Kapitel 10

St. Petersburg, Russland,
August 1914

Wild wie ein Kreisel drehte sich Nina Osminken und ließ dabei den Rock aus feinem bedrucktem Seidenbatist um ihre Beine fliegen. Das zarte Gelb des Stoffes mit den weißen Blüten und Ranken darauf passte hervorragend zu ihrer weißen Bluse, der Schärpe in kräftigem Gelb um die Taille und den gleichfarbigen, in ihr Haar geflochtenen Satinbändern.

»Ich bin eine Prinzessin, ich bin eine Prinzessin«, sang das Mädchen halblaut vor sich hin.

»Ja, das bist du«, erwiderte Anki van Campen, ihr Kindermädchen, und seufzte. Sie wurde das Gefühl nicht los, die älteste der Chabenski-Töchter allmählich zu verlieren. Seit deren langjährige Brieffreundin Raisa mit ihrem Vater, Baron Osminken, vor ein paar Monaten dauerhaft von Moskau nach St. Petersburg gezogen war, veränderte Ankis Schützling sich tagtäglich und dies nicht unbedingt zu ihrem Vorteil.

Ruhig erwiderte Anki: »Sind wir das nicht alle, Nina? Wir alle, die wir an Gott glauben, sind die Kinder des Weltenkönigs und somit Königskinder.«

Nina blieb sofort stehen. Der Stoff ihres Kleides wickelte sich um ihre Beine und schwang raschelnd zurück. Das Mädchen stemmte die Hände in die Hüfte und blitzte Anki vorwurfsvoll an. »Willst du damit sagen, du bist ebenfalls eine Prinzessin? Und Marfa, unsere Zofe? Oder Nadezhda, das Dienstmädchen?«

Anki ließ sich bewusst viel Zeit damit, die bunten Haarschleifen und -bänder zurück in die verzierte Holzschatulle zu legen. »Ja, Nina, das sind wir. Wir sind Königstöchter. Und du bist eine Königstochter, eine russische Prinzessin und ein Geburtstagskind dazu.« Sie zwinkerte dem Mädchen verschwörerisch zu, und tatsächlich huschte über das kindliche Gesicht ein geschmeicheltes Strahlen. Der ernste, fast überhebliche Ausdruck verschwand.

Nina blickte wieder in den Spiegel, und Anki seufzte erneut verhalten auf. Noch gelang es ihr, das Mädchen von unguten Einflüssen fernzuhalten; ihr Denken zu lenken. Aber wie würde es in ein paar Monaten sein, wenn Ninas Charakter sich ausprägte? Wenn sie sich – noch immer beeinflusst durch Menschen wie diese Raisa – ein überzogenes Bild von sich und ein verächtliches den weniger privilegierten Menschen gegenüber anzueignen begann? Ob Anki doch einmal mit Fürstin Chabenski über ihre älteste Tochter sprechen sollte?

Wenig erfolgreich versuchte sie den Gedanken von sich zu weisen. Ihre Arbeitgeberin, Fürstin Oksana Chabenski, war eine gerechte, liebenswürdige Frau, die sich sehr um ihre Mitmenschen und sogar um ihr Personal sorgte. Sie stand gelegentlich einer in Not gekommenen Familie zur Seite und unterstützte sie tatkräftig. Dennoch würde sie kaum auf die Bitte einer einfachen Njanja7 hören und sich gegen die Freundschaft ihrer Tochter mit der Tochter eines Barons stellen. Dafür war der Stolz der Fürstin auf ihre Herkunft, ihre Familie und die damit verbundenen Traditionen zu ausgeprägt.

Erfolg versprechender erschien es Anki, sich der mutterlosen, in der Gesellschaft herumgereichten Raisa anzunehmen, ihr Liebe und Verständnis zu schenken, verbunden mit der Hoffnung, beides auch in ihr zutage zu fördern.

