Kapitel 24

Berlin, Deutsches Reich,
September 1914

Im Haus an der Schlossstraße war es gewohnt ruhig wie auf einem Friedhof, nur das Ticken einer wuchtigen Standuhr durchbrach mit nervtötender Monotonie die Stille.

Demy saß im Handarbeitszimmer und bemühte sich darum, einen Riss in ihrem Kleid zu flicken, den sie sich bei einem ihrer Ausflüge ins Umland von Berlin zugezogen hatte. Sie stieg seit geraumer Zeit nicht mehr über die Grundstücksmauer, um sich heimlich davonzustehlen, sondern verließ in aller Öffentlichkeit das Meindorff-Anwesen – auch ohne Begleitung. Entweder hatten die Herren Meindorff es aufgegeben, darauf zu achten, dass Demy die Vorschriften einhielt, oder ihre Gleichgültigkeit den drei van-Campen-Geschwistern gegenüber war mittlerweile so groß, dass Demys und Feddos Eskapaden keine Beachtung mehr fanden. Allerdings verursachte alles Ärger, was Geld kostete, wie etwa ein zerrissener Rock, zumal dieses Kleidungsstück zur neuen Kollektion gehörte.

Erik van Campen war es trotz seiner finanziellen Misere gelungen, Tilla gut zu verheiraten. Er hatte seine aus der Eheschließung resultierenden Kontakte nach Deutschland genutzt, indem er in Deutsch-Südwestafrika Diamanten geschürft hatte. Allerdings hatte er diese Vorteile nie an den Vater des Bräutigams zurückgeben können. Sein früher Tod hatte dies verhindert. Eriks einstmals gute Geschäftskontakte und sein ausgezeichneter Leumund waren zum Zeitpunkt der Eheschließung von Tilla und Joseph längst nicht mehr aktuell gewesen. Spätestens seit Meindorff klar geworden sein musste, dass er aus der Ehe seines Ältesten mit Tilla keine Vorteile ziehen konnte, waren ihm die inzwischen in seinem Haus untergekommenen drei van Campen-Geschwister ein Dorn im Auge geworden.

Demy hasste Näharbeiten. Dennoch gab sie sich redlich Mühe, den neuen Rock sorgfältig zu flicken. Sie wollte damit neue Konfrontationen verhindern und den Bediensteten, deren Anzahl in den letzten Wochen drastisch reduziert worden war, zusätzliche Arbeit vom Hals halten. Bisher hatte Demy angenommen, viele der männlichen Angestellten seien in den Krieg gezogen. Doch nachdem zuletzt auch eine stattliche Anzahl von Frauen nicht mehr zur Arbeit erschienen waren, keimte in ihr der Verdacht, dass sie alle entlassen worden waren. Daraus schloss sie, dass es um die finanzielle Situation der Meindorffs schlecht bestellt sein musste.

Demy hob erschrocken den Kopf von ihrer ungeliebten Arbeit, als die Außentür unsanft ins Schloss donnerte. Stiefeltritte hallten zuerst durch das kleine, anschließend durch das große Foyer und näherten sich ihr. Unwillkürlich versteifte sie sich. Es war spätabends, und der Lichtschein, der durch die angelehnte Tür in das dunkle Foyer fiel, verriet ihre Anwesenheit.

Die Tür wurde aufgestoßen. Joseph sah sie mit vor Wut verzerrtem Gesicht an, und Demy starrte zurück. Der Mann trug an diesem Tag eine neue Uniform mit ähnlichen Abzeichen wie Philippe, weshalb sie annahm, dass Joseph ebenfalls als Oberleutnant fungieren sollte. Aber hatte er sich nicht ursprünglich um die familiären Geschäfte kümmern wollen, statt in den Krieg zu ziehen?

Ohne sie zu grüßen drehte Joseph sich um und ging davon, wobei er die Tür offen ließ. Leise seufzend stand Demy auf und trat zur Tür. Ihr Schatten fiel unnatürlich in die Länge gezogen innerhalb eines hellen Rahmens auf das gemusterte Parkett. Sie hoffte inständig, dass Joseph zumindest Tilla nicht mit der gleichen Ignoranz behandelte, mit der er sie und ihre beiden jüngeren Geschwister übersah. Als Joseph kräftig gegen eine Tür klopfte, hallte das Geräusch laut in der Halle wider. Instinktiv tastete Demy nach dem Lichtschalter und löschte das Licht im Nähzimmer. Sie war nicht gewillt, die Aufmerksamkeit des Rittmeisters auf sich zu ziehen. Mit angehaltenem Atem lehnte sie sich an die Türzarge und presste ihre Näharbeit an ihren Bauch.

Joseph betrat das Arbeitszimmer seines Vaters, wobei er die Tür nicht ganz hinter sich zuzog, wie ein verbleibender schmaler Lichtstreifen verriet. Ohne lange nachzudenken und übermannt von Neugier legte Demy den Rock auf eine Kommode. Sie schlich an der Wand und den abgehenden Türen entlang bis vor den Rauchersalon, der direkt an das Arbeitszimmer grenzte. Hier drückte sie sich in die tiefe Türnische, lehnte sich mit der Schulter an das Holz und schloss konzentriert die Augen.

»Ich könnte deine Hilfe in unserem Überlebenskampf in Berlin gebrauchen!«, knurrte der Hausherr gerade seinen ältesten Sohn an.

»Mir wird hinter vorgehaltener Hand Feigheit nachgesagt! Immerhin bist du noch da, um die Geschäfte zu führen. Die Söhne anderer Unternehmer befinden sich längst im Krieg und das nicht einmal unbedingt als Offizier, sondern zumeist als einfache Soldaten!«

Meindorff schien auf den Einwand seines Sohnes nicht eingehen zu wollen, stattdessen fuhr er fort: »Das Syndikat hat sich praktisch aufgelöst. Jeder kämpft ums Überleben! Das letzte Geschäftsjahr war verheerend. Jetzt hoffte ich auf reichlich Aufträge aus der Armee, vor allem für unsere Funkstationen, aber dieser vermaledeite Rathenau …!«

Etwas zerplatzte knallend, das Klirren von Glas folgte. Demy presste erschrocken eine Hand auf den Mund. Hatte der Rittmeister eine Flasche gegen die Wand geworfen?

