolizei des Ministeriums für Innere Angelegenheiten/Staatssicherheit

28 Deutsche