Kapitel 12

St. Petersburg, Russland,
August 1914

Eine ausgelassene Kinderschar füllte den mit bunten Papiergirlanden und Lampions geschmückten Ballsaal im Chabenski-Haus. Die an einer Längswand eingelassenen goldumrandeten und bis zur Decke hinaufreichenden Spiegel ließen die Anzahl der quirligen Gäste noch weitaus größer erscheinen, aber auch mit den tatsächlich anwesenden Sprösslingen der Aristokratie St. Petersburgs waren Fürstin Chabenski, Marfa und Anki vollauf beschäftigt.

Nadezhda, die hinter dem Getränkebüfett stand und den Wünschen der adeligen Gäste nachkam, zuckte zusammen, als schon wieder ein Glas geräuschvoll auf dem frisch polierten, wertvollen Holzboden aufschlug und in tausend Scherben zersprang. Vermutlich sah sie sich bereits mit Poliermittel und Tuch ausgestattet auf den Knien herumkriechen, in dem verzweifelten Versuch, die Macken auf dem mehrfarbigen Parkett zu kaschieren.

Anki, in einem weinroten Kleid festlich zurechtgemacht, bat zwei allzu vorwitzige Mädchen, sich von der Unfallstelle fernzuhalten und trug die elfjährige Verursacherin aus dem Scherbenmeer heraus. Eilfertig näherte sich Jakow und beseitigte mit der ihm eigenen Ruhe sowohl die Scherben als auch die Spuren der klebrigen Limonade, bevor er sich schleunigst wieder zurückzog. Kaum dass er die eine der vier Flügeltüren hinter sich geschlossen hatte, vernahm das Kindermädchen Raisas nörgelnde Stimme: »Wann finden diese Spiele ein Ende? Sie sind albern und werden uns nicht gerecht!«

Das Geburtstagskind, das mit vor Aufregung und Freude blitzenden Augen und geröteten Wangen wunderhübsch aussah, blieb bei ihrer älteren Freundin stehen und sah sie einen Augenblick verständnislos an. Plötzlich veränderte sich Ninas Mimik. Mit einem Mal erschienen auch ihr die fröhlichen Wett- und Gesellschaftsspiele nicht mehr angemessen. Ihre jungen Gesichtszüge verhärteten sich spöttisch, als zwei ihrer Gäste in ihren Wettkampf vertieft an ihr und Raisa vorbeistürmten und dabei fröhlich kicherten.

»Gibt es keine Musiker, die zum Tanz aufspielen? Bist du noch ein Kleinkind, das dumme Spiele dem gesellschaftlichen Leben vorzieht?«

Anki hatte genug von den hochmütigen, fast bedrohlichen Worten Raisas, die ihren Schützling unter Druck zu setzen versuchte. Sie trat zu den Mädchen und legte Nina ihre Hand auf die Schulter. »Habt ihr einen Wunsch? Sollen wir etwas anderes machen?«

Die Chabenski-Tochter wand sich sichtlich. Erst ein paar Minuten zuvor hatte sie ihre Njanja begeistert umarmt und ihr zugeraunt, wie herrlich ihr Geburtstagsfest sei. Ohne eine Antwort abzuwarten führte Anki Nina zu den Sitzgelegenheiten. Raisa musste ihnen zwangsläufig folgen, wenn sie nicht allein zurückbleiben wollte. Die Mädchen setzten sich auf eine mit einem goldenen Brokatstoff mit Blumenmuster bezogene Bank, während Anki auf einem Hocker Platz nahm.

»Weshalb gibt es keinen Tanz?«, platzte Raisa in herablassendem, vorwurfsvollem Tonfall heraus,

»Es gibt keinen Ball, Raisa Wladimirowna, da es sich bei diesem Fest um den Geburtstag einer dreizehnjährigen Prinzessin handelt«, erwiderte Anki kühl.

»An meinem dreizehnten Geburtstag gab es Musik und Tanz.«

Anki unterdrückte ein Seufzen. Vermutlich lag das nicht angemessene Tanzfest in dem Umstand begründet, dass Raisas Vater selten etwas gegen die überzogenen Wünsche seiner einzigen Tochter einwandte. Diesen Gedanken behielt Anki jedoch tunlichst für sich. »Deine Mutter und ich haben ein Ratespiel über dich und deine bisherigen Lebensjahre vorbereitet, Nina. Es sind keine schwierigen Fragen, sodass deine Freundinnen sicher die meisten beantworten können. Möchtest du dir die Fragen ansehen und das Spiel persönlich leiten?«

»Das hört sich spannend an«, sagte Nina, warf aber einen vorsichtigen Blick zu Raisa.

