Kapitel 23

Zarskoje Selo, Russland,
September 1914

Die runden, wuchtigen Säulen des Alexanderpalais hoben sich mit ihrer weißen Farbe deutlich vor der gelben Fassade ab und wirkten beinahe erdrückend auf Anki. Eingerahmt von dem u-förmigen Bau und einem kleinen See, auf dem ein paar Enten schwammen, saß sie auf einer Picknickdecke nahe dem Schilfgürtel. Vogelstimmen erfüllten die erstaunlich warme Herbstluft. Schmetterlinge und Libellen tanzten vielleicht zum letzten Mal in diesem Jahr über dem Teich, ehe Dunkelheit, Schnee und Eis von diesem Landstrich Besitz ergriffen. Ein kühler Windstoß ließ die Blätter der Bäume rascheln und setzte das Schilf in Bewegung.

Anki hatte sich um Ljudmilas willen bereit erklärt, den seit dem Blutsonntag20 bevorzugten Wohnsitz der Zarenfamilie aufzusuchen. Ihre Freundin sah sich noch nicht in der Lage, ihre Hofdamenstellung wieder aufzunehmen. Als Fürstin Chabenski ankündigte, sie habe eine Einladung in den Alexanderpalast erhalten, wünschte Ljudmila sich allerdings, die Zarentöchter zu besuchen.

Anki warf nur gelegentlich einen Blick zu der Zariza im Rollstuhl, ihrer Gesellschafterin Anna Wyrubowa und Fürstin Chabenski. Sie wusste um die überschwängliche Begeisterung der beiden Damen für Rasputin. Dieser Umstand hatte sie davon abgehalten, sich, wie von Alexandra Fjororowna Romanow vorgeschlagen, zu ihnen an den hübsch gedeckten Teetisch im Park zu gesellen. Dabei war die Einladung eine große Ehre für sie. Immerhin wusste Anki von Ljudmila, dass die Zariza die Zurückgezogenheit liebte, kaum Einladungen wahrnahm und sich nur im Kreise ihrer Familie wohlfühlte. Eine der wenigen Personen, die sie in ihrer Nähe duldete, war die Wyrubowa.

Anki, die sich damit entschuldigt hatte, auf die Kinder achtgeben zu müssen, saß auf ihrer Decke im Gras, spielte mit Katja und beobachtete nebenbei Jelena und Zarewna Anastasia. Die beiden Mädchen spielten am Teich. Bis zu den Knien standen sie im Wasser, wobei Anastasia ihr weißes Kleid mit einer Hand raffte, während Jelenas fliederfarbenes bereits einen nassen Saum aufwies. Beide stocherten mit Stöcken im aufgewühlten Grund herum. Ihrer Unterhaltung konnte Anki aus der Entfernung nicht folgen, doch sie schnappte abwechselnd russische, deutsche, englische und französische Brocken auf. Amüsiert schmunzelte das Kindermädchen in sich hinein. Die zwei temperamentvollen, sprachbegabten Mädchen hatten sich gesucht und gefunden.

Katja legte sich auf die Decke, den Kopf in Ankis Schoß gebettet, und beobachtete die gemächlich über ihnen dahinziehenden Schäfchenwolken. Das erlaubte dem Kindermädchen, sich nach dem zehnjährigen Zarewitsch umzuschauen. In Begleitung eines muskulösen Matrosen spazierte er am See entlang und sah dabei schrecklich gelangweilt aus. Für einen Jungen von zehn Jahren gab es sicherlich aufregendere Beschäftigungen, als an einem ihm nur zu vertrauten Teich Steine ins Wasser zu werfen! Alexejs dunkles Haar schimmerte leicht kupferfarben, wenn die Sonne darauf fiel, und sein schmales Gesicht ähnelte dem seiner Mutter. Der Begleiter des Jungen blieb stets in seiner unmittelbaren Nähe und ermahnte ihn immer wieder, langsamer zu gehen, auf Hindernisse zu achten und sich beizeiten etwas Ruhe zu gönnen.

Anki kannte das sich hartnäckig haltende Gerücht, Zariza Alexandra habe dem Thronfolger die in ihrer Familie auftretende Hämophilie21 vererbt. Seine Erkrankung und die damit verbundenen Sorgen waren vermutlich der Auslöser des Nervenleidens, das die Zariza gelegentlich, wie auch an diesem Tage, in den Rollstuhl zwang.

Fröhliches Mädchengelächter ließ Anki abermals den Kopf wenden. Untergehakt schlenderten Olga, Tatjana, Marija und Ljudmila auf sie zu. Alle vier trugen weiße, mit Rüschen verzierte Röcke und die ebenfalls weißen Blusen waren mit verschiedenfarbigen Schärpen um die Hüfte tailliert. Während Olga, Tatjana und Ljudmila sich mit ausladenden Hüten vor der Sonne schützten, bevorzugte die einstmals etwas pummelige, sanfte, jedoch durchaus kokette Marija, die in den letzten Jahren zu einer wahren Schönheit herangereift war, einen Sonnenschirm. Die vier Damen unterhielten sich auf Russisch, während sie zuvor mit der britisch-deutschstämmigen Zariza Englisch gesprochen hatten.

Olga, mit ihren 18 Jahren die Älteste der Geschwister und Ljudmila am meisten zugetan, flüsterte mit der Gesellschafterin. Die Mädchen blickten zu Anki und steuerten die Picknickdecke an. Anki wollte sich erheben, um die Großfürstinnen angemessen zu begrüßen, doch Katja war in ihrem Schoß eingeschlafen.

»Weck das Kind nicht, Njanja Anki. Bleib bitte sitzen.« Olga löste sich von Ljudmila und unterstrich ihre Worte mit einer grazilen Handbewegung.

Anki lächelte und bedankte sich mit einem Nicken. Die vier Mädchen setzten sich auf die rot-weiß karierte Decke. War sie zu Beginn noch zurückhaltend, was ihre Beteiligung an dem Gespräch betraf, so fühlte Anki sich von Minute zu Minute wohler mit den jungen Damen. Die Großfürstinnen wurden im privaten Rahmen des Alexanderpalastes nicht mit ihrem Titel, sondern einfach mit ihrem Vor- und Vaternamen angesprochen und hielten es für selbstverständlich, dass auch Anki dies so handhaben solle. Die Unterhaltung wechselte zwischen leichten Themen, wie der Kunst, ihrer Vorliebe für Mode, über Hunde und Pferde auch zu schwereren Inhalten wie dem Krieg und der Arbeit der zwei älteren Zarewnas als Rotkreuzschwestern in den mit Verwundeten überfüllten Krankenhäusern.

Ganz plötzlich, mitten im Satz, stockte Tatjana. Erschrocken riss sie ihre Augen auf. »Das Baby!« rief sie heiser.

»Aljoscha?« Olga rappelte sich auf die Knie und erhob sich eilends. Auch Anki drehte sich zum See um und sah noch, wie der kräftige Matrose Alexej behutsam vom Boden aufhob und in Richtung der sich mühsam aus ihrem Rollstuhl stemmenden Zariza trug. Die blanke Panik stand der Monarchin ins Gesicht geschrieben.

Die drei Großfürstinnen stürmten dem Marinesoldaten entgegen. Auf Olgas entsetztem Gesicht begannen die ersten Tränen zu glitzern. Ljudmila griff nach Ankis Hand.

Ein zweiter Schreckensschrei ließ Anki erneut den Kopf drehen. Unter heftigem Aufspritzen verschwand Jelena im Wasser, während Anastasia sich abwandte und mit dem nassen, an ihren Beinen klebenden Rock schwerfällig aus dem See und zu ihrem Bruder strebte.