Die Tür zu Ninas Zimmer sprang auf, und das Mädchen stieß einen Freudenschrei aus. Ihr Vater war eigens zu ihrem Geburtstag angereist! Gleich einem gelben Schmetterling flog sie dem stattlichen Mann entgegen, der sie auffing und wild durch die Luft wirbelte.

Anki zog sich lächelnd an ein Fenster zurück. Für Nina war die Anwesenheit ihres Vaters besonders wichtig, da sie mehr an ihm hing als Jelena und Katja. Die enge Vater-Tochter-Beziehung lag vermutlich darin begründet, dass Fürst Chabenski in Ninas ersten Lebensjahren noch in St. Peterburg stationiert gewesen war und viel Zeit mit seiner Tochter verbringen konnte. Für Jelena und besonders für die erst achtjährige Katja war seine Zeit deutlich knapper bemessen gewesen, da ihn erst der Russisch-Japanische Krieg und dann eine anschließende Verlegung seines Regiments von der Familie getrennt hatten.

Durch den fröhlichen Lärm angelockt erschien auch Fürstin Chabenski in der Tür. Nina nahm die Glückwünsche ihrer Mutter höflich entgegen, wobei ihre Blicke immer wieder zu ihrem Vater wanderten. Das Geburtstagskind würde wohl bis zum frühen Nachmittag, wenn ihre geladenen Gäste eintrafen, nicht von seiner Seite weichen.

Kinderstimmen drangen fordernd vom Speisesaal bis in den ersten Stock hinauf. Jelena und Katja wollten ebenfalls gratulieren und endlich das gemeinsame Frühstück einnehmen.

»Schnell, meine Lieben. Nicht dass uns unsere beiden jungen Damen verhungern!« Fürst Chabenski legte einen Arm um Ninas Schulter, hakte sich bei seiner Frau unter, und die drei eilten zu den ungeduldig wartenden Mädchen.

Da sie bereits frühmorgens eine Mahlzeit eingenommen hatte, verließ Anki unverzüglich das Haus und eilte in Richtung Nevskij Prospekt. Die Augusttage brachten der Stadt im Norden warme Sonnenstrahlen und einen prachtvollen blauen Himmel, aber auch die in diesem Jahr durch die Straßen marschierenden Soldaten.

Anki war sich durchaus bewusst, dass mittlerweile viele deutschstämmige Bürger die Stadt und das Land verließen und spazierte längst nicht mehr so entspannt wie noch einige Wochen zuvor an der Mojka entlang in Richtung Prachtstraße. Natürlich sah man ihr nicht an, dass sie eine deutsche Mutter hatte, und ihr holländischer Pass mochte ein Schutzschild für sie sein, doch in den meisten Adelshäusern war sie nun mal als »das deutsche Kindermädchen der Chabenskis« bekannt. Bereits während der verwirrenden diplomatischen Kontroversen vor Kriegsausbruch war sie mit misstrauischen Blicken bedacht worden. Überall wurde Spionage und Verrat gewittert.

Obwohl ihr in diesem Rajon8 jede Straße, jedes Haus und jeder Kanal bestens vertraut war, bog sie dieses Mal verunsichert auf den Boulevard ein, passierte zügig den wunderschönen, elisabethanisch-barocken Stroganow-Palast und tauchte in die Welt der Kunst- und Antiquitätengeschäfte, der Juweliere, Parfümerien, Modehäuser, Konditoreien und Restaurants ein, bis sie endlich das 1904 von dem Nähmaschinenfabrikanten Singer errichtete Haus an der Ecke zum Gribojedow-Kanal erreichte. Nachdenklich blickte sie an den dekorativen Fenstern und schmiedeeisernen Balkonen entlang zu der hohen Kuppel. Dort oben thronte ein aus Glas gestalteter, von Nymphen gehaltener Globus.

In der Stadt erzählte man sich, Singer habe ursprünglich ein elfstöckiges Haus erbauen lassen wollen, sei aber an dem Gesetz gescheitert, das besagte, dass kein Gebäude St. Petersburgs höher als der Winterpalast des Zaren sein durfte. Schließlich hatte der trickreiche Architekt Pawel Sjusor eine Kuppel an einer Ecke des Hauses errichtet und war damit doch über die eigentlich verbotene Höhe hinausgekommen.