Die junge Baroness verzog verächtlich das Gesicht, woraufhin sich Anki beeilte, einer abfälligen Bemerkung zuvorzukommen. »Da Raisa Wladimirowna schwerlich mitspielen kann, dachte ich, sie könne mit dir gemeinsam durch das Spiel führen. Was denken Sie, Baroness?«

»Na, gut. Bevor ich mich auf diesem Kinderfest noch zu Tode langweile …«, erwiderte Raisa übertrieben freundlich.

Erleichtert nahm Anki eine Mappe vom Tisch und schlug sie auf. Dabei entgingen ihr Raisas geflüsterte Worte nicht: »Warum lässt du dich von dieser Angestellten so respektlos anreden? Du stehst gesellschaftlich weit über ihr.«

»Meine Mutter besteht darauf«, zischte Nina unangenehm berührt zurück, wusste sie doch, dass ihre Erzieherin sie hören konnte.

»Dann musst du lernen, dich gegen deine Mutter zu behaupten. Diese Njanja stellt sich mit dir auf eine Stufe. Das ist ungeheuerlich! Und vermutlich waren es auch sie und deine Mutter, die Musik und Tanz verhindert haben, nicht? Du darfst dir nicht alles gefallen lassen! Aus diesem Alter sind wir heraus! Wir müssen lernen, uns durchzusetzen! Und wenn deine alten Eltern das nicht einsehen wollen, haben sie die Folgen zu tragen!« Ihre Stimme wurde nicht nur durchdringender, sondern auch deutlich höher. »Strafe sie, indem du sie ignorierst. Das schmerzt sie am meisten und so setzt du am schnellsten deinen Willen durch. Und da deine Mutter ohnehin auffällig rückschrittlich ist und so entwürdigend vertraut mit ihren Bediensteten umgeht …«

»Baroness Raisa Wladimirowna, dürfte ich Sie bitte einen Augenblick sprechen?«

Das Mädchen sah erschrocken auf. Anki registrierte dies mit Erleichterung, ebenso wie den Anflug eines schlechten Gewissens, der über die jugendlichen Gesichtszüge huschte. Allerdings kam sehr schnell wieder ihre arrogante Fassade zum Vorschein. Dennoch erhob sich Raisa und folgte Anki ein paar Schritte.

Mit dem Rücken zu Nina, damit das Mädchen sie nicht hörte, sprach sie sanft auf Raisa ein: »Entschuldigen Sie bitte, Baroness. Wie Sie wissen, bin ich für das Wohlergehen und die Erziehung der Chabenski-Kinder zuständig. Die Familie Chabenski bringt mir in dieser Hinsicht großes Vertrauen entgegen. Ich liebe die Mädchen und ich bin den Chabenskis zu Dank verpflichtet. Der Fürst und die Fürstin sind mir große Vorbilder und pflegen eine enge Beziehung zu ihren Kindern. Sie, Raisa Wladmirowna, sind freier erzogen und aufgewachsen als Nina.« Anki zögerte einen Moment, ehe sie mutig fortfuhr: »Ich glaube nicht, dass die Chabenskis es begrüßen würden, wenn Nina in dieser Hinsicht durch Sie beeinflusst würde.«

»Unverschämtes Stück. Du wagst es, mich zu belehren? Mich so vor meiner Freundin zu demütigen …«, ereiferte sich das junge Mädchen.

