Kapitel 42

Berlin, Deutsches Reich,
August 1915

Hat der Tod einen spezifischen Geruch?, fragte sich Demy, während sie sich vom Fenster abwandte und zu Tilla setzte. Ihre anfängliche Wut auf ihre Schwester, die ein unschuldiges Kind in ihrem Leib hatte töten lassen, war verraucht. Viele andere Möglichkeiten hätten zur Verfügung gestanden, aber Tilla hatte sie nicht gesehen, nicht sehen können.

Schuldbewusst rieb Demy sich ihre Nase und grübelte, warum sie nicht erkannt hatte, dass Tilla nicht nur Triumph über den Seitenhieb empfand, den sie ihrem untreuen Mann zugefügt hatte, sondern vor allem verzweifelt gewesen war. Weshalb konnte Demy mit Lina und Margarete mitfühlen, sah und verstand ihre Kümmernisse, ebenso wie die von Maria, Henny und den Gästen, versagte aber bei ihrer Schwester kläglich?

»Gräm dich nicht, Demy. Es war allein meine Entscheidung, dem Leben des Kindes ein Ende zu setzen.«

Demy rutschte vor an die Stuhlkante, da Tillas Stimme nur schwach bis zu ihr drang. »Ich trauere um ein verlorenes Leben.«

»Du solltest mir Vorwürfe machen, nicht dir.«

Erstaunt hob Demy die Augenbrauen. Offenbar kannte ihre Halbschwester sie besser, als sie angenommen hatte. »Du hast diese Frau kommen lassen, weil du darin den einzigen Ausweg sahst«, flüsterte Demy und verdrängte die Frage, wovor genau Tilla fliehen wollte.

Ihre Schwester bemühte sich um ein Lachen, brachte jedoch nur ein heiseres Krächzen zustande. »Du bist ein herzensgutes Mädchen, das niemals schlecht über mich denken will, nicht wahr? Meinst du, ich weiß nicht, dass dieses Kind bei unseren finanziellen Mitteln ein angenehmes Leben hätte führen können? Ich weiß auch von Lina und ihrem bis jetzt unerfüllten Wunsch nach einem Kind. Selbst die alte Degenhardt hätte sich des Kindes angenommen.«

Entsetzt darüber, dass Tilla ihre nicht zu Ende gebrachten Überlegungen erahnte, schüttelte Demy den Kopf, ließ ihre Schwester jedoch fortfahren.

»Ich darf Joseph unmöglich einen Grund liefern, mir die Scheidungspapiere vor die Füße zu werfen. Ich will mein Druckmittel gegen ihn in der Hand behalten, damit wir weiterhin hier wohnen dürfen. Und ich möchte mein Leben so genießen, wie es bisher war.«

Jedes einzelne von Tillas Worten traf Demy wie ein Peitschenhieb. War es reiner Egoismus, dass das ungeborene Kind hatte sterben müssen? Und wozu? Damit Tilla ihm in ein paar Stunden folgte?

Dr. Stilz hatte zwar die Blutung zum Stillstand gebracht, Demy aber auch unmissverständlich erklärt, wie schlecht Tillas Chancen standen, den schwerwiegenden Blutverlust zu überstehen. Nun war er unterwegs, um alle verfügbare Hilfe zu mobilisieren, doch Demy sah, wie das Leben mit jeder Minute aus Tillas Körper entwich.

»Du bist so ganz anders als ich«, sagte Tilla kaum verständlich und schloss wieder die Augen.

»Wir alle unterscheiden uns in unserem Wesen. Aber ein jeder von uns hat neben seinen Fehlern auch seine guten Seiten.«

»Denkst du das auch von mir?«, hakte Tilla mit geschlossenen Augen nach.

Demy zögerte wohl einen Moment zu lange, denn auf Tillas gelblich verfärbtes Gesicht schlich sich ein bitteres Lächeln. Eine einzelne Träne rollte aus dem Augenwinkel über ihre Wange. Die jüngere Schwester beugte sich vor und wischte sie mit ihrem Zeigefinger beiseite. »Du hast viele gute Seiten. Aber ich fürchte, du hast sie tief in dir versteckt, zu tief, als dass ich sie jemals richtig begreifen konnte.«

Schweigen legte sich über die Schwestern. Durch das geöffnete Fenster drang warme Luft, die nach Erde und blühenden Rosenbüschen duftete, und das gemütliche Gurren einer Taube.

»Ich erzählte dir jetzt etwas, Demy. Vermutlich denkst du hinterher noch schlechter von mir, als du es ohnehin schon tust.«

»Tilla, ich …«

»Ich bin müde, Kleine, also unterbrich mich bitte nicht.«

Angst setzte sich in Demy fest und trocknete ihre Kehle aus. Sie fühlte, wie die Beklemmung in ihr wuchs und ihr Herz zu erdrücken versuchte. Eilig rutschte sie vom Stuhl zu Boden und legte ihren Kopf auf das Bett neben ihre und Tillas ineinander verschlungenen Hände.