Ob die Menschen in St. Petersburg sich auch mit der Entschuldigung austricksen ließen, dass ihr langjähriger Aufenthalt in der Stadt ihr Bleiben rechtfertigte? Würden sie ihre Anwesenheit weiterhin akzeptieren? Immerhin wusste Anki von einigen rüden Übergriffen auf deutsche Geschäftsleute. Diese waren es auch, die innerhalb weniger Tage, oft innerhalb von Stunden, entschieden hatten, ihre Geschäfte und Fabriken im Stich zu lassen und in das Deutsche Kaiserreich zurückzukehren.

Anki hatte ebenfalls mit dem Gedanken gespielt, ihre wunderbare Stellung aufzugeben und Russland den Rücken zu kehren, aber sie war im Gegensatz zu ihrer jüngeren Halbschwester Demy kein bisschen abenteuerlustig. Fürst Chabenski und seine Frau hatten ihr versichert, dass sie ihre schützende Hand über sie halten würden. Niemand dürfe es wagen, gegen eine ihrer Angestellten zu agieren, gleichgültig, welcher Nation sie entstammte. Immerhin fand sich im Ahnenregister der Fürstin der eine oder andere deutsche Name.

Eigentlich wollte Anki sich eher auf die schützende Hand Gottes verlassen, sie konnte aber nicht umhin, die Zusage der Chabenskis als sehr beruhigend zu empfinden. Die Entscheidung zu bleiben war ihr letztlich leichtgefallen. Es existierte kein Ort mehr, an den sie zurückkehren konnte. Ihr Zuhause in den Niederlanden gab es nicht mehr, und der Ehemann ihrer Schwester Tilla, Joseph Meindorff, war ihr bei dem einzigen Besuch des Ehepaars hier in St. Petersburg zutiefst unsympathisch gewesen. Zudem beherbergten die Meindorffs seit dem Tod von Eric van Campen neben Demy, die eine etwas ungewöhnliche Stellung im Haushalt der Meindorffs innehatte, auch noch Rika und Feddo, Ankis jüngere Halbgeschwister. Sie durfte der Familie Meindorff nicht auch noch zur Last fallen, auch nicht für die Dauer der Zeit, die sie bräuchte, um eine Anstellung als Erzieherin zu finden.

Von dem durchdringenden Knallen kräftig aufgesetzter Stiefel aufgeschreckt drehte sie sich um und flüchtete an das Geländer der Brücke, auf der sie unterdessen angekommen war. Eine Brigade Soldaten in unscheinbaren Uniformen, mit Sturmgepäck, aber nicht vollständig bewaffnet, da sich die Rüstungsbetriebe mit der Produktion von Schusswaffen im Rückstand befanden, marschierte donnernden Schritts an ihr vorbei, die Augen starr geradeaus gerichtet, als sähen sie dort bereits die feindlichen Truppen.

Nachdem der letzte Mann vorüber war, der Staub sich allmählich legte und das Aufstampfen der Männerstiefel zwischen den Häuserschluchten verklang, entdeckte sie vor einem Café ihre Freundin Ljudmila Zoraw.

»Du bist spät«, rügte Ljudmila, begrüßte sie aber dennoch mit einer herzlichen Umarmung.

»Entschuldige bitte. Nina war heute sehr aufgeregt!«

»Das kann ich mir vorstellen«, lachte Ljudmila und hakte sich bei ihr unter. »Wie wird sie erst an ihrem achtzehnten Geburtstag sein?«

»Bis dahin bin ich vermutlich nicht mehr die Njanja der Chabenski-Mädchen.«

»Nein, sondern eine verheiratete Frau mit eigenen Kindern, nicht?«, zog Ljudmila sie auf.