»Er hat die Kriegsrohstoffabteilung im Kriegsministerium ins Leben gerufen, aber vergibt er auch die Aufträge?« Joseph klang empört, was Demy nicht verwunderte. Der AEG-Erbe war auf Josephs und Tillas Hochzeit mit Josephs Geliebter aufgetaucht, wobei er von ihrem Doppelleben und der Verbindung zu Joseph vermutlich nichts gewusst hatte. Zudem hatte die AEG immer wieder versucht, sich das Familienunternehmen Meindorff-Elektrik einzuverleiben. Inzwischen zeichnete also Rathenau für die Koordination der Herstellung von kriegswichtigen Produkten verantwortlich! Bei der Fehde, die zwischen Rathenau und Joseph bestand, könnte dies für das Familienunternehmen den Garaus bedeuten.

Meindorffs Stimme klang jetzt sehr leise, und Demy musste sich anstrengen, um seine Worte verstehen zu können. »Wir müssen uns noch mehr einschränken, Joseph. Sag das auch Tilla. Mit ihren Reisen ist Schluss. Deine Brauerei läuft dieser Tage schlecht, Meindorff-Elektrik stand kurz vor dem Zusammenbruch. Falls durch die vielen Geschäftsaufgaben meiner Syndikatspartner etwas über unsere früheren Preisabsprachen an die Öffentlichkeit gelangen sollte, würde das unser Ende bedeuten. Momentan haben wir zumindest noch die Chance, uns um lohnenswerte Militäraufträge zu bemühen. Vielleicht spreche ich mit Philippe. Dieser Fokker scheint mir vielversprechend zu sein.«

»Fokker?«, stieß Joseph unbeherrscht hervor. »Der ist jetzt wie alt? Mitte zwanzig? Das ist ein Spinner und ein Träumer. Gut, er baut Flugzeuge für den Krieg, aber das tun viele andere ebenfalls, vermutlich besser und erfolgreicher als dieser Holländer! Wenn ich diesen Dialekt höre, übermannt mich schon der Zorn! Dieser van Campen hat uns reingelegt!«

»Rede in Gesellschaft niemals in dieser herabsetzenden Weise über deinen verstorbenen Schwiegervater, wenngleich ich dir natürlich recht geben muss. Deine Heirat mit Tilla war eine Fehlinvestition. Aber zumindest konnten wir bis jetzt den Schein wahren, und das soll auch so bleiben! Echauffieren wir uns öffentlich über van Campens mangelnden Geschäftssinn und sein verlorenes Ansehen, könnte jemand auf den Gedanken kommen, wir wären auf finanzielle Hilfe angewiesen!« Der ältere der beiden Männer wurde zunehmend lauter. »Nichts davon darf nach außen dringen! Und ich verlange, dass du dich zumindest hin und wieder in Begleitung deiner Frau auf einer Veranstaltung zeigst. Es wird getuschelt, eure Ehe sei bereits zerrüttet! Auch von dieser Seite kann sich Meindorff-Elektrik keine Gerüchte und keinen Skandal leisten! Also nimm diese Zigeunerin an die Kandare!«

Demy schnappte nach Luft. Die Heirat mit Tilla war eine Fehlinvestition? War das die Art, wie die Meindorffs ihre Ehepartner betrachteten? Tilla wurde geringschätzig als Zigeunerin bezeichnet! Ihre Schwester reiste viel, aber das konnte Demy ihr nicht verdenken, immerhin betrog Joseph sie seit Jahren mit Julia Romeike. Wie der Rittmeister wohl Demy titulierte? Und Feddo und Rika? Als Schmeißfliegen?

»Am besten drängen wir Philippe zu einer Hochzeit mit dieser Demy. Dann haben wir sie aus dem Haus. Und wir könnten sie zwingen, Rika und Feddo mitzunehmen. Immerhin haben sie die gleiche Mutter, während Tilla mütterlicherseits ja zumindest von einer Meindorff-Linie abstammt.«

»Du weißt, dass ich bei Philippe nichts erreiche, wenn ich ihn unter Druck setze. Aber ich werde ihn auf eine baldige Vermählung hinweisen!«

Die Kehle der heimlichen Lauscherin wurde trocken. Ob sie sich nicht nur wegen der prekären finanziellen Lage der Meindorffs Sorgen um ihre jüngeren Geschwister machen musste, sondern auch darüber, ob Philippe seinem Pflegevater tatsächlich Widerstand leisten konnte? Im Grunde zweifelte sie nicht daran; immerhin hatte er jahrelang seinen Kopf durchgesetzt. Der Krieg veränderte jedoch in dramatischer Geschwindigkeit die Lebensumstände und warf die Pläne vieler Menschen durcheinander. Außerdem schien Philippe besonnener, nachdenklicher geworden zu sein – aber deshalb auch weniger standhaft?

Der Lichtstreifen auf dem Parkett verbreiterte sich. Erschrocken drückte Demy sich in die hinterste Ecke des Türrahmens und hoffte, dass die Tür, gegen die sie sich presste, nicht von allein und womöglich mit einem lauten Geräusch aufsprang.

»Ruf Henny, sie soll die Sauerei wegwischen!«

»In Ordnung, Herr Vater. Gute Nacht.« Joseph schloss die Tür zum Kontor und sperrte dabei die einzige Lichtquelle im Erdgeschoss aus. Ohne Demy zu bemerken hastete er an ihr vorbei in die Arbeitskammer und brüllte dort einen harschen Befehl in den Nebentrakt. Kaum dass sich hinter ihm die Tür zum Treppenhaus in den ersten Stock geschlossen hatte, betrat Henny das Foyer. Auch ihr genügte das durch die Fensterfront hereinfallende Mondlicht, um sich zu orientieren.

Demy wartete, bis ihre Schritte sie fast erreicht hatten, ehe sie aus dem Schutz des Türrahmens trat. Das Dienstmädchen stieß einen spitzen Schrei aus, den Demy zu spät mit einer Hand auf Hennys Mund zu unterdrücken versuchte. Hastig zerrte sie das Dienstmädchen in die Türnische.

»Demy!«, keuchte Henny und zitterte vor Schreck noch immer am ganzen Leib.