»Ich nahm Sie bewusst beiseite, damit Nina unser Gespräch nicht mit anhört. Und ich werde hinsichtlich dem, was Sie eben sagten, den Chabenskis gegenüber Stillschweigen wahren, da sie ansonsten vermutlich jeden Kontakt zwischen Ihnen und Nina beenden würden.«

»Du denkst doch nicht etwa, die Chabenskis stellen sich auf die Seite einer einfachen Njanja – gegen mich?«

»Die Fürstin und der Fürst würden sich in jedem Falle auf die Seite ihres Kindes stellen, Baroness Osminken«, erwiderte Anki nun etwas schärfer und ohne den Vaternamen auszusprechen, da sie dem Mädchen verdeutlichen wollte, dass auch ihre Höflichkeit ihre Grenzen hatte. »Die Hoheiten wünschen sich das Beste für Nina und sie stimmen mit mir darin überein, dass ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Kind und Eltern das Allerwichtigste ist.«

Ohne Scheu sah Anki das Mädchen an. Täuschte sie sich oder wirkte Raisa tatsächlich verunsichert? Ermutigt trat sie einen Schritt vor und flüsterte mit versöhnlicher Stimme: »Sie haben leider sehr früh Ihre Mutter verloren, Baroness Raisa Wladimirowna. Das tut mir sehr leid. Nina mag und bewundert Sie. Vielleicht könnten Sie eine enge Vertraute für sie werden?« Wie ein Friedensangebot streckte Anki dem Mädchen die vorbereiteten Quizfragen entgegen. Dem prüfenden Blick der Siebzehnjährigen hielt sie stand, bis diese die Augen abwandte, ihr die Papiere aus der Hand nahm und zu der ungeduldig wartenden Nina zurückkehrte.

Anki atmete mehrmals tief durch. War sie zu weit gegangen? Hatte sie sich in ihrer Sorge um Nina, aber auch um Raisas Zukunft zu Worten hinreißen lassen, die sie womöglich in Schwierigkeiten bringen könnten? Aber gelegentlich war es nötig, sich erst einmal den Respekt eines Kindes zu sichern und ihm deutlich den eigenen Standpunkt klarzumachen, ehe sich ein gutes Verhältnis, womöglich sogar Zuneigung und Freundschaft entwickeln konnte. Ob das bei Raisa gelingen konnte?

Die Baroness riss die Leitung des Spiels vollständig an sich, was Nina jedoch nicht im Geringsten störte. Sie saß wie ihre Gäste auf eilig herbeigebrachten Stühlen und freute sich über jede richtige Antwort.

Anki trat zu Nadeszhda an das Büfett und ließ sich ein Glas Wasser reichen. Kurz darauf gesellte sich die Fürstin zu ihnen und beobachtete lächelnd die jetzt deutlich zahmere Kinderschar.

»Was für ein guter Einfall von Ihnen. So kommen die Gäste zur Ruhe.«

»Zumindest für ein paar Minuten.« Anki lachte, als die ständig zappelnde, sichtlich aufgeregte Jelena genau in diesem Moment von ihrem Stuhl kippte.

»Sie sind so unterschiedlich, nicht?«, setzte Fürstin Chabenski das Gespräch fort und nahm mit einem Nicken ein Glas Wasser entgegen.

»Wie Tag und Nacht, Hoheit. Aber meine Schwestern und ich sind das ebenfalls.«

»Ich wuchs als einziges Kind meiner Eltern auf, diesen Erfahrungsschatz teile ich leider nicht mit Ihnen. Aber dafür haben wir ja Sie!« Fürstin Chabenski drückte ihr in einer dankbaren Geste den Arm.

Raisa, die in der ihr zugedachten Rolle voll aufging, lachte schallend über die drollige Antwort der kleinen Katja, war allerdings klug genug, das Mädchen nicht bloßzustellen, sondern ermunterte es, schärfer nachzudenken.

»Sie hatten vorhin eine Auseinandersetzung mit der kleinen Osminken?«, fuhr die Fürstin fort, ohne die Augen von der exquisit gekleideten Kinderschar in ihrem erlesenen Ballsaal zu nehmen.

Anki leerte ihr Glas und rollte es in ihren Händen hin und her. »Baroness Raisa Wladimirowna ist für ihr Alter weit entwickelt, Hoheit. Ihr Entwicklungsstand und ihre Ansichten passen nicht immer mit denen von Nina überein. Diesen Tatbestand hielt ich ihr vor Augen.«

»Sie ist nicht einfach, das habe ich wohl bemerkt. Aber für ein Mädchen ist es schwer, ohne Mutter und nur mit einem vielbeschäftigten Vater aufzuwachsen, zumal dieser, so scheint mir, kein glückliches Händchen bei der Wahl einer Njanja für seine Tochter bewies.«