Gemeinsam überquerten sie den von Soldaten, Kutschen, Pferden und vereinzelten Automobilen bevölkerten Boulevard und näherten sich dem Gostinyj Dvor. Die weiße Balustrade auf dem Flachdach hob sich in der Frühlingssonne scharf von der gelben Fassade ab, ebenso wie die weißen Umrahmungen der oben abgerundeten Fensterdurchlässe, die weißen Arkadeneinfassungen und die vier gewaltigen runden Säulen im Eingangsbereich.

Stimmengewirr und der Duft vielfältiger Waren begrüßten die beiden Frauen beim Betreten des sich über die Länge von einem Kilometer und zwei Stockwerke erstreckenden Warenhauses, das im Grunde ein gesamtes Wohnviertel für sich beanspruchte. Das exorbitant große Kaufhaus beherbergte eine unfassbare Anzahl an Marktständen. Die Budenreihen waren zwar nach den dort feilgebotenen Waren sortiert, jedoch verlor Anki sich regelmäßig in der Unübersichtlichkeit des Gebäudes.

Ljudmila hingegen liebte die laute Menschenmenge, die bunten Stände, die ihre Waren anpreisenden Kaufleute und Krämer. Bei Anki rief diese Vorliebe den Verdacht hervor, ihre Freundin, eine Hofdame der älteren Romanow-Töchter, benötige den Lärmpegel und das quirlige Durcheinander als Kontrast zu dem beschaulichen Leben mit der Zarenfamilie in den endlosen Gängen und weitflächigen Räumen der Paläste.

Nach rund einer Stunde wurde Anki das Gefühl nicht los, dass ihnen jemand folgte. In dieser Menschenmenge war das ein abwegiger Eindruck, dennoch betrachtete sie misstrauisch einen kleinen, drahtigen Mann mit einem grauen Hut, der ihr inzwischen mehrmals aufgefallen war. Ob dieser Kerl von der adeligen Familie Zoraw als unauffälliger Beschützer für Ljudmila abgestellt worden war?

Ihre Freundin blühte sichtlich auf. Gerötete Wangen schmückten ihr ansonsten so vornehm blasses Gesicht. Nachdem ein athletisch gebauter Russe mit wucherndem Bart und schwarzen, tief liegenden Augen Anki am Arm gepackt und zu seinem Stand mit schlecht gemalten Ikonen gezogen hatte, bat sie Ljudmila, das Gebäude verlassen zu dürfen. Eher widerwillig fügte die Freundin sich ihrem Wunsch. Es dauerte nahezu eine halbe Stunde, bis sie endlich auf den Nevskij Prospekt hinaustraten.

Anki beeilte sich, auch dem dortigen Trubel der an- und abfahrenden Kutschen zu entkommen. Erst in Höhe der Katharinenkirche beruhigten sich der Verkehr und auch Ankis Pulsfrequenz wieder, dafür lachte Ljudmila sie gutmütig aus. »Du magst keine Aufregung, nicht? Für dich muss alles geordnet und organisiert zugehen. Ist das dein deutsches Erbe?«

Bevor Anki ihr recht geben konnte, trat eine adrett gekleidete, junge Frau zu Ljudmila. Jevgenia Bobow befand sich in Begleitung einer Angestellten, und obwohl Ljudmila sich bei Anki untergehakt hatte, wurde diese von Jevgenia ignoriert. Taktvoll löste Anki sich von Ljudmila und trat an die Fassade des Kleinen Glinka-Saals, in dem im vergangenen Jahrhundert die interessantesten Bälle und Konzerte stattgefunden hatten. Ihre Augen folgten den marschierenden Soldaten, den vorbeiflanierenden Damen und Herren und ein paar Kindern in ärmlicher Kleidung, die es wagten, die Wege der Herrschaften zu kreuzen. Dennoch nahm Anki Gesprächsfetzen der Unterhaltung zwischen Jevgenia und Ljudmila wahr.

» … und er sagte, er habe dich ausdrücklich vor ihr gewarnt.«

»Ja, das tat er. Aber sosehr ich ihn auch verehre, von ihr geht nichts Schlechtes aus. Ich mag es nicht, wenn er diese schrecklichen Dinge über sie sagt.« Ljudmila klang trotz des Versuches, ihre Stimme zu dämpfen, außerordentlich aufgewühlt.