»Entschuldige bitte. Aber ich möchte nicht, dass du da reingehst. Du weißt genau, was passiert, wenn er dich um diese Uhrzeit rufen lässt.«

»Demy, das ist wirklich fürsorglich von dir, aber ich muss gehen.«

»Das musst du nicht. Du kannst jemand anderen schicken. Trudi zum Beispiel. Sie ist weit über fünfzig und Meindorff wird sie in Ruhe lassen …«

Henny legte nun ihrerseits eine Hand auf Demys Lippen, damit sie schwieg. »Was glaubst du denn, weshalb ich überhaupt noch hier beschäftigt bin? Fast alle Männer und viele der Frauen wurden entlassen. Mich hätte es auch getroffen, hätte Meindorff nicht diese … gewisse Schwäche für mich.«

Wild entschlossen schob Demy Hennys Hand beiseite und zischte aufgebracht: »Aber es ist nicht richtig! Er nutzt deine Situation aufs Widerlichste aus. Er, er …« Ihr fehlten die Worte, was nicht eben häufig vorkam. Erst vor ein paar Minuten hatte sie noch schrecklich abwertend von Julia Romeike gedacht, die für Geld ihren Körper an Männer, zumindest aber an Joseph verkaufte. Tat Henny nicht dasselbe mit Josephs Vater?

»Demy, diese Diskussion haben wir doch schon so oft geführt! Ich bin auf die Anstellung angewiesen. Meine Familie benötigt das Geld, das ich nach Hause bringe. Bitte lass mich jetzt gehen. Bitte!« Hennys Stimme war nur noch ein verzweifeltes Flehen.

»Dann warte einen Moment«, zischte Demy, schlüpfte davon und lief im Eilschritt durch die Halle zurück in das Nähzimmer. Dort knipste sie das Licht an und wartete. Es dauerte geraume Zeit, bis Henny vor das Arbeitszimmer trat. Selbst aus der Entfernung konnte Demy erkennen, wie angespannt das Dienstmädchen dastand, wie widerwillig sie die Hand hob, um anzuklopfen.

In dem Augenblick, als Meindorff die Tür öffnete, trat Demy in den Lichtschein und rief laut: »Henny, bist du das? Die gnädige Frau benötigt dringend deine Hilfe!«

Gespannt hielt sie den Atem an. Die durchdringende Stimme des Rittmeisters drang zu ihr herüber, als er Henny anwies, die Scherben aufzusammeln und die Rotweinflecken zu beseitigen, bevor sie der jungen Dame zu Diensten sein solle. Zufrieden lächelnd zog Demy sich in den Raum zurück. Wieder einmal war es ihr gelungen, Henny zu beschützen!

***

Zwei schmächtige schmale Schatten tauchten aus einer düsteren Gasse auf, in der der Nebel wie dickflüssige Bouillon zwischen den heruntergekommenen Häusern stand. Während einer der beinahe identisch aussehenden Zwillinge zügig in Richtung Stadtschloss weitermarschierte, verharrte der andere an der Hausecke, als traue er sich nicht, den Schutz der Gebäude und der weißen Nebelwand zu verlassen. Ein Zischlaut machte Willi auf Peters Zögern aufmerksam und ließ ihn zu ihm zurückeilen.

»Was ist?«, flüsterte er und drückte sich neben ihn an die Hauswand.

»Weshalb sollten ausgerechnet die uns etwas zu essen geben? Die wollen uns nur aufgreifen und in irgendeine Anstalt stecken.«

»Blödsinn. Überall entstehen jetzt Suppenküchen. Wir stellen uns einfach hinter ein paar Erwachsenen an. Dann halten die uns für die dazugehörenden Kinder. Außerdem vergisst du, dass wir vierzehn sind. Wir könnten in der Ausbildung sein. Kein Mensch schert sich um Jungen in unserem Alter!«

Peter blickte ihn wenig überzeugt an, obwohl auch er seit dem Weggang ihres Vaters und dem Tod ihrer Mutter genau das schmerzlich erlebte: Niemand kümmerte sich um sie. Selbst Lieselotte, ihre ältere Schwester, vernachlässigte sie sträflich. Das war für Peter allerdings nicht das Schlimmste. Viel eindrücklicher und grausamer stand ihm der Tag vor einer Woche in Erinnerung, als der Vermieter sie aus ihrer Hinterhofwohnung geworfen hatte. Jetzt fehlte ihnen auch noch ein Zuhause. Das Zuhause, in dem seine Erinnerungen an ihre verstorbene Schwester Helene lebte und in dem sie ein kleines Stück Heimat gefunden hatten.

Willi, der Mutigere der beiden, kannte die Qualen, die sein Bruder ausstand, wusste ihm aber nicht zu helfen. Für ihn galt momentan nur, einen Tag nach dem anderen zu überleben.

»Nun komm doch, ich habe Hunger!« Willi ahnte, dass dies letztendlich das einzige Argument war, das den in sich gekehrten Peter veranlassen konnte, mit ihm bei der neuen Suppenküche anzustehen. Und wirklich folgte sein Bruder ihm mit gesenktem Kopf, als fürchte er, jemand könne in ihm einen Gauner erkennen und die Polizei rufen.

Deutlich langsamer als zuvor in den Gassen, die sie wie ihre Hosentaschen kannten, überquerten sie eine besser ausgebaute Straße und näherten sich einer langen Schlange von in der Kälte auf der Stelle tretenden Menschen. Sie alle standen vor einem Tisch an, auf dem mehrere Töpfe mit gewaltigem Umfang thronten, aus denen sich heißer Dampf der grauen Wolkendecke über der Stadt entgegendrehte.

Wie tanzende Engel, dachte Willi. Dabei fiel ihm Helene ein, wie sie mit ausgebreiteten Armen im Hinterhof getanzt hatte, nur um zu beobachten, wie sich ihr Rock um ihre Beine bauschte. Demy van Campen hatte einmal zu ihm gesagt, dass Helene nun im Himmel tanzen würde. Die Vorstellung gefiel Willi, zumal er froh darüber war, dass seine kleine Schwester nicht mit ihnen in dem dreckigen Kellerloch schlafen und bohrenden Hunger erleiden musste. Ob er wegen diesem Gedanken ein böser Mensch war?