Anki wollte zu ihrem Schützling eilen, doch Ljudmilas Griff um ihr Handgelenk hielt sie davon ab. »Ljudmila, lass mich bitte los«, bat sie die starr geradeaus blickende und am ganzen Leib zitternde Freundin. Nahm der eigentlich unbedeutende Sturz des Zarewitsch sie so sehr mit? Im Moment hatte Anki keinen Sinn für Ljudmilas Nöte, denn Jelena war noch immer nicht wieder aus dem Wasser aufgetaucht. Nur der aufgebauschte, fliederfarbene Stoff ihres Kleides tanzte zwischen den winzigen Wellen auf und ab. Weshalb kam die Kleine nicht mehr hoch? Wie lange konnte das Kind den Atem anhalten?

Panik drohte Anki zu überrollen. »Lass mich los, Ljudmila!« Ankis Befehlston bewirkte nur, dass ihre Freundin sich noch fester an sie krallte.

»Sie werden ihn holen. Sie werden ihn hierherholen«, stammelte Ljudmila.

Endlich durchbrach ein nasser Kinderkopf die trübe Wasseroberfläche. Anki stieß vor Erleichterung einen verhaltenen Schrei aus. Mit aufgerissenen Augen und weit aufgesperrtem Mund schnappte Jelena nach Luft. Endlich gelang es Anki, sich gewaltsam von Ljudmila loszureißen. Unsanft schob sie die erwachende Katja von sich, raffte ihren Rock und rannte zum See. Mitsamt Schuhen und Strümpfen lief sie ins aufspritzende Wasser hinein und zog das zitternde, orientierungslos wirkende Mädchen in ihre Arme.

»Anki, Anki.« Das Kind weinte und barg den Kopf am Hals des Kindermädchens.

»Es ist alles gut, Jelena«, versuchte Anki sie zu beruhigen. Unbeholfen, da der Rock sich hinderlich um ihre Beine wickelte und sie in dem aufgewühlten Wasser den Grund nicht sehen konnte, tastete sie sich zum Ufer vor. Dort ließ sie sich mit dem Mädchen zu Boden sinken.

Jelena löste ihre Arme von Ankis Nacken und schaute sie von vereinzelten Schluchzern geschüttelt an. »Warum mögen die Mädchen mich nicht? Weshalb sind sie böse zu mir? Ich tue ihnen doch nichts!«

»Ich verstehe nicht, was du meinst.«

»Anastasia hat mich gestoßen, sodass ich ins Wasser fiel. Und Raisa damals …«

Anki hob eine Hand, um das Kind zum Schweigen zu bringen. »Jelena, der Bruder von Anastasia Nikolajewna ist gestürzt. Die Zarewna ist darüber sehr erschrocken und da wollte sie schnell aus dem Wasser. Vielleicht hat sie dich dabei versehentlich geschubst.«

»Vielleicht«, murmelte Jelena, schüttelte dabei aber den Kopf, als glaube sie das selbst nicht.

»Und was war mit Raisa?«, hakte Anki nach.

»Sie hat mich bei Ninas Geburtstagsparty absichtlich gegen die Statue gestoßen. Deshalb habe ich mir das Schlüsselbein gebrochen.«

»Irrst du dich auch nicht, meine Kleine? Ihr habt recht wild getanzt. Die Mädchen zogen und zerrten an dir. Raisa stand doch abseits und sah euch zu.«

»Sie hat mich gestoßen!«, beteuerte Jelena und befreite sich aus Ankis Armen.

Jelena benahm sich gelegentlich unbändig und forsch, jedoch nicht unhöflich. Es gab keinen Grund, weshalb Raisa oder gar die Zarewna sie absichtlich zu Fall bringen sollten – obwohl Ljudmila Anastasia ab und zu als dickköpfig und böswillig bezeichnet hatte.

Anki erhob sich und besah kritisch ihren nassen, ehemals mintfarbenen Sommerrock. Ob sie in dieser Aufmachung den Palast betreten durfte? Ihr Blick glitt über die Decke, vorbei an den verwaisten Stühlen zu den Ehrfurcht gebietenden korinthischen Rundsäulen, die aussahen, als wollten sie ihr den Zutritt zum Palais versperren. Aber Fürstin Chabenski, die Zariza und die Hofdame Wyrubowa waren mitsamt dem Thronfolger und den Großfürstinnen im Inneren des Respekt einflößenden Gebäudes verschwunden.

»Dürfen wir einfach hineingehen, Jelena? Was meinst du?«

»Warum denn nicht? Das Haus ist doch winzig und primitiv gegen das Winterpalais oder das Katharinenpalais hier in Zarskoje Selo!« Jelena sah sie mit ihren großen Kirschaugen verständnislos an, ergriff energisch ihre Hand und zog sie mit sich in Richtung des linken Treppenaufganges. Ohne von den beiden Wächtern aufgehalten zu werden traten sie ein.

Anki überließ sich vollkommen Jelenas Führung. Entweder war das Mädchen früher schon einmal im Alexanderpalais gewesen, oder es verfügte über einen exzellenten Orientierungssinn, denn innerhalb kürzester Zeit befanden sie sich in dem den Kindern vorbehaltenen linken Wohnflügel. Zusammen betraten sie das mit allerlei Krimskrams vollgestellte Rote Wohnzimmer22. Der Raum war mit seinen exklusiven Möbeln, dem Piano, dem großen Porträt von Großherzogin Alice von Hessen und bei Rhein, den mit Blumen bedruckten Tapeten und Vorhängen und den weiß und scharlachrot geblümten Sofa- und Sesselbezügen für Ankis Geschmack entschieden zu überladen. Hier hielten sich Fürstin Chabenski, Katja und Nina gemeinsam mit der Hofdame Wyrubowa und den beiden jüngeren Romanow-Schwestern auf. Ihnen gegenüber lag eine lang gezogene Zimmerflucht. Durch die offen stehenden Türen konnte Anki einen Blick in die verschiedenen Räume der Zarenkinder bis in das weit entfernte Spielzimmer des Zarewitschs werfen.

Bedrückende Stille herrschte, einzig unterbrochen von dem metallischen Ticken der Uhr auf einer Kommode. Ein Dienstmädchen trat unaufgefordert ein und wickelte Jelena in eine Decke. Anschließend reichte sie Anki ebenfalls ein Exemplar, wobei sie tief knickste, was das Kindermädchen verlegen stimmte. Ihr war nicht kalt, jedoch bedauerte sie die Tropfspuren und unschönen Wasserlachen, die Jelena und sie auf dem Teppichboden hinterließen, während sie hinüber zu den beiden erwachsenen Frauen gingen.

»Wie geht es dem Zarewitsch?«, fragte sie auf Russisch, da sie die anwesende Hofdame und Freundin der Zariza nicht aus dem Gespräch ausschließen wollte.

»Bis jetzt noch gut, doch die schrecklichen Schmerzen kommen oft von einer Sekunde auf die andere. Und dann diese Verfärbungen …« Hofdame Wyrubowa verstummte abrupt. In ihrem runden glänzenden Gesicht zeigte sich ein Anflug von Entsetzen. Ihr war wohl in Erinnerung gekommen, dass die Erkrankung des Thronfolgers nicht thematisiert werden sollte.