»Sein Eindruck trügt ihn also nicht: Du hörst mehr auf sie als auf ihn! Er bat mich darum, dass ich mit dir spreche und dich bitte, zu ihm zurückzukehren.«

»Ich versprach Anki, keinen Kontakt mehr mit ihm zu pflegen.«

Die Entgegnung Prinzessin Jevgenias entging Anki, da eine Kutsche vorbeifuhr und das Rattern der eisenbeschlagenen Räder laut in ihrer kleinen Nische widerhallte.

»Ach, ich weiß nicht recht«, hörte Anki Ljudmilas zögernde Erwiderung.

»Wir sind deine Freundinnen, Luda9«, schmeichelte die adelige Frau, »und das bereits seit langer Zeit. Und er ist unser gemeinsamer Freund. Vergiss das nicht!«

»Nein, bestimmt nicht.«

»Dann wirst du also kommen?«

Die sichtlich verunsicherte Ljudmila warf Anki einen Blick zu. Diese tat jedoch so, als sei sie vollkommen fasziniert von den Jongleuren, die inmitten des breiten Boulevards ihre Kunststücke vorführten.

Schließlich verabschiedete sich Jevgenia von Ljudmila, bedachte Anki mit einem abschätzigen Blick und schlenderte, gefolgt von ihrer Begleiterin, in Richtung Kaufhaus Gostinyj Dvor davon. Ein verlegenes Lächeln lag auf Ljudmilas Gesicht, als sie sich zu Anki umwandte. Gemeinsam setzten sie ihren Spaziergang fort.

»Du kennst Prinzessin Jevgenia Ivanowna Bobow, nicht wahr?«, versuchte Ljudmila ein Gespräch zu beginnen, während Anki sich mit einer Spur von Belustigung fragte, wie viele Barone, Grafen, Fürsten und Herzöge diese Stadt wohl hervorgebracht haben konnte. Gleich darauf jagte ihr die Erinnerung an ihr unheimliches Zusammentreffen mit Rasputin vor dem Palast der Bobows einen eisigen Schauer den Rücken hinunter. Obwohl das Erlebnis bereits sechs Jahre zurücklag, verspürte sie noch immer großen Widerwillen und Ekel vor diesem Mann. Mühsam versuchte sie die Beklommenheit abzuschütteln, die sie bei dem Blick in die Vergangenheit überfallen hatte, und stellte erleichtert fest, dass Ljudmila nur plaudern wollte.

»Sie ist mit den Chabenskis verwandt, wenn ich das richtig in Erinnerung habe«, fuhr Ljudmila fort.

Anki nickte nur, denn sie traute ihrer Stimme nicht. Welch großen Einfluss dieser Starez10 sogar auf Menschen wie sie ausübte, die nichts mit ihm zu tun haben wollten! Wie mochte das erst bei den Leuten sein, die sich ihm auslieferten: Ljudmilas Freundinnen, Damen des Adels, die Zariza?

»Was wolltest du noch gleich erledigen?« Ljudmilas einseitigem Redefluss entnahm Anki, wie stark die Konversation mit Jevgenia sie aufgewühlt hatte. Hatte sie etwa doch einem neuerlichen Treffen mit Rasputin zugestimmt? Dass der Starez Inhalt des Gesprächs der beiden Aristokratentöchter gewesen war, stand für Anki außer Frage. Dabei hatte Ljudmila ihr mehrmals versprochen, dem seltsamen Heiligen fernzubleiben. Das erste Mal nach seinem Angriff auf Anki und seinem verstörenden Besuch bei den Chabenskis. Nachdem Rasputins Ruf sich rasant verschlechtert hatte und er vom Staatssicherheitsdienst überwacht worden war, war er für etwa ein Jahr verschwunden. Anki hatte dies mit Erleichterung wahrgenommen. Seit Rasputins Rückkehr nach St. Petersburg im Jahr 1910 mehrten sich die Gerüchte über sexuelle Ausschweifungen, Misshandlungen und Prostituiertenbesuche. Diese Exzesse gaben dem Verdacht Auftrieb, er unterhielte auch sexuelle Beziehungen in den Adelskreisen – bis hin zur Zariza.