»Nachdem deine Mutter gestorben war, dauerte es nicht lange, bis Vater begann, sich für mich … als Frau zu interessieren.«

Demys Kopf ruckte in die Höhe und sie starrte Tilla ungläubig und entsetzt zugleich an. »Das … das kann nicht sein! Außerdem warst du damals noch ein Kind!«, wehrte sie den Gedanken ab, der ihr Gehirn zu peinigen drohte.

»Bitte, Demy.«

Demy behielt das Gesicht ihrer Schwester aufmerksam im Blick. Noch immer spürte sie, wie die Kraft aus Tillas Körper wich, als trage ein Fluss das Blatt mit sich davon, das auf seine Wellen gefallen war. Wenn sie erfahren wollte, welche Begebenheiten Tilla zu dem Menschen geformt hatten, der sie heute war, musste sie ihr jetzt den Raum für ihre Offenbarung lassen.

»Ja, ich war damals noch ein Kind. Aber er benutzte mich über Jahre hinweg. Immer dachte ich, dass ich mich eines Tages zur Wehr setzen würde. Irgendwann wollte ich ihn das nicht mehr mit mir tun lassen. Dann erlahmte plötzlich sein Interesse an mir, und er wandte seine Aufmerksamkeit Anki zu. Ist es nicht paradox, dass ich im ersten Augenblick Eifersucht verspürte? Ich sah, wie er sie beobachtete, wie er sie berührte, und da wusste ich: Anki musste fort! Ihr durfte nicht dasselbe geschehen wie mir. Das Auftauchen der russischen Fürstenfamilie an unserem Strand in Koudekerke kam mir damals wie eine Gebetserhörung vor. Es passte einfach alles: Sie suchten ein Kindermädchen für ihre reizenden Töchter. Die Fürstin besaß deutsche Wurzeln und fand den Gedanken großartig, dass ihre Töchter unter Ankis Anleitung ihr Deutsch verbessern könnten. Ich war so glücklich, als sie Anki mitnahmen!« Tilla seufzte und schwieg. Die Worte kamen ihr zunehmend schwerer über die farblosen Lippen.

Demy überlegte, ob sie Tilla bitten sollte, sich zu schonen, aber sie spürte, dass ihre Schwester erzählen musste, was damals geschehen war. Sie brauchte diese Rückbesinnung – vielleicht, um in Frieden sterben zu können?

»Vater verlor gänzlich das Interesse an mir. Ich atmete auf und dachte, er würde sich vielleicht wieder eine Ehefrau suchen … bis ich eines Tages in deine Kammer trat und sah, wie er dich streichelte, als du schliefst.«

Tilla zögerte, gefangen in ihren Erinnerungen und Emotionen, während Demy begriff, wie groß die Liebe ihrer Schwester zu ihr war. Tränen füllten ihre Augen, ahnte sie doch jetzt, dass Tilla gezielt die Ehe mit Joseph eingegangen war, um vor ihrem Vater zu fliehen – und Demy vor ihm zu beschützen!

»Es bedurfte vieler Schummeleien, bis wir endlich nach Berlin ziehen durften. Fort von Vater und seinen Gelüsten nach kleinen Mädchen. Aber in meiner Seele, in meinem Kopf war etwas zerstört. Ich konnte Joseph nicht … nicht das geben, was er von einer Frau erwartete.« Tilla atmete mühsam, als fiele es ihr schwer, ihre Lungen mit Luft zu füllen. »Natürlich haben wir die Ehe vollzogen, aber es war nie so, wie es sein sollte. Ich hoffte auf Geduld und Verständnis von Joseph, doch beides brachte er nicht zuwege. Und so sind wir nun, was wir sind.«

»Ach, Tilla, es tut mir so leid. Ich hatte bis heute nicht verstanden, weshalb du mich damals aus meinem Zuhause gerissen hast.«

»Du warst zu jung, als dass ich dir die Gründe offenlegen durfte«, hauchte Tilla und drückte ihr die Hand, leicht wie ein Schmetterling.

»Und damit hattest du vollkommen recht. Ich hätte dir nicht geglaubt! Kein Wort!«

»Und später konnte ich nicht mehr darüber sprechen.«

»Aber warum nicht? Ich habe dich so oft mit Beschwerden überschüttet.«

»Sei still, Demy, und lass mich erzählen.«

Die jüngere Schwester nickte und legte ihren Kopf wieder auf die Matratze.

»Als ich kurz nach der Hochzeitsreise Koudekerke aufsuchte – du erinnerst dich sicher, denn du wolltest mich unbedingt begleiten –, war Rika elf Jahre alt. So alt wie ich damals …«

In Demys Innerem flammte Hitze auf. Eine Ahnung breitete sich in ihrem Herzen aus, drohte es zu verbrennen. Nun verstand sie, was Tilla gefühlt haben musste und weshalb sie ihre jüngeren Schwestern aus der Reichweite ihres Vaters hatte schaffen müssen. Unbändiger Zorn schien die Liebe wegzuwischen, die sie bis dahin für ihren Vater empfunden hatte. Hatte er sich auch Rika genähert, wie er es bei Tilla getan und bei Anki und ihr versucht hatte?