Fürstin Chabenski legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm. »Njanja Anki ist eine vertrauenswürdige Person, Anna Alexandrowna.«

Die Wyrubowa lächelte Anki unsicher an und rieb nervös mit den Händen über die Stuhllehnen. Ein lautes Poltern aus der Zimmerflucht ließ sie alle aufschauen. Ein wirbelndes weißes Kleid erschien in ihrem Blickfeld, und gleich darauf erkannten sie die zierliche Tatjana. Sie umklammerte die verschnörkelte Türklinke des Roten Wohnzimmers und beugte sich vornüber, als leide sie Schmerzen, ehe sie ihnen zurief: »Vater Grigori weilt nicht mehr in Petrograd, wurde uns gesagt. Er verließ die Stadt ohne Angabe, wohin er reist und wann er zurückzukommen gedenkt.«

Bei den Worten der Großherzogin wich das unbehagliche Gefühl, das Anki den ganzen Tag über geplagt hatte. War ihre Angst davor, den Starez im Umfeld der Zarenfamilie anzutreffen, denn so ausgeprägt? Ljudmila würde bestimmt ebenso erleichtert auf die Nachricht reagieren, dass Rasputin Petrograd wieder einmal den Rücken gekehrt hatte. Anki richtete sich auf und blickte sich um. Wo hielt Ljudmila sich überhaupt auf? Vorhin hatte Ljudmila einen vollkommen aufgelösten Eindruck gemacht. Dass die Zariza nach einem Sturz ihres Sonnenscheins Rasputin rufen lassen würde, musste ihre Freundin vorausgesehen haben. Daher war es unwahrscheinlich, dass sie sich in der Nähe des Zarewitsch aufhielt.

Das Kindermädchen wandte sich an die Fürstin. »Hoheit?« Der besorgte Blick ihrer Arbeitgeberin folgte der davoneilenden Großherzogin, dennoch sprach Anki weiter. »Ich würde gern nach Ljudmila Sergejewna sehen.«

»Nach Ljudmila Sergejewna?« Fürstin Chabenski schaute sie einen Moment verwirrt an, bis sie die Zusammenhänge begriff. Sie hatte vermutlich nie an den Schwindel geglaubt, die Komtess sei erkrankt. »Ja, gehen Sie nur das arme Kind suchen.«

Prüfend sah das Kindermädchen sich um. Neben der Hofdame Wyrubowa und der Fürstin standen zwei Lakaien und zwei Dienstmädchen in Habachtstellung. Damit wusste Anki die Kinder gut beaufsichtigt. Sie legte die feuchte Decke beiseite und huschte zu einer Zimmertür, in der Hoffnung, aus dem Flur zurück in den Garten zu finden. Ihr nasser Rock behinderte sie beim Gehen. Also beugte sie sich leicht vornüber und hob ihn an, ohne dabei stehen zu bleiben. Prompt stieß sie in der Tür mit jemandem zusammen. Da sie in einem Adelshaus mit hochrangigen Persönlichkeiten rechnen musste, hob Anki erschrocken den Kopf – und blickte in das besorgte Gesicht von Dr. Botkin, einem der Leibärzte der Romanows.

»Vorsichtig, junge Dame. Wir sind mit unserem Patienten ausgelastet«, sagte er freundlich.

Anki wich zurück und ließ auch den Chirurgen Derevenko passieren. Der nächste Mann, der ihr in den Weg trat, war Robert. Sein Gesicht, nicht weniger ernst als das seines Mentors Dr. Botkin, erhellte sich bei ihrem Anblick. Forschend wanderte sein Blick über sie und verharrte auf ihrem verschmutzten Rock. »Ist Ihnen etwas zugestoßen?«, fragte er leise und ergriff sie beinahe zärtlich am Oberarm.

»Mir geht es gut, Dr. Busch. Jelena ist ins Wasser gefallen. Ich musste sie herausholen und wurde dabei gründlich nass.«

»Meine kleine Jelena schon wieder?« Robert suchte mit den Augen die Anwesenden ab und entdeckte das fast vollständig in ihre Decke eingehüllte Mädchen. »Ich sehe sie mir mal an. Kommen Sie?«

Anki widerstand dem leichten, auffordernden Druck seiner Hand. »Ich muss Ljudmila Sergejewna suchen. Sie fürchtete wohl eine Begegnung mit Rasputin.« Ihre Entgegnung war nicht mehr als ein verhaltenes Flüstern.

»Robert?« Dr. Botkin sah ihn fragend an.

»Einen Augenblick bitte, Exzellenz. Ich komme sofort nach.«

»Sie kennen ja den Weg.«

Robert deutete Anki mit einer Kopfbewegung an, dass er mit ihr den Raum verlassen wollte. Sie folgte seiner Aufforderung und drehte sich im Flur zu ihm um.

»Rasputin verließ vor einigen Wochen auf Anraten des Zaren die Stadt«, erklärte er. »Nach dem Attentat auf ihn in seiner Heimatstadt einen Tag nach dem Mord am österreichischen Thronfolgerpaar, bei dem er lebensgefährlich verletzt wurde, folgte eine lange Rekonvaleszenz. Aus dieser heraus nahm seine Einmischung in die Politik erneut zu. Während der Unruhen vor und nach Kriegsbeginn schickte er dem Zaren etwa zwanzig Telegramme mit seinen Ratschlägen. Dies war selbst für den gutmütigen Nikolaj Alexandrowitsch nicht mehr tolerierbar. Sagen Sie das bitte Komtess Ljudmila Sergejewna.«

»Sie wird es mit Erleichterung aufnehmen. Vielen Dank, Dr. Busch.«

Anki sah an dem Arzt vorbei den endlos erscheinenden Flur entlang. Sie wusste von mehreren Attentatsversuchen im Jahr 1913 auf Rasputin. Dieser Mann spaltete das Land mit ebenso unvorhersehbaren Folgen wie die Kluft, die die reichen Adeligen von der verarmten und ausgebeuteten Bevölkerung trennte.

»Wie geht es Ihnen, Fräulein van Campen? Machen Ihnen noch Kopfschmerzen zu schaffen?«

»Kaum noch, vielen Dank der Nachfrage. Nur gelegentlich verspüre ich abends nach einem anstrengenden Tag einen leichten Druck oder ein unangenehmes Pochen in der Stirn.«

»Unterlassen Sie bitte in nächster Zeit wilde Kletterpartien mit Jelena. Ansonsten bin ich mit meiner Patientin sehr zufrieden«, sagte Robert lächelnd, nahm ihre Linke und drückte sie behutsam.

Anki kämpfte darum, sich durch das heiße Kribbeln in ihren Fingern und das aufgeregte Flattern in ihrem Bauch nicht durcheinanderbringen zu lassen. »Ich hatte einen hervorragenden Arzt. Und ich möchte Ihnen noch meinen herzlichen Dank für den wunderschönen Fliederstrauß aussprechen.«

»Er trug zweifellos entscheidend zu Ihrer raschen Genesung bei.« Ihr Gesprächspartner zwinkerte verschwörerisch.

Da seine Berührung sie zutiefst verwirrte, wollte Anki dem Mann ihre Hand entziehen, zumal sich ihnen jemand im Laufschritt näherte. Robert blickte ebenfalls alarmiert über sie hinweg.

»Der Zar«, flüsterte er ihr warnend zu.

Sie sank umgehend in einen Knicks, der dank ihres nassen Rocks reichlich unelegant geriet. Doch Zar Nikolaj schenkte den beiden jungen Leuten ohnehin keine Beachtung. Mit verzerrtem Gesicht eilte er an ihnen vorüber zum Schlafraum seines Sohnes.

Robert behielt Ankis Hand weiterhin in der seinen und stand aufregend dicht vor ihr. Ihr Herzschlag beschleunigte sich.

»Ich muss jetzt zu Alexej Nikolajewitsch. Es ist möglich, dass ich mehrere Tage im Palais verbringe. Wie lange werden Sie und die Chabenskis in Zarskoje Selo sein?«

»Wir genießen bestimmt noch zwei, drei Wochen die Landluft«, erwiderte sie kaum vernehmbar.