Nach jedem neuen Skandal, der durchsickerte, versprach Ljudmila, sich von ihm loszusagen. Doch seine Anziehungskraft auf ihre Freundin fiel kaum geringer aus, als das bei anderen Frauen der Fall war, und das Zarenpaar benötigte anscheinend Rasputins Hilfe bei ihrem an der Bluterkrankheit leidenden Thronfolger.

»Ludatschka …«

»Du wolltest zur Petrischule, nicht wahr? Komm, lass uns schneller gehen.« Die Russin zog Anki hinter sich her, bis sie zwischen zwei Häusern die zurückversetzt erbaute deutsch-protestantische Petrikirche mit ihren beiden quadratischen Türmen sahen. Sie lag wie die niederländische Kirche und andere nicht russisch-orthodoxe Gotteshäuser nördlich des Prospekts, wo ihre Errichtung erlaubt worden war.

Bald erreichten sie leicht außer Atem die deutsche Schule. Anki, die sich ebenso wie Tilla den Deutschen näher fühlte als Demy und die jüngeren Halbgeschwister, war in der Petrikirche und der Schule keine Unbekannte. Deshalb dauerte es nicht lange, bis Michael Maier, einer der Lehrer, eilends die Stufen hinunter in die Halle eilte, um die Frauen willkommen zu heißen.

Michael begrüßte Anki herzlich, Ljudmila eher zurückhaltend und bat sie, einen Augenblick zu warten, bis er das für Anki bereitgelegte Paket aus seinem Privatraum geholt hatte.

Ein fröhliches Kichern veranlasste Anki, sich zu der Freundin umzudrehen, sobald der schlanke Mann davongeeilt war. »Anki, der Gute ist ja ganz nervös in deiner Gegenwart. Vielleicht mag er dich ein bisschen?«

In Gedanken noch bei der Beziehung Ljudmilas zu Rasputin sagte Anki zerstreut: »Was du dir einbildest, Ljudmila! Soweit ich weiß, ist Michael Maier verlobt.«

Gerade eilte dieser die Stufen wieder hinunter und warf einen Blick auf Ankis abseits wartende Begleiterin. »Ist das nicht Komtess Zoraw?«

»Sie kennen Ljudmila Sergejewna?«

»Zu behaupten, dass ich sie kenne, wäre übertrieben. Ich wundere mich allerdings über Ihr Beisammensein.«

»Wir sind befreundet. Bereits in meiner ersten Woche in Petersburg ist sie mir bei den Chabenskis im wahrsten Sinne des Wortes über den Weg gelaufen. Die Folgen waren ein zersprungener Porzellanpuppenkopf, für den sie freundlicherweise aufkam, und eine Freundschaft, die wohl ihresgleichen sucht. Die Njanja und die Adelige.«

»Nun setzen Sie sich nicht so herab, Fräulein van Campen. Auch Sie gehören einer angesehenen Familie an, wenngleich durch den Tod Ihrer Mutter die Bande zu den Berliner Meindorffs ein Stück weit zerschnitten wurden. Außerdem sind Sie eine liebenswerte Person.«

»Ich danke Ihnen für das Kompliment.« Anki lächelte, warf dabei aber einen ungeduldigen Blick auf das in Papier eingeschlagene Buch in seinen Händen. Sie musste sich allmählich auf den Heimweg begeben, denn sie durfte bei der Geburtstagsfeier von Nina nicht fehlen.