»Da stimme ich Ihnen zu, Hoheit. Ich hoffe, mit der Zeit das Vertrauen der Baroness zu erlangen. Vielleicht gelingt es mir, positiv auf sie einzuwirken. Natürlich von Frau zu Frau!«

Fürstin Chabenski lachte über Ankis teils humorvolle, teils ernst gemeinte letzte Bemerkung. »Ich habe von Ihnen nichts anderes erwartet. So eine Geburtstagsfeier ist der passende Zeitpunkt, um der Njanja einmal ein großes Lob auszusprechen. Fräulein Anki, Sie sind eine Perle!«

»Ich danke Ihnen, Hoheit. Ihr Lob bedeutet mir sehr viel«, flüsterte Anki, berührt von den anerkennenden Worten der Adeligen.

In diesem Augenblick kam Katja auf sie zugelaufen. Offenbar war ihr das Spiel, zu dem sie nicht viel beitragen konnte, langweilig geworden, und sie hatte sich die Geschenke ihrer Schwester auf dem Tisch angesehen. Mit einem in feines Leder gebundenen Buch in den Händen stellte sie sich vor ihr Kindermädchen.

»Das haben Sie Nina geschenkt, nicht wahr, Fräulein Anki? Es ist ein deutsches Liederbuch mit Noten darin. Lieder wie die, die wir bei unseren Spaziergängen im Sommergarten singen.«

Wie sie es zumeist tat, wenn sie mit den Kindern sprach, ging Anki in die Hocke. Sie nahm dem Mädchen das Buch aus der Hand und schlug es auf. Die bunt illustrierten Seiten mit den Kinderliedern faszinierten sie selbst aufs Neue. »Ja, das ist mein Geschenk. Euch gefallen die Lieder doch so sehr, und da ihr Klavierunterricht erhaltet, dachte ich, wir könnten die Melodien spielen lernen. Sie sind leicht am Klavier zu begleiten.«

»Und wir könnten wieder tanzen!«, freute sich die Achtjährige. »Wie damals, als Ihre Schwester Sie besuchte!«

Anki nickte voll Wehmut, die sie immer überfiel, wenn Jelena Katja von ihrem ganz besonderen Ausflug in den Sommergarten erzählte, da Katja sich nicht mehr an diesen erinnern konnte. Obwohl Tilla und Demy viel auf Reisen waren, hatte sich nie wieder ein Besuch in St. Petersburg ergeben. Manchmal fragte sich Anki, ob Tilla sie mied. Sie schrieb äußerst selten, während Demy sie förmlich mit Briefen überschüttete. Anki wusste über die Heimlichkeiten Bescheid, die Demy umgaben, ebenso über Feddos Streiche und Rikas Vorlieben, aber von Tilla erfuhr sie nur Oberflächliches. Es war, als umgebe die älteste Schwester ein rätselhafter Nebel.

»Mama, kannst du dich nicht an den Flügel setzen und für uns spielen? Und wir singen und tanzen. Bitte?«, unterbrach Katja Ankis traurige Gedanken.

»Darf ich …?« Fürstin Chabenski nahm ihr lächelnd das Buch aus der Hand und blätterte darin. Augenscheinlich sagten ihr neben den liebevoll gestalteten, farbigen Illustrationen auch die deutschen Texte zu. So ging sie an den wie dunkler Bernstein schimmernden Flügel hinüber und klappte ihn auf. Nach dem Ende des Frage- und Antwortspiels mitsamt Preisverleihung wollte sich erneut lärmende Unruhe einstellen, aber da begann Fürstin Chabenski mit ihrem Klavierspiel. Angelockt von den sanften Tönen versammelten sich die Kinder wie eine Herde Lämmer um ihren Hirten und lauschten.

Anki schloss genießerisch die Augen. Diese Frau war eine virtuose Pianistin. Sie verlieh selbst den einfachsten Melodien eine berauschende Intensität. Vor ihrem inneren Auge sah sie im Wind wippende Blütenköpfe, tanzende Kinder und munter umhersummende Hummeln.

»Fräulein Anki, bitte singen Sie mit uns!«, rief Jelena, die links und rechts zwei Spielkameradinnen an den Händen hielt.

»Bitte, Fräulein Anki. Sie sind mit einer so bezaubernden Singstimme beschenkt«, lockte auch Fürstin Chabenski.