»Ich sah am Tag meines Abschieds, wie er Rika anstarrte. Es tut mir leid, Demy. Ich will nicht das schöne Bild zerstören, das du von Vater hast, aber ich musste annehmen, dass auch Rika nicht mehr unberührt war. Also kehrte ich in der darauffolgenden Nacht zurück.«

»Wolltest du Rika heimlich mitnehmen? Ohne Vater zu informieren?«, fragte Demy tonlos.

»Nein.«

Wieder wurde es still. Irgendwann richtete Demy sich auf, um sich ängstlich zu vergewissern, ob ihre Schwester überhaupt noch atmete. Diese blickte zum Betthimmel hinauf und die allmählich hereinbrechende Dunkelheit verbarg ihre eingesunkenen Augen und die wächserne Blässe ihrer Haut. Deutlicher als zuvor traten ihre noch jungen, schönen Gesichtszüge hervor.

»Ich war so voller Wut, voller Verzweiflung, voller Selbstvorwürfe, weil ich Rika nicht sofort mitgenommen hatte. Als ich ins Gutshaus zurückkehrte, war Vater nicht da. Ich vermutete ihn in der Schenke im Dorf und wollte ihn bei seiner Rückkehr abpassen. Als ich auf der Brücke über die Gracht ankam, stand mir plötzlich vollkommen klar vor Augen, was ich tun musste. Vater durfte niemals wieder einem Mädchen Gewalt antun.«

»Die Gracht …«, flüsterte Demy und atmete so heftig, als habe sie Minuten unter Wasser zugebracht und müsse nun ihre Lungen mit lebensnotwendigem Sauerstoff füllen.

»Es war ganz einfach. Vater war vollkommen betrunken und torkelte über die Brücke. Ich stieß ihn kräftig und er prallte mit dem Kopf gegen das Geländer. Danach musste ich nur noch seine Füße anheben, sodass er über die Brüstung stürzte. Anschließend reiste ich Hals über Kopf ab.«

Demy starrte ihre Schwester fassungslos an. Das Gefühlschaos in ihrem Inneren ließ sich nicht mehr besänftigen. Ihre Gedanken jagten sich gegenseitig wild im Kreis herum. Unfähig, ein Wort herauszubringen, kauerte sie vor dem Bett, geschüttelt von kalten und heißen Schauern.

»Du kannst meine Tat verurteilen, Demy. Aber bitte verachte nicht mich. Es war der einzige Ausweg, den ich sah, um meine Schwestern zu beschützen. Glaub mir, das alles ist nicht spurlos an mir vorübergegangen. Ich war nicht nur ständig auf Reisen, weil ich Josephs Gegenwart nicht ertrug, sondern weil ich vor mir selbst flüchten wollte. Vor meiner Erinnerung und den Vorwürfen, die mich innerlich zerfressen.« Tillas Stimme erstarb.

Demy schwieg hilflos. Aber was gab es schon zu sagen? Dass sie verstand, was Tilla getan hatte? Oder dass sie es verurteilte? Beides war der Fall und doch schien nichts davon richtig zu sein.

»Verzeih mir«, flüsterte die Ältere in das Schweigen hinein.

»Ich habe dir nichts zu verzeihen. Du hast aus Fürsorge und Liebe gehandelt, hast mich beschützt und vor Schrecklichem bewahrt. Ich habe so vieles nicht begriffen. Das trennte mich von dir.« Heiße Tränen liefen Demy über die Wangen, während in ihrem Inneren ein brennender Schmerz tobte. »Aber du kannst Gott um Vergebung bitten«, brachte sie schließlich das Gespräch auf das, was ihr auf der Seele brannte und was doch so schwer auszusprechen war. »Ich möchte dich nämlich im Himmel wiedersehen und dort mit dir lachen, so wie wir es früher getan haben, als wir noch jünger waren.«

»Das habe ich auch lange Zeit vor mir hergeschoben, nicht wahr? Zu lange … Ich habe schreckliche Dinge getan.«

»Aber kein Fehler und keine Schuld ist zu groß, als dass sie dir nicht vergeben werden könnte.«

»Mein gescheites, aufmüpfiges, kleines Mädchen«, flüsterte Tilla und die in ihren Worten mitschwingende Zuneigung ließ Demy laut aufschluchzen. »Dann lass mich jetzt ein paar Minuten allein, damit ich versuchen kann, mit Gott ins Reine zu kommen.«

»Ist gut.« Demy drückte einen Kuss auf Tillas eiskalten Handrücken. Sie erhob sich und trat zur Tür zu ihrem Zimmer, die in der mittlerweile hereingebrochenen Dunkelheit nur noch zu erahnen war. Dort drehte sie sich noch mal um und sagte: »Ich liebe dich, Tilla.«

Demy schloss die Tür hinter sich und lehnte sich mit der Gewissheit an das Holz, dass dies ihr Abschied gewesen war. Sie würde Tilla nicht mehr lebend wiedersehen.