»Ich frage mich nur …« Ihr Gesprächspartner stockte und sah erneut zu Ljudmila. Diese betrachtete die Ausstellungsstücke der Schüler in den Vitrinen entlang der Zimmerwand. Michael entschied sich zum Weitersprechen: »Fräulein van Campen, ich muss Sie warnen. Ljudmila Sergejewna Zoraws Name wurde im Rahmen einer Untersuchung des Staatssicherheitsdienstes mit diesem Mönch Rasputin in Zusammenhang gebracht.«

Ihr erschrockener Blick wanderte von ihm zu Ljudmila und wieder zu ihm zurück. Da sie wusste, dass er keiner dieser tratschenden Menschen war, die es in dieser Stadt zuhauf gab, brachten seine Worte ihr an diesem Tag ohnehin schon schwaches Nervenkostüm zum Flattern. »Die Ermittlungen des Staatssicherheitsdienstes gegen Rasputin sind intensiviert worden, und Ljudmilas Name fiel in diesem Zusammenhang? Wie kommen Sie an diese Information?«, fragte sie.

Michael rieb sich mit einer Hand über die Stirn, als versuche er, die Falten fortzuwischen. »Ihre Frage erschreckt mich. Dass Sie nicht zuerst erfahren möchten, wie der Name Ihrer Freundin überhaupt mit Rasputin in Zusammenhang gebracht werden konnte, zeigt mir, wie begründet der Verdacht der Staatssicherheit ist, und dass Sie, Fräulein van Campen, über das Verhältnis Rasputin-Zoraw Bescheid wissen.«

Anki ballte die Fäuste. So wie Michael es formulierte, klang es, als unterhalte Ljudmila eine Affäre mit Rasputin. Allein die Erinnerung an dessen stinkenden, ungewaschenen Körper ließ sie erschauern …

»Um Ihre Frage zu beantworten, Fräulein van Campen: Ein Ermittler stellte sich letzte Woche bei uns Vertretern der Petrigemeinde vor und wurde dabei erschreckend deutlich. Wir mussten eingestehen, dass Ljudmila Zoraw in Begleitung einer Deutschen, die regelmäßig unsere Gottesdienste besucht, in unseren Räumlichkeiten gesehen wurde. Allerdings gelang es uns, Ihren Namen außen vor zu halten.«

Anki schwieg betroffen. Der russischen Staatssicherheit wollte sie in keinem Fall auffallen. Vor allem nicht in diesen brisanten Kriegszeiten!

»Ihnen ist klar, dass Rasputin in hochrangigen Kreisen als ernst zu nehmende Bedrohung für die Zarenfamilie, das Regime, Petersburg und ganz Russland angesehen wird? Den adeligen Frauen, die sich wie Motten um das Licht um diesen Mann scharen, wird vonseiten der Staatssicherheit nichts geschehen. Aber wie es mit Angestellten aussieht, wage ich nicht zu prognostizieren, zumal Sie hier in Petersburg eher als Deutsche denn als Niederländerin gelten. Deshalb meine Warnung an Sie, verbunden mit der Bitte: Halten Sie sich von Rasputin fern – und von all denjenigen, die sich in seiner Nähe aufhalten!«

»Ljudmila pflegt seit ein paar Monaten keinen Umgang mehr mit diesem Mann, Herr Maier. Ich werde sie nochmals eindringlich vor ihm warnen. Vielen Dank für Ihre Offenheit.«

»Ich möchte nicht erfahren müssen, dass Sie in die Räder der hiesigen Polizeigewalt geraten sind. Gerechtigkeit ist auch in Russland ein dehnbarer Begriff, und ich kann Ihnen die Gefängnisse dieses Landes nicht als Aufenthaltsort empfehlen.«

Auf diese Bemerkung hin wagte sie ein zaghaftes Lächeln, das er erwiderte, ehe er ihr endlich das eigens für sie besorgte Buch reichte. »Ich weiß nicht, wie lange ich noch in Russland bleibe«, wechselte Michael zu einem nicht minder brisanten Thema.