»Darf ich Sie besuchen?«

Einen Moment lang zögerte sie. War sie bereit, einen offiziell angekündigten Besuch zuzulassen? Denn das bedeutete, ihm gegenüber einzugestehen, wie gern sie ihn hatte und wie wohl sie sich in seiner Gegenwart fühlte. Sein Händedruck wurde fast unmerklich kräftiger, dennoch spürte sie es mit jeder Faser ihres Körpers. »Wenn meine Aufgaben es zulassen, gern«, erwiderte sie schließlich, nachdem sie gedanklich ein Stoßgebet zu Gott gesandt hatte, weil sie keine falsche Entscheidung treffen wollte.

***

Das Wasser in den Kanälen, Bachläufen und Seen leuchtete mit dem Blau des Himmels um die Wette. Grillen zirpten, Vögel sangen und aus einem Baum drang das Klopfen eines Spechts. Der Wind trieb weiße Schäfchenwolken über die raschelnden, bereits bunt verfärbten Bäume hinweg und die Herbstblumen wiegten sich sanft im Takt ihrer Melodie.

Anki genoss für ein paar Augenblicke die friedliche Schönheit der Parkanlage beim Alexanderpalais. Dabei war es für sie unvorstellbar, dass Alexej womöglich gerade unter schrecklichen Schmerzen litt. Auch das Schicksal von Ljudmila, die von Erinnerungen an eine Nacht gequält wurde, die sie noch immer nicht rekapitulieren konnte, war ebenso schwer nachzuvollziehen wie die Tatsache, dass sich viele Kilometer entfernt soeben viele Tausende junger Männer gegenseitig zu töten versuchten.

Nur widerwillig zwang sie sich in die Gegenwart zurück und sah sich suchend um. Wohin war Ljudmila geflohen? In Richtung der Stallungen und des Elefantenhauses? Ihre Freundin hatte ihr von dem weitläufigen Park mit seinem Zoo, den Pferdeställen, dem Chinesischen Theater und der kleinen Insel inmitten eines Teichs erzählt, die Kinderinsel genannt wurde. Anki, die nicht wusste, ob der ganze Park öffentlich zugänglich war, schlug die Befürchtung, man könne sie als Eindringling betrachten, in den Wind. Sie eilte über eine der vielen Brücken, die sich über die künstlich angelegten Kanäle spannten, und bestaunte die knorrigen Baumbestände, deren Äste bis fast hinunter auf den gepflegten Rasen reichten. Prächtige Herbstfarben hüllten sie ein, doch im Schatten der Baumgiganten begann Anki zu frösteln, zumal ihre Kleidung noch immer nicht völlig getrocknet war.

Schließlich fand sie sich an einer Schleuse ein, die das Wasser des Krestovy-Kanals in einen Teich lenkte. Ein Palisadenzaun versperrte ihr den Weg und vermittelte den Eindruck, einen privaten Parkabschnitt vor sich zu haben. Sie wollte soeben auf den Spazierpfad einbiegen, als sie über den niedrigen Zaun hinweg etwas Weißes im dichten Buschwerk entdeckte. War das Ljudmilas Kleid? Hatte sie sich in den Garten der Romanows zurückgezogen?

Unsicher schaute das Kindermädchen sich um. Niemand war zu sehen, den sie hätte fragen können, ob sie das umzäunte Grundstück betreten durfte.

»Ludatschka?«, rief Anki halblaut über den Zaun, erhielt jedoch keine Antwort. Nochmals blickte sie sich nach allen Seiten um, ehe sie kurzerhand ihren feuchten Rock anhob, auf einen Baumstumpf kletterte und über die Palisade sprang. Sie landete unglücklich in dem von Sträuchern, heruntergefallenen Ästen und Wurzeln bedeckten Boden und stürzte beinahe in den Zufluss zum Teich. Gerade noch rechtzeitig umfing sie mit beiden Armen einen knorrigen Baumstamm, dessen raue, stellenweise aufgeplatzte Rinde ihr die Arme und das Gesicht zerkratzte.

Mit einem unwilligen Seufzer ordnete sie eilig ihre Kleidung und schalt sich selbst: »Ich verhalte mich schon wie Demy!«

Nachdem sie sich prüfend umgesehen und festgestellt hatte, dass niemandem ihr Eindringen aufgefallen war, stapfte sie durch das Unterholz zu einem schmalen Fußpfad. Das Laub unter ihren Schuhen raschelte laut. Ein paar Steinstufen führten zu einer Anlegestelle, auf der zwei Steinquader rund einen Meter in die Höhe ragten und sich im Teichwasser spiegelten. Ihre Pendants befanden sich am gegenüberliegenden Ufer auf der Kinderinsel. Hinter der Anlegestelle auf der Insel und überschattet von Bäumen versteckte sich ein in Weiß und Mint gehaltenes Gebäude, das der Zarenfamilie vermutlich als Gartenlaube diente.

Anki presste die Lippen zusammen. Das Ruderboot, mit dem man, wie sie annahm, auch vorn an der Schleuse auf den Kanal gelangte, lag auf ihrer Teichseite. Es war mit einem derben Tau an dem rechten Steinquader festgebunden. Demnach hatte Ljudmila nicht auf die Insel übergesetzt.

Verhalten, da sie nicht zu viel Aufmerksamkeit erregen wollte, rief sie den Namen der Freundin, erhielt aber keine Antwort. Hatte sie sich geirrt und den weißen Anstrich des Gebäudes zwischen den Baumstämmen und dem bunten Laub für Ljudmilas Kleid gehalten?

Zögernd und zunehmend von Sorge um ihre Freundin ergriffen ging sie ein paar Schritte den Fußpfad entlang. Als sie einen Schuhabdruck im morastigen Boden entdeckte, eilte sie zwischen den Bäumen, Sträuchern und Blumen hindurch, bis der Pfad sie zurück an den Teich führte. Hohes Schilf begrenzte an dieser Seite das Ufer.

Anki trat ans Wasser und schrak zurück, als einige Mandarinenten flügelschlagend und laut schnatternd flüchteten, als schimpften sie über ihr unerlaubtes Eindringen. Eine Bewegung am äußersten Rand des Schilfgürtels ließ Ankis galoppierenden Herzschlag nicht zur Ruhe kommen. Sie verließ den Pfad und folgte den frischen Schuhabdrücken, bis sie in einer Lücke im Schilf Ljudmila entdeckte. Diese hockte zusammengekauert auf einem umgestürzten Baumstamm, dessen blätterlose Äste weit in den Teich hineinragten. Zuerst glaubte Anki, Ljudmila betrachte missmutig ihre verdreckten Schuhe, doch als ihre Freundin den Kopf hob, glänzte ihr Gesicht tränennass.

»Geht es ihm gut?«, brachte Ljudmila mühsam hervor.

»Alexej Nikolajewitsch? Ich weiß nicht. Als ich losging, um dich zu suchen, trafen gerade Dr. Botkin, Dr. Derevenko und Dr. Busch ein.«

»Er wird mit ihnen streiten!«

»Wer? Dr. Botkin?«

»Grigori.«

»Rasputin streitet mit … mit …?« Anki stotterte bei der Vorstellung, dass dieser ungehobelte Mann mit den Ärzten und dem Zaren stritt. »Ludatschka, Rasputin ist nicht hier. Der Zar hat ihn bereits vor Wochen aus Petrograd verbannt.«

»Jetzt wird es ihm leidtun.«

»Wegen des Zarewitsch?«

Ljudmila blieb ihr eine Antwort schuldig. Da ihr Kostüm ohnehin verdreckt war, hob Anki ihren Rock an und setzte sich neben die Freundin auf den mit Moos bewachsenen Baumstamm. Deutlich spürte sie Ljudmilas Zittern und legte fürsorglich einen Arm um sie.