Energisch packte Willi Peter am linken Hosenträger und zog ihn hinter eine ältere, verhärmt aussehende Frau in ansehnlicher Kleidung. Immer mehr Menschen nutzten diese kostenlosen Essensausgaben, darunter auch Familien, deren Lebensstandard vor dem Krieg ganz passabel gewesen war. Willi beobachtete diese Verschiebung mit großer Sorge. Wenn sogar diese Klasse schon hungerte, würde das Essen der Suppenküchen bald nicht mehr für die schon immer Benachteiligten dieser Stadt ausreichen, denn wer würde es fortan finanzieren?

Für Willis knurrenden Magen rückten die Anstehenden viel zu langsam vorwärts. Er hatte zuletzt am Vortag einen verschrumpelten Apfel mit Peter geteilt, seither aber nichts Essbares mehr auftreiben können.

Wieder gingen zwei Frauen in langen Mänteln, warmen Schnürstiefeln und kecken Hüten auf den erstaunlich kurz geschnittenen Haaren mit einem Teller dampfender Suppe an ihm vorbei. Die Menschen vor ihm rückten begierig auf. Willi trat ebenfalls nach vorn, fuhr aber herum, als hinter ihm eine raue Männerstimme brummte: »Willst du nicht, Junge? Dann lass mich vorbei!«

Ein Mann schob sich vor Peter, der stocksteif auf der Stelle verharrte. Willi verdrehte die Augen. Auf keinen Fall wollte er seine Position in der Menschenschlange aufgeben, zumal er sehen konnte, dass die Schöpfkellen bereits tief in den Töpfen verschwanden.

»Komm doch, Peter, komm!«, lockte er und ignorierte den Mann zwischen ihnen, der seine kräftigen Hände in die Seiten stemmte, offenbar entschlossen, seinen besseren Platz gegen den Jungen zu verteidigen.

»Wir müssen verschwinden!«, zischte Peter. Unverhüllte Angst stand in seinen Augen.

Widerwillig gab der ältere Zwilling seinen Platz frei und huschte zu seinem Bruder. »Was ist los?«, zischte er und sah sich prüfend um. Den Apfel, den sie am Vortag verzehrt hatten, hatten sie aus dem Korb einer Dame gestohlen, und am Tag davor waren sie von einem Wachmann aus dem Kaufhaus Wertheim vertrieben worden, weil sie die Kunden angebettelt hatten.

»Erkennst du sie denn nicht wieder? Demys Freundinnen! Lina heißt die eine, die andere Margarete oder so ähnlich.«

Willi folgte mit dem Blick Peters ausgestrecktem Zeigefinger und zuckte unwillkürlich zurück. Die beiden Frauen an der Essenausgabe kamen auch ihm erschreckend vertraut vor. Bei genauerem Hinsehen erkannte er inmitten der Dampfschwaden und unter den breitrandigen Hüten tatsächlich die Professorentochter Lina und ihre Freundin Margarete.

Wieder rückte die Menge vor und Willi zog Peter mit sich. Nur noch sieben Personen befanden sich zwischen ihnen und der begehrten Mahlzeit.

»Willi, lass uns verschwinden«, bettelte Peter.

»Ich habe aber Hunger!«

»Ich auch. Aber sie werden uns erkennen. Und dann?«

»Was sollen sie denn tun?«

»Uns ausfragen, uns in eine dieser Anstalten stecken.«

»Blödsinn.«

»Ich kann nicht lügen, das weißt du doch. Wenn sie hören, dass wir keine Eltern und kein Zuhause mehr haben, werden sie das tun.«

»Na und, dann laufen wir eben weg.«

»Bernd hat gesagt, in den Anstalten sei es schrecklich und man müsse für nichts den ganzen Tag schwer schuften.«

»Bernd ist ein Idiot. Sie haben ihn beim Klauen erwischt. Natürlich war es da, wo er war, grauenhaft«, versuchte Willi Peter zu beruhigen.

»Ich will aber nicht erwischt werden.«

»Wobei denn? Wir dürfen hier Essen holen.«

»Ich will nicht von dir getrennt werden. Am Ende stecken sie uns in zwei unterschiedliche Heime!« Peters Stimme wurde schriller. Willi sah, wie ein Zittern Peters ausgemergelten Körper durchlief.

»Beruhige dich. Niemand sieht uns an, dass wir kein Zuhause und keine Eltern mehr haben. Lina und Margarete wissen doch, dass wir aus dem Scheunenviertel stammen. Für sie wird es nicht ungewöhnlich sein, uns hier zu sehen.«

»Aber wenn sie uns nach Mama fragen?« Peter weigerte sich, weiter aufzurücken. Sofort schoben sich zwei Frauen und ein Kleinkind an ihnen vorbei, gleich darauf ein paar alte Männer.

»Und wenn schon. Sie können uns nicht festhalten. Wir entwischen ihnen spielend.«

In diesem Augenblick riss Peter erschrocken die Augen auf. Nur mit Mühe konnte Willi ihn davon abhalten, einfach davonzurennen. Während Willi mit seinem Bruder rang, drehte er den Kopf. Er sah einen Wachmann, der sich mit Lina unterhielt, dabei war sein Blick, vermutlich eher willkürlich, genau auf die Zwillinge gerichtet. Für den verängstigten Peter war das jedoch zu viel. Er stieß Willi den Ellenbogen in die Magengegend, sodass der ihn mit einem schmerzhaften Aufschrei losließ und hilflos zusehen musste, wie Peter die Flucht ergriff.

Willi blickte für einen Moment unschlüssig auf die Töpfe. Er war so knapp davor, eine warme, verlockend duftende Mahlzeit zu erhalten. Aber auch er drehte sich um, obwohl sein Bauch protestierend rumorte. Er durfte Peter nicht aus den Augen verlieren! Es konnte lange dauern, bis sie sich im Gewirr der Straßen und Gassen wiederfanden. Ohne ihn war Peter doch verloren!

Willi zwängte sich zwischen den hinter ihm wartenden Personen hindurch und rannte Peter nach, der bereits aus seinem Blickfeld verschwunden war. Zuerst wollte er einen Zuruf in seinem Rücken ignorieren, dann wandte er aber doch den Kopf, allerdings ohne im Laufen innezuhalten. Kam der Wachmann ihm nach? War er verdächtig, nur weil er aus der Schlange vor der Suppenküche ausbrach?