»Die Zeiten sind gefährlich«, stimmte Anki zu. »Falls wir uns nicht mehr sehen, wünsche ich Ihnen eine sichere Heimkehr.«

Der Lehrer musterte sie einen Augenblick. Es schien, als müsse er erst sorgfältig abwägen, welche Worte er an sie richten solle. »Falls auch Sie den Wunsch verspüren, ins Deutsche Reich zurückzukehren, dürfen Sie Ihre Reise nicht mehr lange aufschieben.«

Anki bedankte sich für den Hinweis, drückte dem Mann die Rubel und Kopeken für das Buch in die Hand und eilte zurück zum Eingang, wo Ljudmila ungeduldig auf sie wartete.

Draußen begrüßte sie strahlender Sonnenschein und für einen Augusttag in St. Petersburg heiße 30 Grad. Anki blinzelte gegen das grelle Licht an und wünschte sich, sie könnte den Vormittag aus ihrem Gedächtnis löschen. Ohne ihr Zutun war das Gespenst Rasputin wieder unangenehm präsent in ihrem Leben geworden.

»Ich treffe mich gleich mit meinem Schneider, der die neue Winterkollektion für mich fertiggestellt hat. Die Kutsche wird bereits auf mich warten. Kommst du endlich oder soll ich dich mit diesem verliebten Lehrer allein lassen?«

»Ich muss zu Ninas Geburtstagsfeier. Wo wartet dein Wagen?«

»Natürlich vor der Brücke über die Mojka. Immerhin brauche ich dich als Begleitung. Im Gegensatz zu dir darf ich es mir nicht erlauben, allein durch Petersburg zu spazieren.«

Anki überhörte den Vorwurf in ihrer Stimme und unterdrückte auch die Überlegung, ob Ljudmila manchmal eifersüchtig auf ihr recht ungebundenes, selbstbestimmtes Leben war. Die Freundin unterlag dem strengen Zeremoniell des Zarenhofes und den Regeln des St. Petersburger Adels ebenso wie den Anweisungen, die sie zusätzlich von ihren Eltern und Großeltern auferlegt bekam.

Den Blick fest auf die glänzende goldene, sich nach oben verjüngende Spitze der Admiralität am Ende des Nevskij Prospekts gerichtet, erzählte Anki von Herrn Maiers Begegnung mit der Staatssicherheit. Sie kleidete die Nachricht in sorgfältig gewählte Worte, schließlich wollte sie die Freundin nicht verärgern und aus einer Trotzreaktion heraus erneut in Rasputins Nähe treiben. Ljudmila hörte ihr zwar aufmerksam zu, ihre zusammengekniffenen Augen zeigten indes deutlich, wie sehr ihr das Gehörte missfiel.

Bei Ljudmilas wartender Kutsche angelangt verabschiedeten sich die beiden Frauen voneinander. Während der Kutscher der Zoraws der Gräfin in das Gefährt half, bog Anki zu Fuß in die Straße entlang der Mojka ein. Dabei sah sie sich prüfend um und entdeckte tatsächlich einen kleinen Mann mit grauem Hut, der über den Nevskij Prospekt davoneilte. Fassungslos starrte sie der Gestalt nach. War er ihr und Ljudmila vom Kaufhaus bis zur Petrischule und anschließend hierher gefolgt? Gehörte er zur Staatssicherheit? Eine erneut aufflackernde innere Unruhe trieb sie mit schnellen Schritten voran, während sich die Gedanken in ihrem Kopf überschlugen.

Würde Ljudmila auf ihre Bitte hören und Rasputin fernbleiben? Wie schnell konnte die Staatssicherheit auf ihren Namen stoßen? Immerhin war Komtess Ljudmila Zoraw nicht eben mit vielen deutschstämmigen Frauen befreundet! Nach einer Begegnung mit den Beamten der Staatssicherheit stand Anki wirklich nicht der Sinn!

7 Kindermädchen, richtiger: Kinderschwester

8 Stadtteil, Bezirk

9 Luda und Ludatschka sind Koseformen des Namens Ljudmila. Die höfliche Anrede war damals der Vorname plus der Vatername. Bsp: bei Ljudmila: »Ljudmila Sergejewna«.

10 Heiler