»Hast du gehört, was ich gesagt habe? Rasputin kommt nicht her. Du brauchst dich also vor einer Begegnung mit ihm nicht zu fürchten.«

»Ja?« Ljudmilas Zittern verstärkte sich. Dann stieß sie plötzlich hervor: »Er ist immer da. Immer! Ich werde ihn nicht los! Niemals wieder!« Die letzten Worte schrie Ljudmila förmlich heraus.

Entsetzt drückte Anki die Freundin an sich. Wenn sie sich doch wenigstens erinnern könnte – vielleicht wäre das eine Hilfe. Womöglich bedeuteten Ljudmilas Gedächtnislücken aber auch einen Schutz für ihre Seele, weil sie Grausames gesehen und erlebt hatte.

»Überall dieses Blut«, flüsterte Ljudmila.

Anki strich ihr sanft ein paar aus der Frisur gelöste Haarsträhnen aus dem schmal gewordenen Gesicht. Nur ungern erinnerte sie sich an die großflächigen Blutflecke auf Ljudmilas Kleid. Ohnehin war ihr der Besuch bei Rasputin als grauenvoll in Erinnerung geblieben. Wie groß war ihre Erleichterung gewesen, als unverhofft Robert im Schlafzimmer des Starez gestanden hatte!

Anki hob den Kopf und blickte in Richtung Alexanderpalast, in dem sie den sympathischen Arzt wusste. Sie fühlte in sich eine beinahe schmerzhafte Sehnsucht nach seiner warmen Stimme, nach seinem freundlichen Lächeln und seiner beruhigenden Gegenwart. Seufzend blinzelte sie gegen die Sonnenreflexionen auf der grünen Wasseroberfläche an und versuchte, Robert aus ihrer Gedankenwelt zu vertreiben, was ihr jedoch nicht vollends gelang. Er schien stets präsent zu sein.

Wie Rasputin bei Ljudmila …? Ein eiskalter Schauer schüttelte Anki. Wie entsetzlich war allein der Gedanke, diesen grässlichen Mann immerzu vor seinem inneren Auge zu sehen, ihn nicht aus dem Gedächtnis verbannen zu können! Ljudmila musste es schrecklich ergehen!

Erst in diesem Augenblick erfasste Anki den Grund von Ljudmilas Wesensveränderung, als hätten die raschelnden Schilfhalme und die ans Ufer glucksenden Wellen es ihr zugeflüstert. Ihre Zurückgezogenheit, ihre langen Phasen des Grübelns, ihre Schlaflosigkeit und ihre verbalen Angriffe gegenüber den Menschen, die sie eigentlich liebte, waren die Folgen ständiger Angst und Verzweiflung. Ljudmila war die Gefangene einer beängstigenden Horrorvision, in der es ihr nicht gelang, die Wahrheit von verzerrten Trugbildern zu trennen. Und niemand, nicht einmal Anki, konnte in diese dunkle Welt eindringen und ihr helfen, das eine vom anderen zu unterscheiden!

»Wollen wir nachsehen, wie es Alexej geht?«, sprach Anki Ljudmila nach einer geraumen Zeit des Schweigens an. Vielleicht vermochte die Sorge um den Thronfolger Ljudmila von ihrem eigenen Kummer abzulenken.

»Der arme Aljoscha!«, murmelte sie prompt und erhob sich. Untergehakt kletterten die Frauen auf den Pfad zurück. Erneut herrschte Schweigen zwischen ihnen, sodass die Geräusche des Parks fast überlaut wirkten. Erst als sie bei der Anlegestelle ankamen, wagte Anki einen neuen Versuch, Ljudmila aus ihren trüben und schmerzlichen Gedanken zu reißen.

»Was ist das für ein Haus? Nutzen es die Zarenkinder?«

»Dieser Pavillon beherbergt ein Malzimmer und vier kleine Räume. Sie werden teils von den Kindern, teils von der Zariza genutzt«, erklärte Ljudmila, ohne dem Gebäude, das sich im grünen Wasser des Teiches spiegelte, einen Blick zu gönnen.

Nachdem sie diesen Teil des Parks durchquert hatten, kehrten die Freundinnen innerlich zutiefst aufgewühlt in das Rote Wohnzimmer zurück.

Fürstin Chabenski erhob sich, kaum, dass sie die beiden erblickt hatte, und verabschiedete sich höflich von Anastasia, Marija und der Hofdame Wyrubowa. Sie bat Anki kurz, ihre Töchter hinauszubegleiten. Ganz offensichtlich wollte sie den Palast schnellstmöglich verlassen. Beunruhigt über die Eile, die ihre Arbeitgeberin an den Tag legte, sammelte Anki ihre Schützlinge ein und verließ als Letzte den Raum. Sobald sie ins Freie getreten war und die spätnachmittäglichen Sonnenstrahlen angenehm ihr Gesicht streichelten, fühlte sie sich befreiter.

Auch Fürstin Chabenski atmete hörbar auf und wandte den Blick hinüber zu den Fenstern des linken Wohnflügels. »Sie haben diesem Rasputin telegrafiert und ihn angefleht, aus der Ferne für Alexej Nikolajewitsch zu beten und zu ringen. Er wird dies als eine Einladung verstehen zurückzukehren!«

Entsetzt sah Anki die Fürstin an. In Petrograd und, wie sie hörte, auch andernorts, brach der Protest gegen den Krieg vehement auf. Der Auftakt der kriegerischen Auseinandersetzungen hätte für Russland kaum desaströser ausfallen können. Teilweise unbewaffnet, da es an Material fehlte, war das gewaltige Heer in Richtung Westen aufgebrochen, nur um bei Tannenberg verheerende Verluste hinnehmen zu müssen. Der leitende General der vernichtend geschlagenen 2. Armee, Samsonow, hatte Selbstmord begangen, 125.000 Russen waren in Gefangenschaft geraten. Vielleicht war es ein Hintergedanke der russischen Elite gewesen, durch den Krieg die Sozialisten kleinzuhalten; ihnen den Wind der Revolution aus den Segeln zu nehmen. Allerdings machte es nicht den Eindruck, dass ihnen dies gelang. Vielmehr erwachte aus der bisher im Untergrund schwelenden Glut nun eine drohende Feuersbrunst.

Wenn Rasputin jetzt zurückkehrte, um erneut Einfluss auf die Zariza und den Zaren auszuüben, könnte neben dem Hass der Sozialisten auf ihren Autokraten und dessen adelige Gefolgschaft ein zweiter Kampfschauplatz innerhalb des Zarenreiches entstehen: Dieser »Krieg« würde von dem einen oder anderen Aristokraten bestritten werden, die zumeist zur Regierung oder zum Militär gehörten, und sich gegen Rasputin richten!

Anki stieg mit Ljudmila in die zweite Kutsche der Chabenskis. Da ihre Begleiterin weiterhin in düsterem Schweigen verharrte, hing Anki ungestört ihren Gedanken nach, die nicht unbedingt angenehmer Natur waren. War sie dabei, einen Fehler zu begehen, indem sie noch länger in Russland blieb, selbst wenn die Chabenskis ihr Schutz zugesagt hatten? Sollte sie nicht wie viele andere Deutsche Petrograd lieber den Rücken kehren und nach Hause gehen?