Über das Lob der exzellenten Musikerin etwas verlegen trat Anki neben sie und warf einen Blick auf den Text. Kurz darauf erklang im ehrwürdigen Ballsaal fröhlicher Kindergesang zum Klavierspiel. Die Gäste tanzten Hand in Hand in einem großen Kreis. Nur Raisa stand abseits und beobachtete mit geringschätziger Miene die Kinder. Diese tanzten auf sie und eine Marmorstatue zu, die einen Schwan mit ausgebreiteten Flügeln und hoch in die Luft gerecktem Kopf darstellte. Plötzlich ertönte ein lang gezogener Schmerzensschrei. Gesang und Klavierspiel brachen abrupt ab. Für einen Moment hallte die Melodie in dem hohen Raum nach, dann herrschte absolute Stille.

***

Das schmerzerfüllte Weinen eines Kindes durchbrach das Schweigen und veranlasste Anki dazu, ihren eng geschnittenen Rock zu raffen und über das Parkett zu stürmen. Bei der Kinderschar angekommen schob sie sich energisch zwischen ihnen hindurch. Jelena lag mit Schweißperlen auf dem fahlen Gesicht und schmerzverzerrten Zügen vor der Statue am Boden und rührte sich nicht. Unsanft schob Anki auch Raisa beiseite und kniete sich neben die Kleine. »Jelena, wo tut es dir weh?«

»Überall!«, keuchte das Kind.

»Was ist geschehen?«

»Ich bin gegen die Statue gefallen.«

Anki betrachtete besorgt Jelenas linken Arm, den sie in einer eigentümlichen Schonhaltung hielt. Ob er gebrochen war? Vorsichtig berührte sie den Ellenbogen, bereitete aber damit dem Kind bereits unsägliche Schmerzen. Die Stimme von Anki zitterte vor Mitleid und Entsetzen, als sie dem Mädchen zuraunte: »Bleib liegen, meine Kleine. Wir lassen einen Arzt kommen.«

»Was ist denn geschehen?« Fürstin Chabenski kniete sich ebenfalls hin und wollte ihrer Tochter ein Kissen unter den Kopf schieben, doch diese schrie erneut auf, weshalb ihre Mutter den Versuch sofort unterließ. »Vielleicht die Schulter …?«, flüsterte Anki und betete im Stillen, dass Gott das Kind vor inneren Verletzungen bewahren möge.

»Sollen wir die Kutsche anspannen lassen?«

Nachdenklich schüttelte Anki den Kopf. Sie schätzte die Haltung der Chabenskis, die es vorzogen, einen Arzt in den regulären Krankenhäusern aufzusuchen, statt ihn in ihr Haus zu rufen. Doch eine Fahrt über die holprigen Pflasterstraßen würde sicherlich grausame Schmerzen bei Jelena verursachen. »Jelenas Schmerzen erscheinen mir zu stark, als dass wir sie überhaupt bewegen sollten, Hoheit.«

»Dann lasse ich nach einem Doktor schicken!«, entschied Fürstin Chabenski. »Mein Mann ist noch in seinem Arbeitszimmer. Er wird selbst reiten und den Arzt herbringen!«

»Die Gäste, Hoheit«, flüsterte Anki und stellte erstaunt fest, wie besonnen sie trotz ihrer Sorge um das Kind reagierte. »Marfa und Nadezhda sollen sie hinüber in den Speisesaal geleiten und ihnen Kuchen und Tee servieren.«

»Das ist ein guter Gedanke. Ich sorge für alles. Bleiben Sie bitte bei Jelena«?

»Ich lasse sie nicht aus den Augen, Hoheit.«

Die Gäste verließen nur zögernd den Ballsaal. Ninas Freundinnen mochten den fröhlichen Wirbelwind Jelena und wollten ihr Trost spenden, andere waren wohl einfach nur neugierig, was weiter geschah. Die letzte Person, die in den gewaltigen Rahmen mit den Flügeltüren trat und sich dort noch mal umdrehte, war Raisa.

Anki erschrak zutiefst, als sie den Gesichtsausdruck des Mädchens sah. Sie hatte mit Mitgefühl für Jelena gerechnet, aber in Raisas Gesicht war vielmehr eine Mischung aus Schadenfreude und einem unergründlichen Vorwurf zu lesen.