Kapitel 33

Vrizy, Département Ardennes, Frankreich, April 1915

Rumpelnd setzten die Räder von Philippes Flugzeug auf dem Boden auf und holperten über die Wiese, bis sie vor einer Anzahl Zelte und zwei Reihen Albatros-Flugzeugen zum Stehen kamen. Das Motorengeräusch erstarb und der Pilot riss sich die Brille und die Ledermütze vom Kopf, ehe er sich aus seinem unbequemen Sitz stemmte. Dabei sah er, wie die drei Maschinen, die ihn zuerst angegriffen, dann aber eskortiert hatten, neben ihm landeten.

Seine Wut über ihren MG-Gebrauch war verraucht. Da er wertvolle Zeit mit der Jagd auf Roth vertändelt und später als geplant seine Rückkehr angetreten hatte, war er selbst schuld. Sein Glück, dass ihm der Kommandeur dieser kleinen Fliegereinheit die notdürftige Beflaggung abgekauft hatte. Womöglich hatte auch seine Nichtbewaffnung dazu beigetragen, dass er jetzt nicht in den schwarz verkohlten Überresten seiner Maschine am Boden lag.

Gewandt sprang Philippe ins Gras und eilte auf den Piloten zu, der ihm am Himmel einen nicht zu verachtenden Zweikampf geliefert hatte. Als dieser sich den Schal vom Kinn wickelte und die Fliegerbrille auf die Fellmütze schob, erkannte er Max Immelmann. Der zierliche Mann rief seinen Kollegen etwas zu, drehte sich dann aber in Philippes Richtung und kam ihm ein Stück entgegen. Unter seinem schmalen Schnauzbart zeichnete sich ein belustigtes, jugendliches Lächeln ab. »Ein Fokker-Ingenieur!«, lachte er und reichte Philippe die Rechte, in die er kräftig einschlug.

»Ganz richtig, Immelmann. Meindorff«, stellte Philippe sich vor.

»Ich erinnere mich an Sie, Meindorff. Mein Freund Anthony ließ Sie damals seine Neukonstruktion vorführen, obwohl er das für gewöhnlich selbst tut. Eine Auszeichnung ohnegleichen für Sie!«

»Ich danke für das Kompliment!«

»Dem ich sofort ein zweites anschließe! Es gehört ordentlich Mut dazu, mit einem ungekennzeichneten Flugzeug von Paris bis hierher zu fliegen.«

»Oder Irrsinn?«

Immelmann lachte und machte sich wie Philippe daran, die gefütterte Lederjacke aufzuknöpfen. In der Frühlingssonne begannen die Piloten in ihrer warmen Montur gehörig zu schwitzen. Kleine Schweißperlen bildeten sich auf ihren Gesichtern.

»Ich hätte Ihnen Ihre Notbeflaggung nicht abgenommen. Aber gemeinsam mit Ihrem Flugmanöver meiner Rolle, die Sie perfekt beherrschen, dachte ich mir, wir lassen den Halunken mal passieren, behalten ihn aber im Auge.«

»Ich danke herzlich dafür!«

»Das kann ich mir vorstellen!« Immelmann lachte erneut und deutete mit der Hand, in der Handschuhe, Mütze und Brille baumelten, in Richtung eines Zelts. Vor diesem standen weiße Korbstühle um ein paar kleine Tische. Auf ihnen befanden sich Obstschalen, Kristallgläser, ein Blumengesteck und Geschirr. Zwischen zwei Apfelbäumen spannte sich eine Hängematte, in der ein junger Mann leise schnarchte. Der obligatorische Schal um seinen Hals wies ihn als Piloten aus.

Mit einem Blick erfasste Philippe, was ihm bereits von verschiedenen Seiten zugetragen wurde: Im Gegensatz zu den Frontsoldaten litt diese Fliegereinheit keinerlei Mangel an Nahrungsmitteln. Ihre Unterkünfte lagen zwar nahe der Front, doch weit genug entfernt, um sich sicher zu fühlen und es sich gemütlich zu machen. War noch vor Jahren kein Pfennig auf die Flugzeuge gewettet worden, wurden Männer wie Immelmann nun nach nur wenigen Tagen in der Luft wie Helden gefeiert, bewirtet und umschwärmt.

Die beiden Piloten ließen sich in die Korbsessel fallen und Philippe griff nach einer Karaffe mit kühlem, frischem Wasser und einem unbenutzt aussehenden Glas.

»War das ein Geheimauftrag von Anthony oder wurden Sie vom Kriegs- oder Außenministerium nach Paris geschickt?«, forschte Immelmann nach, während er sich aus einem mit Eisstücken gefüllten Blecheimer eine Limonade holte.

In diesem Moment stürmte ein Uniformierter an den Tisch und reichte dem deutlich jüngeren Immelmann eine schriftliche Mitteilung. Der las sie mit erhobenen Augenbrauen, lächelte dann und schob die Nachricht über die im leichten Wind flatternde Spitzentischdecke zu Philippe.