Ein Seufzer entrang sich ihrer Kehle. Es gab für sie kein Zuhause mehr. Der Gutshof in Koudekerke war verkauft, die Geschwister lebten in Berlin, wobei Demy ihr in den vergangenen Jahren immer wieder geschrieben hatte, wie wenig willkommen sie sich dort fühlte. Anki war alt genug, um einer Arbeit nachzugehen und sich einen eigenen bescheidenen Hausstand zu leisten. Aber eine Anstellung musste erst gefunden werden, und da gab es zwei Probleme: die ohnehin eklatante Arbeitslosigkeit in Berlin, die sich für Frauen in Erziehungsberufen während des Krieges bestimmt verschärfte, und die unterbrochenen Postverbindungen. Sie konnte Demy nicht einmal bitten, nach einer geeigneten Stellung und einer Wohnung für sie Ausschau zu halten, denn es gelangten keine Briefe mehr ins Deutsche Kaiserreich. Ihre letzte Nachricht an die Geschwister, dass sie vorhabe, den Krieg hier in Petrograd auszusitzen, hatte sie dem Lehrer Michael Maier mitgegeben.

Ein Wagenrad senkte sich ruckartig in ein vom Regen ausgewaschenes Loch in der Straße. Anki wurde unsanft gegen die Seitenwand geschleudert und schrak aus ihren Gedanken auf.

Ljudmila schien der derbe Stoß nichts ausgemacht zu haben. Allerdings deutete ihre düstere Miene darauf hin, dass sie noch weitaus tiefer in ihre Gedanken- und Gefühlswelt versunken war als Anki. Mit einem Blick auf die tief stehende, blasse Sonne entschied die nicht eben abenteuerlustige Anki, dass es in diesen Zeiten wohl gleichgültig war, wo sie sich aufhielt. In Russland hatte sie zumindest ein sicheres Zuhause, Zöglinge, die sie liebte, und Arbeitgeber mit dem Herzen auf dem rechten Fleck. Außerdem band Ljudmila sie in zunehmendem Maße an sich und schien ihre Nähe zu brauchen, und sie konnte sie nicht einfach im Stich lassen …

***

Eine goldene Herbstsonne wärmte das Innere des Wintergartens, tauchte die erlesenen, aus dunklem Holz gefertigten Stühle, Tische und Kommoden in ein faszinierendes rötliches Licht und offenbarte die bunten Kleckse auf dem sorgfältig mit Papier ausgelegten Fußboden. Der Geruch von Farbe verdrängte das durch die geöffneten Türen und Fenster dringende Duftgemisch aus feuchtem Laub, frisch gepflügten Feldern und überreifen Äpfeln.

Anki lobte gerade die mit viel Schwung auf die Leinwand aufgebrachten Farbkombinationen von Jelena, als sie von ihrer Arbeitgeberin zu einem Gespräch gebeten wurde. Eilig verließ sie den Wintergarten und trat in den Flur, der für ein Fürstenhaus ungewöhnlich schmal und einfach gehalten war. Fürstin Chabenski musterte sie mit einer Sorgenfalte auf der Stirn, bevor ein Lächeln ihr Gesicht erhellte. »Sie haben Besuch, Anki. Dr. Busch erwartet Sie draußen. Er bat mich, Sie für kurze Zeit von Ihren Aufgaben zu entbinden.«

»Das ist …« Anki spürte, wie die Hitze in ihren Kopf stieg. »Das ist nicht nötig, Hoheit. Dr. Busch findet bestimmt auch gegen Abend Zeit …«

»Nun gehen Sie schon. Der junge Herr wartet auf Sie!«, sagte die Fürstin schmunzelnd.

»Danke, Hoheit«, murmelte Anki und sah sich nach den drei Mädchen um. Diese drängten sich in der Tür und beobachteten ihre Njanja neugierig, wobei sie mit ihren weißen Schürzen über den hellblauen Kleidchen wie kleine Wolken aussahen. Zögernd band Anki sich ihre Schürze ab, legte sie zusammen und wollte sie zurück in den Wintergarten bringen.

Doch Fürstin Chabenski trat zu ihr und nahm ihr sanft die Baumwollschürze aus den bebenden Händen. »Wovor fürchten Sie sich? Jetzt, da ich weiß, wer Ihnen den Fliederstrauß geschickt hat, bin ich ganz beruhigt«, flüsterte sie. »Dr. Busch scheint mir ein ernsthafter, hart arbeitender, zuverlässiger Mann zu sein. Zudem ist er sehr charmant.« Die Fürstin lächelte und blickte dabei an Anki vorbei auf ein Gemälde, das ihren Ehemann in jungen Jahren zeigte.

»Das ist er, Hoheit«, pflichtete Anki ihr zaghaft bei.

»Sie haben ihn doch gern, oder etwa nicht?«

»Doch, Hoheit«, stotterte Anki. Es stimmte sie verlegen, eine derart persönliche Angelegenheit mit ihrer Arbeitgeberin zu besprechen.

Der Fürstin gefielen die Unterhaltung und die Tatsache, dass sich ihre Njanja verliebt hatte, hingegen sichtlich. »Ich wünsche Ihnen, dass Sie Ihre große Liebe finden, Fräulein Anki, so wie ich die meine fand, selbst wenn wir Sie dann in absehbarer Zeit an diesen Mann verlieren werden. Und Jelena wird sicher einen anderen Ehrenmann kennenlernen, für den sie sich erwärmen kann.« Fürstin Chabenskis Schmunzeln vertiefte sich. »Nun laufen Sie schon und schauen Sie nicht so ängstlich drein. Würde ich diesem Mann nicht vertrauen, hätte ich ihm das Treffen mit Ihnen untersagt. Meine Güte, sehen Sie mich nur an, ich bin ja fast so aufgeregt wie Sie!«

Anki lachte auf. Sie ließ die Schürze in den Händen der Fürstin und eilte, den weißen Herbstrock hochgerafft, den Flur entlang und zur offen stehenden Tür hinaus.

Sie entdeckte Robert im Schatten einer Linde. Er blickte zu dem Tannenwäldchen hinüber, das an dieser Seite das weitläufige Grundstück der Chabenskis vom benachbarten Sommerhaus eines anderen Petrograder Adeligen trennte. In seiner linken Hand hielt er einen einzelnen Zweig weiß blühenden Sommerflieders.

Anki lächelte und spürte, wie ihr Herz förmlich Kapriolen schlug. Obwohl sie leise auftrat, wurde Robert auf sie aufmerksam. Er drehte sich um, und als er sie erblickte, breitete sich sein typisches Lächeln auf seinem Gesicht aus. Mit gelassen wirkenden Schritten kam er auf sie zu, verbeugte sich knapp und reichte ihr den Fliederzweig.

»Als Entschuldigung dafür, dass ich Sie so lange habe warten lassen. Dem Zarewitsch fehlte nichts, doch Dr. Botkin brauchte mich in Petrograd für seine Forschungen. Also musste ich meine Verabredung mit Ihnen leider um ein paar Tage verschieben.«

Sorgsam darum bemüht, nicht seine Hand mit ihren Fingern zu berühren, nahm Anki den Zweig an sich. Sie hob einen der Blütenstände vor ihr Gesicht und atmete den zarten Duft ein, den die weißen Blüten verströmten. »Vielen Dank! Die sind wunderschön, obwohl sich ihre Blütezeit dem Ende entgegenneigen dürfte.«

»Diese Blüten haben sich eigens dafür aufgehoben, um einer wunderschönen, hinreißenden Dame geschenkt zu werden.«

Anki errötete, schenkte dem Mann aber ein schüchternes Lächeln. Seine Worte erzeugten einen wahren Sturm an Emotionen in ihr. So viel Aufregung vertrug sie nicht besonders gut, obwohl sie sich betörend prickelnd anfühlte.