***

Keuchend ließ Willi sich mit dem Rücken gegen eine feuchte Hauswand sinken. Den misstrauischen Wachtmeister hatte er abgeschüttelt, dabei aber Peter aus den Augen verloren. Inzwischen warfen die Häuser lange Schatten. Sie vermischten sich mit dem Grau der Gassen und dem weißen Nebel zu einer düsteren Atmosphäre, in der Willi sich plötzlich gar nicht mehr stark fühlte, sondern hilflos und schrecklich allein. Peter brauchte nicht nur ihn – er brauchte auch Peter, das wurde ihm in diesem Augenblick deutlich bewusst.

Eine der vielen Prostituierten dieser Gegend taumelte angetrunken an ihm vorbei, ohne ihm Beachtung zu schenken. Auch ihr Leben wurde durch den Krieg und seine Folgen erschwert. Wer hungerte, gab weniger Geld für sein körperliches Vergnügen aus, das hatten die Frauen schnell erfahren müssen. Nun trugen sie unter sich ihre eigenen Schlachten aus.

Der Klang von schweren Schritten ließ Willi aufhorchen. Erst kürzlich hatte ein Freund die Frustration eines Mannes zu spüren bekommen und war an den Folgen der brutalen Schläge gestorben. Sie galten nichts, die namen- und heimatlosen Kinder Berlins.

Willi stieß sich von der Wand ab, überholte die Frau und bog in eine noch kleinere Gasse ein. Drei bärtige orthodoxe Juden mit ihren langen Mänteln, den schwarzen Hüten und ihren eigentümlichen Schläfenlocken versperrten ihm unbeabsichtigt den Weg. Noch ehe sie auf sein plötzliches Auftauchen reagieren konnten, war er zwischen den Beinen der Männer hindurchgerutscht, sprang wieder auf die Füße und stürmte weiter.

Achtlos weggeworfener Müll verschmutzte die Straße, zwischen den Pflastersteinen wucherte Unkraut, und aus der Kanalisation stieg stinkender Dunst auf, der sich mit dem Nebel vermischte.

Willi trieb es in den Unterschlupf, den sie in den letzten Tagen benutzt hatten. In einem der alten Gemäuer befand sich ein Spalt in der Außenmauer, durch den die schmächtigen Kinder gerade so hindurchpassten. In dem feuchten Kellerloch hatten insgesamt sieben Jungen Schutz gefunden und Willi hoffte inständig, dass Peter dort war. Endlich gelangte er in die Gasse. Prüfend sah er sich um. Niemand hielt sich in seiner Nähe auf, alle Fenster waren geschlossen. Wer das Glück hatte, Vorhänge zu besitzen, hatte sie zugezogen, um der Trostlosigkeit der Welt draußen zu entkommen.

Schnell betrat der Junge den schmalen Durchgang zwischen zwei Hausfassaden, zwängte sich durch den Spalt und ließ sich die eineinhalb Meter in die Tiefe rutschen. Geschickt landete er im Dunkeln auf seinen Füßen. Das Geräusch, das an sein Ohr drang, schrieb er einer flüchtenden Ratte zu, wurde aber schnell eines Besseren belehrt. Eine kräftige Hand ergriff den Knöchel seines linken Beins und zog ihm den Fuß weg. Willi stürzte und konnte gerade noch verhindern, dass sein Kopf auf dem harten Steinboden aufschlug.

»Hey, du Ratte, was willst du hier?«, fauchte eine Männerstimme über seinem Gesicht und ein Speichelregen traf ihn. Der Mann stank penetrant nach Zwiebeln und Bier.

Willi versuchte, sich aus dem unbarmherzigen Griff zu befreien. Seine Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit und erschrocken stellte er fest, dass alle ihre Habseligkeiten verschwunden waren.

»Nichts, gar nichts«, erwiderte er stammelnd vor Schreck.

Die Frau, die wohl den Quietschlaut ausgestoßen hatte, kicherte und schob sich neben ihn. Zwei nackte Brüste bebten vor seine Augen und ließen Willi das Gesicht verziehen.

»Wenn er Geld hat, darf er zusehen«, hauchte die Frau.

»Ich suche meinen Bruder«, keuchte der Junge. Endlich bekam er seinen Fuß frei. Rücklings schob er sich von den beiden fort, zurück zu dem fahlen Lichtschein, der seinen Fluchtweg markierte.

Er und Peter lebten noch nicht lange genug auf der Straße, um die Situation mit der bei den Straßenkindern üblichen Kaltschnäuzigkeit zu meistern. Es war Willi unendlich peinlich, in was er da hineingeraten war.

»Entschuldigen Sie bitte«, murmelte er und verleitete die Frau damit zu einem albernen Kichern.

Der Mann jedenfalls wollte sich nicht länger aufhalten lassen und ließ sich schwerfällig auf seine Begleiterin sinken.

Willi trat die Flucht an. Zurück im Spalt, die Freiheit vor Augen, wagte er zu fragen: »War mein Bruder hier? Hat er unsere Sachen abgeholt?«

Er erhielt keine Antwort.

***

Über den Dächern Berlins ging die Dämmerung in eine feuchtkalte Nacht über. Willi fühlte, wie die Düsternis von seiner Seele Besitz ergriff und ihm den letzten Funken Hoffnung rauben wollte. Was würde dann übrig bleiben? Verzweiflung, gar Hass?

Mit gesenktem Kopf, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, schlich Willi ziellos durch die Gassen. Eine Tränenspur durchzog sein verschmutztes Gesicht. Bedrückt fragte er sich, welches Schicksal ihm und Peter wohl drohte. Ob er Peter überhaupt wiederfinden würde, und wenn ja, in welcher Verfassung? Sein Bruder litt unsäglich darunter, von jedem Mitglied seiner Familie verlassen worden zu sein. Und nun schien es, als hätten auch sie sich verloren; verloren in einer Welt, die kaum feindlicher sein konnte.

***

»Willi.« Der geflüsterte Ruf ließ ihn herumfahren, doch er konnte niemanden sehen. Machte das quälende Gefühl der Einsamkeit ihn jetzt schon verrückt?

»Willi«, hörte er erneut jemanden seinen Namen wispern. Er folgte der leisen Stimme, bis er hinter einem nicht mehr genutzten Pferdetrog Peter entdeckte. Trotz des unzureichenden Lichts war sein zugeschwollenes Auge, das Blut, das aus seiner Nase lief und das zerrissene Hemd an seinem mageren Körper nicht zu übersehen.