Das Telegramm stammte von Anthony Fokker aus Schwerin. Er fragte zum einen, ob Philippe endlich zurück sei – und dass er seine Ergebnisse ganz praktisch untermauern könne, indem er unverzüglich nach Ingelmunster in Flandern weiterflog. Dort sei das französische Fliegerass Roland Garros bei seinem Angriff auf den Bahnhof von Courtrai abgeschossen worden. Garros hatte mit seiner Morane-Soulnier-L im deutsch besetzten Gebiet notlanden müssen. Der Befehl war deutlich:

Phil: Hol mir die Waffe. Schau Dir den Propeller an. Wenn Meindorff noch nicht zurück ist, wende ich mich mit dieser Bitte an Dich, Immelmann.

»Das beantwortet zumindest eine meiner Fragen!«, lachte Immelmann und wies den Überbringer der Nachricht an, ihnen eine Landkarte zu bringen. Kurz darauf beugten sich die Piloten über diese und stellten mit einem Blick fest, dass die Absturzstelle nahe beim Ärmelkanal lag, ein schnelles Hinüberfliegen demnach nicht zu bewerkstelligen war.

»Bis ich dort bin, ist die Maschine längst in alle Einzelteile zerlegt. Und je nachdem, wie Garros’ Notlandung ausfiel, ist die Apparatur ohnehin zerstört. Ich hoffe, ihm geht es halbwegs gut, denn im Normalfall hätte er seine Maschine in Brand gesteckt.«

Immelmann nickte. »Anthony muss zusehen, dass er die Maschine in die Finger bekommt. Ich schätze, sie wird nach Berlin gebracht, wenn von dort sogar eigens ein Pilot nach Frankreich geschickt wurde, um das Geheimnis dieser Waffe zu ergründen.« Der junge Mann erhob sich, bedeutete Philippe jedoch sitzen zu bleiben. »Ich sorge dafür, dass Sie eine Mahlzeit erhalten, bevor Sie weiterfliegen. In dieser Zeit schaue ich mir Ihren interessanten Eigenentwurf näher an. Sie ist sehr wendig, Ihre Lady. Ein stärkerer Motor und sie könnte ein Schatz sein, nicht wahr? Hat Anthony noch immer Probleme damit, anständige Motoren zugewiesen zu bekommen?«

»Mal gewinnt er, mal verliert er.«

»Er soll uns mal eine richtig flotte Maschine bauen – am besten eine mit eben dieser Vorrichtung, mit der sich durch den Propellerkreis feuern lässt. Das erspart uns das freihändige Fliegen, um schießen zu können, beziehungsweise den Schützen mit an Bord und würde uns wendiger, schneller und flexibler machen.«

»Ich richte es ihm aus, Immelmann!« Philippe lehnte sich in dem knarzenden Korbstuhl zurück und streckte die Beine unter dem Tisch aus. Ein lauter werdendes Brummen verriet das Nahen weiterer Flugzeuge, die bald am Himmel auftauchten, zwischen den baumbestandenen Hügeln abtauchten und nacheinander zur Landung ansetzten. Nachdem der Motorenlärm sich gelegt hatte, blieben nur das Rauschen der Bäume, ein paar verhaltene Stimmen aus den Zelten und das friedliche Zwitschern der Vögel, gelegentlich unterbrochen von einem lustigen Schnarchlaut des Piloten in der Hängematte.

Die vier Fliegerleutnants, die soeben gelandet waren, schlenderten herbei, begrüßten Philippe wie einen der Ihren und ließen sich am benachbarten Tisch auf die Stühle fallen, um erst einmal ihren Durst zu löschen. Ihre Stimmung war gelöst; sie flachsten miteinander, wobei sie über ein paar britische Piloten herzogen, die sich offenbar zum Ärgern zur Verfügung gestellt hatten. Philippe gewann den Eindruck, als erlebten diese Luftkutscher den Krieg als ein einziges vergnügliches Abenteuer. Vermutlich würde er gut zu ihnen passen, sinnierte er. Mit einem Blick auf die aufgesetzten MGs an ihren Flugzeugen revidierte er seine Überlegung jedoch. Er war nicht bereit, schon wieder für den deutschen Kaiser Menschen zu töten.

Immelmann kehrte mit einem französisch sprechenden Koch zurück und ließ Philippe ein Drei-Gänge-Menü auftischen. »Genießen Sie das Essen, Meindorff. Die Franzosen haben ein paar erstklassige Piloten, aber auch ausgezeichnete Köche! Und wenn Sie genug davon haben, die Flugzeuge nur zu bauen und stattdessen selbst fliegen wollen, melden Sie sich bei mir. Einen Luftakrobaten wie Sie können wir immer gebrauchen!« Mit diesen Worten nickte Immelmann ihm ernst zu. Er setzte sich hinüber zu seinen Kollegen, um mit ihnen zu fachsimpeln, und ließ Philippe in Ruhe seine reichhaltige Mahlzeit einnehmen.