»Fürstin Chabenski schlug vor, dass Sie mir den reizvollen Park zeigen könnten.«

Nun fiel Ankis Lächeln belustigt aus. Sie war ihrer Arbeitgeberin dankbar für diesen Vorschlag und den Schalk, der dahintersteckte, wenngleich Robert diesen noch nicht erkannte. Sofort fühlte sie sich leichter. Sie deutete mit ihrer freien Hand einladend auf das Grundstück, das an einer Seite von Tannen und an den anderen drei von einer gewaltigen Buchsbaumhecke umgeben war. Unter ihren Schuhen knirschten die nach dem Regenguss in der vergangenen Nacht noch feucht glänzenden Kieselsteine.

»Ich hörte, dass es dem kleinen Alexej wieder gut geht. Seine Majestät ist dann doch wie geplant zu einem Besuch in ein Militärlager abgereist, nicht wahr?«

»Die Verpflichtung als Herrscher Russlands verlangt dem Zaren große Opfer ab. Ich denke oft bei mir, dass die Romanows, die sich mit so viel Hingabe und Liebe umeinander kümmern, so viel glücklicher wären, wenn sie einer einfachen Familie entstammten, ohne Protokoll, politische Verantwortung oder staatsmännische Pflichten.«

»Ob Zariza Alexandra, Zar Nikolaj oder die Kinder sich nach so einem unkomplizierten Leben sehnen?« Auf Ankis zaghaft gestellte Frage schwieg Robert, allerdings deutete sie sein nachdenkliches Nicken als vage Zustimmung. Sie fuhr fort: »Wie paradox das doch ist. Diese Familie wäre vermutlich mit einem einfachen Leben glücklicher. Währenddessen sehen viele Bürger Russlands genau in dieser Einfachheit ein aufgezwungenes Schicksal. Sie sind unglücklich und wünschen sich den Reichtum, die Macht und das Prestige der Adeligen, weil sie annehmen, dadurch glücklicher zu sein.«

»Und was denken Sie, Fräulein van Campen, was Glück bedeutet?«

Anki führte ihren Besucher zwischen den hüfthoch geschnittenen Zierhecken hindurch zu den ebenfalls niedrig gehaltenen Rosenstöcken. Dort zeigten sich die letzten sprossenden Knospen und ließen für die erstaunlich warmen Herbsttage eine zwar kurze, aber duftende Farbenfülle erahnen.

»Glück, Herr Busch? Gott schuf uns Menschen sehr unterschiedlich. Kein Mensch ist wie der andere, daher vermute ich, dass Glück und Unglück von jedem unterschiedlich empfunden werden. Es scheint mir aber eine eigentümliche Angewohnheit des Menschen zu sein, das Glück immer in dem zu sehen, was man gerade nicht hat. Vielleicht wäre es gut, wenn jeder Mensch einmal innehielte und sich an dem Platz umsehen würde, an dem er steht. Womöglich würde er dann merken, dass sein Glück ihn längst umgibt. In Gestalt eines Menschen, der sich Zeit für ihn nimmt, eines Kindes, das sich bei ihm geborgen fühlt, oder in der Schönheit der Natur. Er könnte dankbar sein für seine Gesundheit, seine gute Arbeit, seine Familie oder einfach nur für die Gewissheit, dass Gott ihn liebt. Überhaupt denke ich, dass wir nur glücklich sind, wenn wir lieben und wiedergeliebt werden.«

»Sie sind eine Philosophin.«

Anki blieb unter einem mit Efeu überwachsenen Holzbogen stehen und blickte erschrocken in das Gesicht ihres Begleiters. Machte er sich über sie lustig? Robert sah sie zwar lächelnd an, in seinem Blick lag jedoch weder Belustigung noch Spott, sondern vielmehr Zuneigung und Aufmerksamkeit.

»Im Augenblick ist dieser Spaziergang an Ihrer Seite mein größtes Glück. Und Sie könnten es noch vollkommener machen«, sagte er.

Sie drehte den Kopf und blinzelte gegen die Sonnenstrahlen an, die durch das Rankendach hindurch ihr Gesicht streichelten. Eine Elster in ihrem weiß und blauschwarz schillernden Federkleid hüpfte über den Spazierweg und pfiff lauthals, aber keinesfalls melodiös vor sich hin, als wolle sie sich in die Unterhaltung einmischen.

»Fräulein van Campen.« Roberts Stimme klang sanft und leise, nahezu fragend.

Anki zwang sich, ihn anzusehen, während sie ihr Herz kräftig schlagen spürte und in ihrem Körper aufgeregte Schmetterlinge zu flattern schienen.

»Ich bin heute gekommen, um zu versuchen, das in Worte zu kleiden, was ich für Sie empfinde.«

Ihre Aufregung wuchs und mit ihr eine zarte Scheu. Vielleicht war es besser zu flüchten, solange sich ihr noch die Möglichkeit dazu bot? Natürlich wollte sie Roberts Worte hören und erfahren, ob er sie – wie sie vermutete und auch hoffte – tatsächlich liebte. Aber war sie imstande, mit ihm über ihre Gefühle zu sprechen?

Wenn sie tat, zu was ihr Herz sie drängte und was es gleichzeitig fürchtete, würden grundlegende Veränderungen über ihr Leben hereinbrechen. Sie würde Roberts Eltern vorgestellt werden, und sie musste ihren Geschwistern die Möglichkeit einräumen, Robert kennenzulernen. Irgendwann würde man über einen Hochzeitstermin sprechen, was für sie hieße, dass sie die Familie Chabenski und ihre geliebten Mädchen verlassen musste. Womöglich wollte Robert dauerhaft ins Deutsche Reich zurückkehren. Hatte er nicht jüngst von einem solchen Vorhaben gesprochen?

»Sie schauen so ängstlich drein. Auf keinen Fall möchte ich Sie in Verlegenheit bringen!« Robert runzelte die Stirn und verschränkte die Hände hinter seinem Rücken, womit er seine nun doch aufkeimende Nervosität zu verstecken versuchte. »Wenn es Ihr Wunsch ist, werde ich unverzüglich gehen und Sie nicht mehr behelligen.«

»Nein!«, flüsterte Anki und trat erschrocken einen Schritt auf ihn zu.

Sein Gesicht verzog sich zu einem fast spitzbübischen Lächeln, und die ihm eigene Gelassenheit kehrte zurück. »Das freut mich über die Maßen. Nun fällt es mir leicht, Ihnen zu sagen, wie sehr ich Sie liebe und wie groß meine Hoffnung ist, auch Ihre Zuneigung zu mir könnte groß genug sein, dass Sie eines Tages meine Frau werden.«

»Eines Tages, Herr Busch? Das hört sich so unbestimmt an«, wendete Anki ein.

»Ich denke, wir sollten der Familie Chabenski die Zeit geben, um eine zumindest annähernd so aufmerksame, fürsorgliche und liebevolle Erzieherin für ihre Töchter zu finden, wie Sie es sind. Falls die Neubesetzung Ihrer Stelle zügig vonstattengeht, würde ich Sie sehr bald schon um Ihr Jawort bitten. Dauert der Vorgang länger als von mir gewünscht«, er zwinkerte ihr vergnügt zu, »steht uns leider eine räumliche Trennung bevor. Ich muss im Kaiserreich dringend meine Prüfungen ablegen.«

Anki lächelte. Sie freute sich über Roberts klares Bekenntnis zu ihr. Gleichzeitig war sie dankbar für die Zeit, die ihr somit blieb, um die in ihrem Leben anstehenden Umwälzungen in Ruhe verarbeiten zu können.

»Wie denken Sie darüber?«

Anki straffte ihre Schultern. Die zwischen den Efeublättern hindurchfallenden Sonnenstrahlen trafen genau die Haarsträhne, die ihm häufig, so wie auch jetzt, in die Stirn fiel und die zurückzustreichen sie sich schon so manches Mal gewünscht hatte. »Ich freue mich sehr über Ihren Entschluss, Dr. Busch, Ihr Anliegen vorzubringen.« Anki suchte nach Worten, fühlte Verlegenheit und zugleich eine überfließende Freude in sich miteinander kämpfen. »Es ist … noch für einen gewissen Zeitraum bei den Kindern bleiben zu können ist ein schöner Gedanke. Andererseits weiß ich nicht, wie lange Sie fortbleiben werden oder …« Hilflos lächelnd zog Anki ihre schmalen Schultern in die Höhe.