Willi hockte sich neben seinen Bruder, der seine Hand umklammerte, als wolle er ihn niemals wieder loslassen. »Tut mir leid, dass ich weggelaufen bin.«

»Du hattest Angst. Da läuft man eben weg«, brummte Willi und zwang sich, nicht an die versäumte Suppe zu denken. »Wer hat dich so zugerichtet? Kannst du aufstehen?«

»Ich war in unserem Versteck.«

»Und der Mann hat dich geschlagen?«

»Welcher Mann? Nein. Die Jungs hatten sich über unsere Sachen hergemacht. Ich wollte sie wiederholen.«

»Die anderen Jungs haben auf dich eingedroschen?«

»Es war nicht so schlimm, aber sie haben alles mitgenommen.« Peter brach trotz seiner 14 Jahre in Schluchzen aus. Willi war erleichtert, dass ihr Vater dies nicht miterlebte. »Ich konnte sie nicht davon abhalten.«

»Natürlich nicht, was solltest du schon gegen so viele ausrichten? Ich bin nur froh, dass wir uns gefunden haben.«

»Aber was machen wir jetzt?«

»Wir suchen weiter nach Lieselotte. Morgen gehen wir zu der Fabrik, in der sie arbeitet. Dort muss sie ja irgendwo sein!«, schlug Willi vor. Er verschwieg seinen Verdacht, dass Lieselotte schon längst nicht mehr in der Meindorff-Brauerei tätig war.

Peter nickte bei der Aussicht, womöglich bald ihre ältere Schwester zu finden, obwohl auch sie ihnen den Rücken gekehrt hatte. Die Hoffnung, dass Lieselotte sich um sie kümmern würde, nun, da ihre Mutter nicht mehr lebte, wollten sie beide nicht aufgeben.

»Wir finden sie bestimmt bald«, tröstete Willi und half Peter auf die Beine.

»Und wo schlafen wir heute Nacht?«

Grimmig kniff Willi die Augen zusammen. Er wusste auf diese wie auf viele andere Fragen keine Antwort. »Komm mit. Ich finde einen Platz zum Schlafen für uns. Bestimmt …! «

***

Weißer Nebel ergriff von Berlin Besitz und hüllte die Stadt in ein tristes Gewand. Der Geruch des Rauchs aus den Schornsteinen lag schwer in der Luft. Amseln flatterten herum und stritten sich mit den Tauben um die besten Plätze auf den Dächern.

Nachdenklich lehnte Demy sich aus dem Fenster und musterte die Prachtbauten in der Nachbarschaft. Aufgrund des trüben Lichts traten an den Häusern dunkle Schatten und Risse zutage, wo ansonsten Stuckwerk und Säulen den Blick des Betrachters auf sich zogen. Die Gebäude wirkten wuchtig und bedrückend auf die junge Frau. Sie wurde aus ihren düsteren Gedanken gerissen, als vor dem Tor eine Kutsche hielt. Mit in die Hände gestütztem Kinn, die Ellenbogen auf dem Fenstersims, beobachtete Demy das Gefährt und fragte sich, wer wohl zu Besuch kam.

Der Rittmeister hatte das Haus ungewohnt früh verlassen und Joseph war an diesem Morgen an die Westfront abgereist. Auch Tilla war nicht zu Hause. Sie hatte sich von einem motorisierten Taxi abholen lassen, ohne Demy mitzuteilen, wohin sie fuhr.

Der Kutsche entstieg ein breitschultriger Offizier, dessen rote Schärpe über dem Uniformrock Demy verriet, dass es sich um einen wichtigen Mann handeln musste. Allerdings konnte sie noch immer nicht alle Rangabzeichen auf Schulterstücken und Kragen einordnen, zumal sie das ohnehin kaum interessierte. Kinder, wie Hennys Schwester, die in Deutschland zur Schule gegangen waren, wussten damit deutlich mehr anzufangen.

Mit einem Frösteln schloss Demy das Fenster. Während die Türglocke durch das Haus hallte, entdeckte sie im blassen Spiegelbild der Scheibe, dass die Feuchtigkeit ihr Haar schon wieder zu winzigen Locken kringelte. Maria kam herein und meldete Demy, dass sie Besuch habe. Der englische Butler Charles war gleich zu Beginn des Krieges verschwunden, und weder Demy noch eine der anderen Angestellten wussten, ob er freiwillig in die Heimat gereist war oder ob Meindorff ihn vor die Tür gesetzt hatte.

Ungläubig rümpfte Demy die Nase und hakte nach: »Der Offizier möchte zu mir?«

»Er stellte sich als Hauptmann Theodor Birk vor und sagte, er würde gerne Demy van Campen sprechen. Ich denke, das sind wohl Sie!« Maria gluckste leise vor sich hin.

»Theodor Birk?«, murmelte Demy, bereits auf dem Weg in Richtung Treppenhaus. Ein fröhliches Lächeln erhellte ihr Gesicht, als sie sich an den schüchternen, etwas unansehnlichen, aber sehr einfühlsamen Trauzeugen bei Hannes’ heimlicher Hochzeit erinnerte. Schon damals hatte Hannes ihr zugeraunt, dass sein Kadettenfreund es in der kaiserlichen Armee sicher weit bringen würde. Wie lange war das jetzt her? Sechs Jahre? Demy hatte den unscheinbaren jungen Mann sehr sympathisch gefunden, ihn aber seit jenem Tag nicht wiedergetroffen. Gespannt darauf, was aus ihm geworden war, lief sie mit gerafftem Rock in großen Sprüngen die Stufen hinunter und platzte polternd ins Foyer.

Ihr Besucher wartete bei der Sitzgruppe nahe beim Treppenhaus. Als sie durch die Tür stürmte, sprang er auf und drehte sich zu ihr um. Seine auffälligen dunklen Augen musterten sie ungeniert, ehe sich ein erfreutes Lächeln auf sein Gesicht mit dem inzwischen markanten Kinn legte. Von den Pickeln war nichts mehr zu sehen und obwohl er groß und breit war, schien er kein Gramm Fett zu viel mit sich herumzutragen. Demy kam nicht umhin festzustellen, dass Theodor ausgesprochen gut aussah! Sie verlangsamte ihren Schritt und zwang sich, halbwegs gesittet auf ihn zuzugehen, so wie ihre Gouvernante es ihr vor Jahren beigebracht hatte.