Robert trat entschlossen vor sie, ergriff ihr linkes Handgelenk, da sie in der Hand den Zweig hielt, und ihre rechte Hand. Er führte ihre Hände an seine Brust. »Ich liebe Sie, Fräulein van Campen.«

Sie wollte ihm so gern in die Augen sehen, aber ihr Blick wanderte unwillkürlich zum Haus hinüber. Sie sah, wie sich hinter zwei Fenstern die Vorhänge bewegten. Prompt tat Robert es ihr gleich. Er schien die Beobachter zumindest zu erahnen, denn er wich einen Schritt zurück, entließ ihre Hände jedoch nicht aus den seinen.

»Das ist der Grund, weshalb Fürstin Chabenski Ihnen einen Spaziergang mit mir im Park gestattete«, erläuterte Anki. »Der Erbauer dieses Hauses, ein Vorfahre von Fürst Chabenski, hatte neun Töchter. Er ließ eine Gartenanlage entwerfen, in der es nicht einen Winkel gab, der nicht vom Haus aus eingesehen werden konnte. So hatte er seine Töchter und ihre Kavaliere immer im Blick. Fürst Ilja Michajlowitsch wusste um den Hintergrund der ursprünglichen Parkgestaltung und ließ, da selbst mit drei Töchtern beschenkt, die wuchernden Hecken und Rosenbüsche wieder stutzen.«

Robert lachte belustigt auf. »Momentan wohl vielmehr zu dem Zweck, seine munteren Mädchen und ihre Njanja beim gemeinsamen Spiel im Auge zu behalten?«

»Noch, ja«, wisperte sie, mit den Gedanken bei Nina und vor allem bei deren frühreifer Freundin.

»Und uns?« Roberts Frage klang etwas gequält. Anki verstand seine aufkeimende Enttäuschung gut. Ihm endlich einmal diese Haarsträhne aus der Stirn zu streichen reizte sie immens. Er hauchte einen federleichten Kuss auf ihre Hand und ließ sie endgültig los. »Sie wollten mir den Park zeigen.«

Gemeinsam traten sie unter dem Rankbogen hinaus und schlenderten durch die bunt blühenden Herbstblumenrabatten, vorbei an dem winzigen Teich, dessen Binsen und Schilf die höchstgewachsenen Pflanzen der Parkanlage waren. Nun, da Anki sich seiner Zuneigung sicher war, fühlte sie sich in seiner Gegenwart noch leichter als zuvor. Sie sprach befreiter und offener über eine gemeinsame Zukunft mit ihm, was sie als wunderbar erfüllend erlebte. Es schien beinahe, als hätte er durch seine Worte eine Brücke über den Graben namens Zurückhaltung und Fremdheit gebaut. Nun betraten sie beide diese Brücke, trafen sich in der Mitte und sprachen über ihren neuen Weg, den sie Seite an Seite fortsetzen wollten.

Entlang der sorgsam gestutzten Buchsbaumhecke näherten sie sich schließlich wieder dem Gebäude. Deutlich sahen sie drei an die Scheiben gedrückte Kindergesichter an einem Fenster im zweiten Stock und bei einer nur halb geschlossenen Terrassentür im ersten Stock einen schlanken Schatten.

Anki wollte in Richtung Pforte gehen. Robert hingegen deutete mit einer knappen Handbewegung an, dass er gern an der Terrasse entlangschlendern wollte, die oberhalb eines gut zwei Meter hohen Sockels lag. Sie folgte seiner Aufforderung, und so gelangten sie an der Sockelmauer vorbei zu einem breiten, mit wildem Wein überwucherten Torbogen. Unter ihm befanden sich die Stufen zur Terrasse. Dort ergriff Robert ihren Ellenbogen und zog sie mit sich unter den gemauerten Steinbogen.

Amüsiert lächelte Anki vor sich hin. Von hier aus konnten sie von keinem Fenster, nicht einmal von der Terrasse oder vom Garten aus gesehen werden. Durch ihr Lächeln ermutigt trat Robert näher und ergriff erneut ihre Hände, um sie, wie schon zuvor, an seine Brust zu pressen. Der Sommerflieder verströmte seinen süßen Duft, während die Blätter des Weins über ihnen leise raschelten.

»Ich muss zurück nach Petersburg – oder Petrograd, meinetwegen. Dr. Botkin fordert mich derzeit unentwegt.«

»Und fördert Sie auch?«

»Das ohnehin. Er ist ein großartiges Vorbild. Nicht nur, was sein Wissen anbelangt, auch seine verständnisvolle Art im Umgang mit seinen Mitmenschen, ganz gleich welcher Herkunft, beeindruckt mich sehr. Er ist trotz seines Ansehens und seiner gehobenen Stellung zu jedem Patienten gleichermaßen verständnisvoll und höflich.«

»Sie nicht weniger, Dr. Busch. Jelena ist vollauf begeistert von Ihnen – so wie auch ich.« Anki zögerte. Sie wusste, dass sie ihm noch einige Worte schuldig war. »Ich liebe Sie, Robert Busch«, wagte sie endlich zu sagen und hielt seinem Blick stand, obwohl sie erneut errötete.

Robert sah ihr tief in die Augen, während Anki fast erschrocken den Atem anhielt. Ob er sie nun küssen würde? Robert behielt sein höfliches Benehmen bei, verharrte jedoch scheinbar unschlüssig dicht vor ihr.

Anki löste mit einer vorsichtigen Drehung ihres Arms ihre Hand aus seiner und tat, was sie schon lange hatte tun wollen: Sie fuhr mit leicht gespreizten Fingern in die Haarsträhne, die sein linkes Auge halb verdeckte, und strich sie ihm aus der Stirn.

Das war Einladung genug für Robert. Er legte die Arme um ihre Taille, zog sie an sich und küsste sie sanft auf den Mund, wobei er den Flieder zwischen ihnen zerdrückte.

20 Am 09. 01. 1905 marschierten als Folge von Streiks Zehntausende Arbeiter, angeführt von dem orthodoxen Priester Vater Georgi Gapon zum Winterpalast, der Residenz des Zaren, um friedlich für menschwürdige Arbeitsbedingungen, religiöse Toleranz u.v.m. zu protestieren. Allerdings konnten sie sich beim Zar kein Gehör verschaffen, da sie bereits vor dem Narwa-Tor von den Soldaten aufgehalten wurden, die das Feuer auf die friedliche Menge eröffneten. Die Angaben über die Opfer schwanken zwischen 130 und 1000 Toten.

21 Die »Bluterkrankheit« ist eine Erbkrankheit. Dabei ist die Blutgerinnung der betroffenen Personen gestört, d. h. bei inneren oder äußerlichen Verletzungen gerinnt deren Blut nur langsam oder gar nicht. Je nach Schweregrad können sogar Spontanblutungen auftreten. War keine Hilfe vor Ort, verbluteten diese Menschen aufgrund kleinerer Verletzungen (zu Zeiten des Ersten Weltkriegs war diese Erkrankung noch nicht ausreichend erforscht, Hilfe also schwer möglich). Von der Hämophilie sind hauptsächlich Männer betroffen; sie wird über die Mutter vererbt, die meist nur Träger des Gendefektes ist, ohne selbst »Bluter« zu sein.

22 Crimson Room oder Grand Duchess’ Red Living Room