»Fräulein van Campen? Ich hätte Sie nicht wiedererkannt! Sie sind eine Schönheit geworden!«

»Erwachsen, meinen Sie wohl!«, lachte Demy und streckte dem Mann ihre Rechte entgegen.

»Wie mir scheint, haben Sie sich Ihren Sinn für Humor und Ihre Diskutierfreudigkeit bewahrt.«

»Letzteres sehr zum Leidwesen mancher Zeitgenossen.«

Theodor lachte amüsiert auf und drückte ihre Hand. »Ich soll Sie herzlich von Hannes grüßen. Er gab mir einen Brief an Sie mit.«

»Sie haben Hannes getroffen? Geht es ihm gut?«

»Es geht ihm gut. Leider musste sein Zug in letzter Zeit schwere Verluste hinnehmen. Ich fürchte, das macht ihm zu schaffen.«

Demy rieb sich ihre Nase. Hannes war auf keinen Fall abgebrüht genug, um den Tod und das Leiden von Menschen mit ansehen zu können, ohne dass dies Spuren bei ihm hinterließ. Etwas verunsichert sah sie sich um. Theodor und sie waren allein im Foyer. Bei Verabredungen mit anderen Männern, die allesamt von den Meindorffs oder von Tilla arrangiert worden waren, war immer jemand zugegen gewesen. »Gehen wir doch in den Blauen Salon«, schlug sie schließlich vor und ging voraus in das gemütlich eingerichtete Wohnzimmer neben dem Speisesaal. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«

»Danke, leider muss ich in den nächsten Minuten wieder los.« Theodor setzte sich auf einen mit blauem Chintz bezogenen Sessel und legte seine Kopfbedeckung auf die Armlehne. »Wie geht es Ihnen, Fräulein van Campen? Ich war erstaunt zu hören, dass Sie noch immer in Berlin leben«, erkundigte er sich interessiert.

»Wo könnte ich sonst sein?«, rutschte es ihr heraus. Sie ließ sich ebenfalls in einen Sessel fallen und hob entschuldigend eine Hand. »Mir geht es gut, Herr Hauptmann. Meine jüngeren Geschwister wohnen jetzt auch hier, wofür ich den Meindorffs sehr dankbar bin.«

Der Offizier musterte sie, und je länger seine Augen auf ihr ruhten, umso unbehaglicher wurde ihr zumute. Er schien tiefer in sie hineinzublicken, als es ihr lieb war.

»Fräulein van Campen, ich habe einige intensive Unterhaltungen mit Hannes geführt. Sie wissen, dass wir einmal gut befreundet waren. Wir hatten damals keine Geheimnisse voreinander, und ich bin froh, dass sich daran bis heute nichts geändert hat. Demnach bin ich darüber informiert, dass Sie regelmäßig Hannes’ Ehefrau Edith und die Kinder besuchen und einigermaßen offen über Ihr Verhältnis zu den Meindorffs sprechen.«

Nun war es an Demy, ihren unerwarteten Besucher eindringlich anzusehen. Natürlich vertraute sie Edith nicht alle ihre Sorgen und Probleme an. Immerhin war Edith jetzt eine Meindorff, selbst wenn der Rittmeister sie, ihre Kinder und Hannes aus der Familie verbannt hatte. Aber Theodors Worte verrieten Demy, dass er ihre Zurückhaltung Edith gegenüber durchschaute und ihre Lage als wesentlich unangenehmer einschätzte. Unsicher, wohin dieses Gespräch führen sollte, lächelte Demy ihren Gesprächspartner zaghaft an.

»Ist es unverfroren von mir, wenn ich Ihnen sage, dass Hannes und ich uns um Sie sorgen?«

»Das ist vielmehr charmant. Darf ich annehmen, Hannes’ Sorge um mich wuchs in dem Moment, als er von meiner Verlobung mit seinem Pflegebruder erfuhr?«

»Sie haben recht. Aber ist das unter den gegebenen Umständen nicht verständlich?«

»Sehr verständlich«, entgegnete Demy freundlich, obwohl sich in ihrem Inneren ein Sturm zusammenbraute. Die Worte des alten Meindorff in der Nacht zuvor hatten sie stärker beunruhigt, als sie sich eingestehen wollte. Mehr noch als vor sechs Jahren fühlte sie sich, als sitze sie in einer halb selbst gewählten, halb aufgezwungenen Falle. Mit Hannes als Ehemann hätte sie sich arrangieren können. Aber mit Philippe …?

Demy schreckte aus ihren Gedanken auf, als Theodor sich erhob und nach seiner Kopfbedeckung griff. Schnell sprang auch Demy auf die Füße. Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen, während er ihr eine Visitenkarte entgegenstreckte. »Bitte wenden Sie sich jederzeit an mich, wenn Sie Hilfe benötigen.«

Erstaunt nahm sie das Kärtchen und umschloss es mit ihrer linken Hand. Theodor schien nicht tiefer nachforschen zu wollen, wie verzweifelt sie einen Ausweg aus ihrer Situation suchte und ließ ihr somit nicht nur einen großen Freiraum, sondern auch ihre Würde. Wie schon bei der Hochzeit von Hannes und Edith fühlte sie sich zu diesem feinfühligen Menschen hingezogen. »Ich danke Ihnen!«

Theodor lächelte, verbeugte sich knapp und verließ vor ihr den Salon.

Im Foyer wartete Henny bereits auf ihn. Sie reichte Theodor seinen Militärregenmantel und brachte ihn zur Tür. Ob Maria Henny beauftragt hatte, in der Nähe zu bleiben? Immerhin wussten die beiden Angestellten, die sie mittlerweile als Freundinnen betrachtete, mit dem Namen Theodor Birk nichts anzufangen.

Nachdenklich warf die Niederländerin einen Blick auf die Karte in ihrer Hand, wobei sie erleichtert aufseufzte. Sie hatte soeben von völlig unerwarteter Seite ein großherziges Hilfsangebot erhalten. Zu einer Zwangsheirat mit Philippe würde es nicht kommen! Seit heute hatte eine Weigerung, die Ehe mit einem Mann einzugehen, den sie nicht liebte, ihren Schrecken verloren und die in der Luft hängende Drohung, sie und ihre jüngeren Geschwister auf die Straße zu setzen, zählte nicht mehr. Der Hauptmann befand sich in einer Position, die es ihm erlauben würde, zumindest übergangsweise für drei Personen aufzukommen und ihnen Schutz zu gewähren. Demy hatte das Gefühl, als sei dies die prompte Antwort auf ihre verzweifelten Gebete in der vergangenen Nacht.

In diesem Augenblick rief jemand vor der Tür ihren Namen. Theodor trat zurück, um den Neuankömmling einzulassen.

»Demy?« Margarete schaute von ihr zu Henny und schließlich blieb ihr Blick an Theodor hängen. »Entschuldige bitte. Ich komme später wieder.« Die Stimme ihrer Freundin brach, und es blieb keinem der Anwesenden verborgen, dass die junge Frau mit den Tränen kämpfte.

»Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment«, bat Demy Theodor, raffte ihren sandfarbenen Rock und stürmte an Henny vorbei zu Margarete, die sich Halt suchend an die kühle Hauswand lehnte. Nach einem Blick in ihre rotgeweinten, verquollenen Augen zog sie die Freundin kurzerhand in ihre Arme und wiegte sie leicht hin und her. Wie oft hatte Margarete ihr in den vergangenen Jahren Trost gespendet, wenn sie unter den Tiraden und der Kaltherzigkeit des Rittmeisters gelitten hatte! Seit dem Tod von Margaretes Ehemann hatten sie die Rollen getauscht.

»Wie schön, dass du mich besuchst. Du warst so lange nicht mehr hier!«

»Ich weiß nicht, wo ich hin soll. Ich bin so schrecklich verzweifelt. Lina kann ich nicht aufsuchen. Sie ist frisch verheiratet und so glücklich, dass es mich nur noch mehr schmerzt. Eigentlich wollte ich dich fragen, was es mit deiner Verlobung auf sich hat, aber jetzt …« Wieder brach Margarete die Stimme und ein Schluchzen schüttelte ihren Körper.

»Was ist denn los, Margarete?«

Aus dem Schluchzen wurde ein lautes Durchatmen, ehe es aus Margarete hervorbrach: »Ich erwarte ein Kind!«

Noch einmal drückte Demy die Freundin an sich, während sie überlegte, wie sie auf diese Eröffnung reagieren sollte. Margarete klang verzweifelt, obwohl sie sich bereits in frühen Jahren darauf gefreut hatte, eines Tages eigene Kinder zu haben.

»Ich bin allein! Ich bin Witwe! Und nun das!«, brach es aus Margarete heraus.

Demy warf einen Blick über die Schulter. Theodor war zu dem Dienstmädchen getreten und hatte sie in ein Gespräch verwickelt, dabei zwang er Henny sanft, sich ein paar Schritte zu entfernen, um den beiden Frauen mehr Privatsphäre zu schenken.

Demy löste sich von Margarete und ergriff deren Hände. Über das schöne, wenn auch im Augenblick sehr blasse Gesicht der Witwe liefen Tränen und ihre braunen Augen wirkten erschreckend leer. »Margarete, ich bin nicht sehr erfahren in diesen Dingen. Vielleicht ist es falsch, was ich jetzt sage, doch etwas anderes fällt mir nicht ein.«

Ihre Freundin hob den Kopf. Bittend waren ihre Augen auf Demy gerichtet, was diese noch mehr verunsicherte. Dennoch sprach sie weiter: »Vermutlich ist es natürlich, dass du in deiner Situation erschrocken auf die Nachricht reagierst, ein Kind zu erwarten. Aber eigentlich finde ich es wunderbar! Dieses Kind zeugt von der Liebe, die Klaus und du füreinander empfunden habt. Es ist ein Teil von Klaus. Gott schenkt dir eine bleibende Erinnerung an deinen Mann durch dieses Kind.« Unsicher richtete Demy ihren Blick auf die Freundin. Ob sie mehr Schaden angerichtet hatte, als sie gutmachte?

»Warum habe ich das nicht so gesehen?«, flüsterte Margarete.

»Weil dein Schmerz so groß ist, dass du momentan nur fühlst und kaum logisch denkst. Entschuldige bitte, das klang jetzt furchtbar unhöflich.«

Demy kräuselte verwundert die Nase, als Margarete schmunzelte. »Wenn du in deiner unnachahmlich direkten Art aber recht hast, liebe Freundin?«, erwiderte sie, nun mit fester Stimme.

Hastig kramte Demy in der Tasche ihrer Kostümjacke nach einem Taschentuch und reichte es Margarete, die sich die Tränen aus dem Gesicht wischte. »Du hast Besuch, ich möchte dich nicht länger aufhalten. Vielleicht schaue ich doch noch bei Lina vorbei.«

»Ich komme morgen zu dir, Margarete. Hältst du dich immer noch im Haus deiner Eltern auf?«

»Momentan ja. Ich kann Klaus’ und meine gemeinsame Wohnung nicht betreten. Die Erinnerungen sind zu schmerzlich. Aber ich freue mich, wenn du mich besuchst!«

»Gut, dann ist das abgemacht!«

Margarete umarmte sie und raunte ihr dabei zu: »Es ist wunderbar, wie viel Liebe du zu geben hast. Und das, obwohl ich immer den Eindruck hatte, dass du selbst in den letzten sechs Jahren entsetzlich zu kurz kamst. Philippe hat ununterbrochen Liebe gesucht und Bestätigung eingeholt, wo er nur konnte. Wohl als Folge der mangelnden Anerkennung als Pflegesohn dieser Familie? Umso erstaunlicher, dass ihr zwei zusammengefunden habt, meine ich. Oder ist es deshalb umso weniger verwunderlich?«

»Darüber unterhalten wir uns morgen«, wehrte Demy ab und ließ die Freundin gehen.

Theodor, mit einer Taschenuhr in der Hand, trat wieder zu ihr. »Leider muss ich zu einem Termin. Ich möchte mich verabschieden, da ich morgen an die Front zurückkehre.«

»Ich danke Ihnen!«, erwiderte Demy und versuchte all ihre Dankbarkeit für seine Fürsorge und Rücksichtnahme in diese drei Worte zu legen.

Theodor berührte mit seinen Lippen sanft Demys Fingerknöchel, ehe er sich ruckartig abwandte. Das Dienstmädchen und sie blickten dem Hauptmann nach, als er hinter Margarete das Grundstück verließ.

»Was für ein sympathischer Mann!«, sprach Henny aus, was Demy dachte.